Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.475/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_475/2012

Urteil vom 27. November 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Denys,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Manfred Lehmann,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
2. Y.________,
vertreten durch Rechtsanwalt David Simek,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Versuchte vorsätzliche Tötung,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 25. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ griff Y.________ mit einem Messer an und fügte ihm eine fünf
Zentimeter tiefe und zwei Zentimeter breite Stichwunde im rechten mittleren
Unterbauch zu, nur wenige Zentimeter neben lebenswichtigen Organen und
Blutgefässen, deren Verletzung zu einer unmittelbaren Lebensgefahr geführt
hätte. Das Bezirksgericht Winterthur verurteilte ihn dafür und wegen weiterer
Straftaten am 25. August 2011 u.a. wegen versuchter schwerer Körperverletzung
zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren sowie einer Busse von Fr. 500.--. Im
Berufungsverfahren sprach ihn das Obergericht des Kantons Zürich am 19. Januar
2012 wegen der Messerattacke der versuchten (eventualvorsätzlichen) Tötung
schuldig und bestätigte die weiteren Schuldsprüche soweit angefochten. Es
verurteilte X.________ zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und einer Busse
von Fr. 500.--.

B.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das
obergerichtliche Urteil aufzuheben, ihn vom Vorwurf der versuchten
eventualvorsätzlichen Tötung freizusprechen und stattdessen der versuchten
schweren Körperverletzung schuldig zu sprechen, unter entsprechender
Reduzierung des Strafmasses. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. X.________ ersucht um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz verletze Bundesrecht, indem sie eine
(eventual-)vorsätzliche Tötung bejahe. Unbestritten sei, dass er mit dem
Messerstich eine schwere Körperverletzung von Y.________ in Kauf genommen habe.
Jedoch könne aufgrund des Wissens, dass bei einem derartigen Vorgehen der Tod
im Bereich des Möglichen liege, nicht automatisch auf Eventualvorsatz
hinsichtlich einer Tötung geschlossen werden. Hierzu bedürfe es weiterer
äusserer Aspekte, die bei einer fünf Zentimeter tiefen und zwei Zentimeter
breiten Stichverletzung in den Bauch nicht gegeben seien.

2.
2.1 Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und
Willen ausführt oder wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in
Kauf nimmt (Art. 12 Abs. 2 StGB). Eventualvorsatz ist nach ständiger
Rechtsprechung gegeben, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung für
möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines
Eintritts in Kauf nimmt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht
sein (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 mit Hinweis; vgl. auch Art. 12 Abs. 2 StGB).
Ob der Täter die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen hat, muss das
Gericht - bei Fehlen eines Geständnisses der beschuldigten Person - aufgrund
der Umstände entscheiden. Dazu gehören namentlich die Grösse des dem Täter
bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung, die Schwere der
Sorgfaltspflichtverletzung, die Beweggründe des Täters und die Art der
Tathandlung. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung
ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die
Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen
(BGE 134 IV 26 E. 3.2.2 mit Hinweisen). Das Gericht darf vom Wissen des Täters
auf den Willen schliessen, wenn sich diesem der Eintritt des Erfolgs als so
wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen,
vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (BGE
137 IV 1 E. 4.2.3; 133 IV 222 E. 5.3).

