Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.453/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_453/2012

Urteil vom 19. Februar 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Denys,
Gerichtsschreiberin Pasquini.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Guy Reich,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Einfache Verletzung der Verkehrsregeln,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 9. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ wechselte am 15. September 2010 auf der Autobahn A1L am Ende des
Schöneichtunnels bei stockendem Verkehr Richtung Zürich-City vom mittleren auf
den linken Fahrstreifen. Er kollidierte dabei mit einem anderen, in gleicher
Richtung fahrenden Personenwagen.

B.
Das Statthalteramt des Bezirks Zürich bestrafte X.________ mit Strafverfügung
vom 14. Dezember 2010 wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln durch
ungenügende Rücksichtnahme auf nachfolgende Fahrzeuge mit einer Busse von Fr.
300.--. Auf Begehren um gerichtliche Beurteilung von X.________ hin sprach ihn
das Bezirksgericht Zürich am 23. August 2011 frei. Die vom Statthalteramt des
Bezirks Zürich erhobene Berufung hiess das Obergericht des Kantons Zürich mit
Urteil vom 9. Juli 2012 gut. Es bestrafte X.________ wegen einfacher
Verkehrsregelverletzung mit einer Busse von Fr. 300.--.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, er sei von Schuld
und Strafe freizusprechen. Die Kosten- und Entschädigungsfolgen des
obergerichtlichen Verfahrens seien neu festzusetzen bzw. die Sache sei zur
neuen Festlegung an das Obergericht zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz stellt fest, im Zeitpunkt der Kollision sei der
Fahrstreifenwechsel des Beschwerdeführers noch nicht abgeschlossen gewesen. Der
Beschwerdeführer habe zu ca. drei Viertel mit schräg gestelltem Fahrzeug auf
dem linken Fahrstreifen gestanden, als es zu einem Zusammenstoss mit dem auf
dieser Spur herannahenden Fahrzeug von A.________ (nachfolgend:
Unfallbeteiligter) gekommen sei. Dessen Personenwagen habe das Fahrzeug des
Beschwerdeführers seitlich touchiert (Urteil S. 7 E. 5.1 und S. 9 E. 5.3).
Soweit der Beschwerdeführer die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
ergänzt und ihnen eigene Behauptungen bzw. seine Sicht der Dinge
gegenüberstellt, indem er z.B. ausführt, der Unfallbeteiligte habe ihn gerammt
(Beschwerde S. 4 N. 9), oder vorbringt, er habe vergeblich während der gesamten
Tunnelstrecke eine Lücke [zum Wechseln des Fahrstreifens] gesucht (Beschwerde
S. 5 N. 10), ist er nicht zu hören. Dass die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung willkürlich wäre (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2
BGG; zur offensichtlichen Unrichtigkeit BGE 137 III 226 E. 4.2 S. 234; zum
Begriff der Willkür BGE 138 I 49 E. 7.1; je mit Hinweisen), wird vom
Beschwerdeführer weder behauptet noch begründet. Auf die Beschwerde ist
insofern nicht einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, dass es zu einer Kollision gekommen
sei, bedeute nicht, dass er sich verkehrsregelwidrig verhalten habe. Gemäss
Rechtsprechung stelle nicht jede Behinderung eine Missachtung des
Vortrittsrechts dar. Es komme in Würdigung der konkreten Umstände auf deren
Erheblichkeit an. Er und der Unfallbeteiligte seien im Schritttempo gefahren.
Sein Fahrzeug sei mehrheitlich auf der linken Spur gewesen und habe
stillgestanden, als ihn der Personenwagen des Unfallbeteiligten touchiert habe.
Die Vorinstanz würdige nicht, dass dieser seine Fahrweise nicht hätte brüsk
oder unvermittelt ändern müssen. Er habe den Unfallbeteiligten nicht gefährdet.
Dieser hätte anhalten können, um ihm die vollständige Eingliederung zu
ermöglichen. Das wäre auch zumutbar gewesen. Wenn ein Fahrzeugführer im
stockenden Kolonnenverkehr einen solchen Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug
lasse, dass ein anderer Lenker auch ohne Zustimmung zu drei Viertel in die
Lücke fahren könne, liege keine erhebliche Behinderung vor (Beschwerde S. 4-7).
2.2
2.2.1 Gemäss Art. 34 Abs. 3 SVG hat der Fahrzeugführer, der seine Fahrrichtung
ändern will, wie zum Abbiegen, Überholen, Einspuren und Wechseln des
Fahrstreifens, auf den Gegenverkehr und auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge
Rücksicht zu nehmen. Er darf auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher
Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, seinen Streifen nur
verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet (Art. 44 Abs. 1
SVG). Art. 44 SVG stellt eine Vortrittsregel dar. Dem seinen Streifen
beibehaltenden Fahrzeugführer steht der Anspruch auf unbehinderte Fortsetzung
seiner Fahrt zu (Urteil 6B_10/2011 vom 29. März 2011 E. 2.2.1 mit Hinweis auf:
HANS GIGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 7. Auflage 2008, N. 2 zu Art. 44
SVG).
Ein Fahrspurwechsel ist nicht erst bei einer Gefährdung, sondern bereits bei
einer Behinderung des übrigen Verkehrs untersagt. Derjenige, der sein Fahrzeug
in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will, darf andere
Strassenbenützer nicht behindern (Art. 36 Abs. 4 SVG; vgl. Art. 14 Abs. 1 der
Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11]).
Entsprechendes gilt beim Wechseln des Fahrstreifens (Urteil 6B_10/2011 vom 29.
März 2011 E. 2.2.1 mit Hinweis).
2.2.2 Während früher eine Behinderung bereits angenommen wurde, wenn der
Vortrittsberechtigte seine Fahrt nicht gleichmässig und ungestört fortsetzen
konnte, fasst die Rechtsprechung den Begriff heute enger. Sie bejaht eine
Behinderung, falls der Berechtigte seine Fahrweise brüsk ändern muss, d.h. vor,
auf oder kurz nach einer Verzweigung zu brüskem Bremsen, Beschleunigen oder
Ausweichen gezwungen wird. Diese Begriffseinschränkung erfolgte, um den
besonderen Verhältnissen bei hohem Verkehrsaufkommen Rechnung zu tragen. Das
darf aber nicht zur Entwertung des Vortrittsrechts - einer Grundregel des
Strassenverkehrs - führen. Solche Regeln müssen klar und einfach zu handhaben
sein. Deshalb ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 14 Abs. 1 VRV eine
erhebliche Behinderung nur ausnahmsweise zu verneinen (siehe BGE 114 IV 146;
Urteil 6B_10/2011 vom 29. März 2011 E. 2.2.2; je mit Hinweisen). Die
Erheblichkeit einer Behinderung kann nicht davon abhängen, ob der
Vortrittsberechtigte diese erwartet und sich darauf einstellt, dass sie sich
verwirklichen könnte. Er darf grundsätzlich davon ausgehen, dass sein Recht
beachtet wird. Er muss das zur Abwendung der Gefahr Zumutbare erst vorkehren,
wenn konkrete Anhaltspunkte erkennen lassen, dass der andere Verkehrsteilnehmer
sich nicht richtig verhalten wird (BGE 114 IV 146 S. 148).
Im dichten Innerortsverkehr mag in gewissen Situationen ein Verzicht auf das
Vortrittsrecht im Interesse der Sicherheit und Flüssigkeit des Verkehrs
angezeigt sein. Es erscheint als wünschbar, dass ein Berechtigter, auch wenn er
dazu gesetzlich nicht verpflichtet ist, einem Wartepflichtigen durch
Verlangsamen der Fahrt bzw. Anhalten das Einbiegen ermöglicht, wenn dies ohne
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer geschehen kann. Im Interesse der
Rechtssicherheit ist aber auch in solchen Fällen nur mit grösster Zurückhaltung
anzunehmen, ein Wartepflichtiger habe das Vortrittsrecht nicht vollständig zu
respektieren (BGE 105 IV 341 E. 3a). Bei der Beurteilung, ob eine Behinderung
vorliegt, sind verschiedene Interessen zu berücksichtigen wie die
Rechtssicherheit durch einfache und klare Regeln, die Verkehrsflüssigkeit auf
den vortrittsberechtigten Fahrbahnen sowie besonders schwierige Situationen der
Vortrittsbelasteten (RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen
Strassenverkehrsrechts, Band I, 2. Auflage 2002, N. 866).
2.2.3 Nach dem von der Rechtsprechung aus Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten
Vertrauensgrundsatz darf jeder Strassenbenützer darauf vertrauen, dass sich die
anderen Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten. Auf den
Vertrauensgrundsatz kann sich indes nur berufen, wer sich selbst
verkehrsregelkonform verhält. Wer gegen die Verkehrsregeln verstösst und
dadurch eine unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft, kann nicht
erwarten, dass andere diese Gefahr durch erhöhte Vorsicht ausgleichen (BGE 124
IV 81 E. 2b mit Hinweisen). Der Vertrauensgrundsatz wird eingeschränkt durch
Art. 26 Abs. 2 SVG. Danach ist besondere Vorsicht u.a. geboten, wenn bereits
Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig
verhalten wird oder wenn ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers
auf Grund einer unklaren Verkehrssituation nach der allgemeinen Erfahrung
unmittelbar in die Nähe rückt (BGE 129 IV 282 E. 2.2.1 S. 285 mit Hinweisen).