2.2 Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann vor Bundesgericht nur
gerügt werden, wenn sie willkürlich (Art. 9 BV) ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG; BGE 134 IV 36 E. 1.4.1). Willkür bei der Beweiswürdigung liegt vor, wenn
der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist oder mit der
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht (BGE 137 I 1 E. 2.4; 134 I
140 E. 5.4; je mit Hinweisen). Die Rüge der Willkür muss präzise vorgebracht
und begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Auf eine rein appellatorische
Kritik am angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 137 IV 1
E. 4.2.3; 136 II 489 E. 2.8; je mit Hinweisen).
Was der Täter wusste, wollte und in Kauf nahm, betrifft so genannte innere
Tatsachen, welche vor Bundesgericht nur im Rahmen von Art. 97 Abs. 1 BGG gerügt
werden können. Rechtsfrage ist hingegen, ob im Lichte der festgestellten
Tatsachen der Schluss auf Eventualvorsatz begründet ist (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3;
135 IV 152 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Da sich Tat- und Rechtsfragen insoweit
teilweise überschneiden, hat der Sachrichter die in diesem Zusammenhang
relevanten Tatsachen möglichst erschöpfend darzustellen, damit erkennbar wird,
aus welchen Umständen er auf Eventualvorsatz geschlossen hat. Das Bundesgericht
kann in einem gewissen Ausmass die richtige Bewertung dieser Umstände im
Hinblick auf den Rechtsbegriff des Eventualvorsatzes überprüfen (BGE 133 IV 9
E. 4.1 mit Hinweisen).

3.
Die Vorinstanz erwägt unter Bezugnahme auf die rechtsmedizinischen Ergebnisse,
dass die Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts hoch war. Der Beschwerdeführer
habe in einen bekanntermassen sensiblen Körperbereich gestochen. Der
Einstichkanal läge lediglich ein bis vier Zentimeter neben lebenswichtigen
Strukturen/Organen und Blutgefässen, deren Verletzung eine unmittelbare
Lebensgefahr hervorgerufen hätte. Die ärztlichen Untersuchungen und das
Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin Zürich hätten anhand des Stichkanals
belegt, dass das Messer in seiner Beschaffenheit geeignet war, den Tod durch
einen Bauchstich zu bewirken. Der Beschwerdeführer habe nicht genau steuern
können, wo und wie tief er den Körper seines Opfers treffe. Es sei
gerichtsnotorisch, dass ein mit einem normalen Schweizer Sackmesser
ausgeführter Stich (in den Bauch eines Menschen) ohne Weiteres eine tödliche
Verletzung verursachen könne. Dies sei jedermann - ohne dass es einer
besonderen Intelligenz bedürfe - klar. Zwar sei nicht erwiesen, dass der
Beschwerdeführer Y.________ habe töten wollen, jedoch habe sich ihm aufdrängen
müssen, dass ein hohes Risiko bestand, dass das Opfer durch den Stich in den
Bauch hätte sterben können. Auch wenn ihm dies nicht gelegen kam, habe er den
möglichen Tod des Opfers billigend in Kauf genommen und vorsätzlich gehandelt.

4.
4.1 Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde, soweit der Beschwerdeführer die
verbindlichen, tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1
BGG) und deren Beweiswürdigung beanstandet. Er legt nicht dar, weshalb diese
schlechterdings unhaltbar sind, sondern beschränkt sich darauf, die
erstinstanzlichen Erwägungen als vorzugswürdig darzustellen. Dies genügt den
Rügeanforderungen nicht (Art. 97 Abs. 1, 106 Abs. 2 BGG).

4.2 Der Schluss der Vorinstanz auf ein eventualvorsätzliches Handeln des
Beschwerdeführers verletzt kein Bundesrecht. Die Sorgfaltspflichtverletzung des
Beschwerdeführers wiegt schwer. Wer in einer dynamischen Auseinandersetzung
unkontrolliert mit einem Messer in den Bauch/Unterleib eines Menschen sticht,
muss in aller Regel mit schweren Verletzungen rechnen. Das Risiko einer
tödlichen Verletzung ist generell als hoch einzustufen. Dies gilt selbst für
Verletzungen mit einer eher kurzen Messerklinge (Urteil 6B_239/2009 vom 13.
Juli 2009 E. 2.4). Die rechtsmedizinischen Ergebnisse belegen, dass der
Einstich nur wenige Zentimeter neben anatomischen Strukturen lag, deren
Verletzung lebensgefährlich hätte sein können. Der Beschwerdeführer stach
unkontrolliert zu und konnte nicht genau steuern, wo und wie (tief) er
Y.________ verletzte. Es war damit letztlich Zufall, dass die eindringende
Messerklinge keine inneren Organe und Blutgefässe lebensgefährlich verletzte.
Eine Todesfolge lag damit im allgemein bekannten Rahmen des Kausalverlaufs, was
auch dem Beschwerdeführer bewusst und von seinem Vorsatz erfasst war.
Soweit der Beschwerdeführer vorträgt, er habe Y.________ nicht töten, sondern
ihm lediglich eine Lektion erteilen wollen, führt dies nicht zu einer
Verneinung des Eventualvorsatzes. Vorsatz erfordert nicht, dass der (Tötungs-)
Erfolg das Handlungsziel des Täters ist. Vorsätzlich handelt bereits, wer die
Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt (Art. 12 Abs. 2
StGB). Dass ein Tötungserfolg das Handlungsziel gewesen wäre, nimmt die
Vorinstanz nicht an, läge doch andernfalls nicht bloss eventualvorsätzliches,
sondern direktvorsätzliches Handeln vor. Eine Fahrlässigkeitshandlung ist
auszuschliessen, räumt der Beschwerdeführer doch selbst ein, dass er den Stich
in den Unterleib vorsätzlich ausführte und dabei billigend in Kauf nahm,
Y.________ lebensgefährlich zu verletzen. Ob es überhaupt möglich ist, jemanden
(eventual-)vorsätzlich lebensgefährlich zu verletzen ohne gleichzeitig dessen
Tod ebenfalls billigend in Kauf zu nehmen, kann bei dieser Sachlage
offenbleiben.
Auch die übrigen Einwände des Beschwerdeführers sind unbehelflich. Der
angeführte Vergleichsfall (Urteil 6B_889/2009 vom 20. Januar 2010) vermag daran
nichts zu ändern. Das Bundesgericht hat beim ähnlich gelagerten Sachverhalt den
Schuldspruch des Obergerichts Zürich wegen schwerer Körperverletzung mit
Todesfolge nicht beanstandet. Daraus lässt sich entgegen der Ansicht des
Beschwerdeführers nicht ableiten, dass bei einem einzigen gegen den Oberkörper
des Opfers geführten Stich nicht auf vorsätzliche Tötung erkannt werden darf.
Zum einen war diese Frage im zitierten Urteil nicht zu entscheiden und zum
anderen kann - je nach den Umständen des Einzelfalls - auch bei bloss einem
Messerstich auf vorsätzliche Tötung erkannt werden (vgl. Urteile 6B_829/2010
vom 28. Februar 2011 E. 3.2; 6B_239/2009 vom 13. Juli 2009 E. 1, 2.4).

4.3 Angesichts des hohen allgemein bekannten Risikos des Todeseintritts bei
einem unkontrollierten Messerstich in den Bauch konnte die Vorinstanz
willkürfrei annehmen, der Beschwerdeführer habe den Tod von Y.________ als
möglich vorausgesehen und diesen in Kauf genommen, als er zugestochen hat. Der
Schuldspruch wegen versuchter (eventualvorsätzlicher) Tötung verletzt kein
Bundesrecht.

5.
Auf den Antrag des Beschwerdeführers, das Strafmass zu reduzieren, ist nicht
einzugehen, da es bei der vorinstanzlichen Verurteilung bleibt.

6.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Dem
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann stattgegeben
werden, da die Beschwerde aufgrund der divergierenden Urteile der kantonalen
Instanzen (Freispruch durch die erste Instanz, Schuldspruch durch die
Vorinstanz) nicht aussichtslos war und der Beschwerdeführer bedürftig ist. Der
Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist aus der Bundesgerichtskasse zu
entschädigen (Art. 64 BGG). Es sind keine Kosten zu erheben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Manfred Lehmann als unentgeltlicher
Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. November 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held