2.3 Die Vorinstanz erwägt zutreffend, der vortrittsbelastete Beschwerdeführer
habe beim Fahrstreifenwechsel die ihm obliegende Pflicht zur genügenden
Rücksichtnahme gegenüber nachfolgenden Fahrzeugen verletzt (Urteil S. 10 ff.).
Dessen Einwand, sein Fahrzeug sei im Zeitpunkt der Kollision bereits zu drei
Viertel auf dem linken Fahrstreifen gewesen und habe stillgestanden, zielt ins
Leere. Massgeblich ist die Situation bei der Einleitung und während des
fraglichen Manövers. Gemäss den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
befand sich der Beschwerdeführer noch auf dem mittleren Fahrstreifen, als er
das Fahrzeug des Unfallbeteiligten herannahen sah (Urteil S. 10 E. 6.2). Dieser
kam nicht völlig überraschend mit überhöhter Geschwindigkeit herangefahren,
sondern war ebenfalls im Schritttempo unterwegs (Urteil S. 12 E. 8.3). In der
Folge kündigte der Beschwerdeführer die angestrebte Richtungsänderung zwar
mittels Blinker und Handzeichen an (Urteil S. 11 E. 7). Dies enthob ihn aber
nicht von der gebotenen Vorsicht (vgl. Art. 39 Abs. 2 SVG). Er räumte ein, der
Unfallbeteiligte habe seine Fahrweise nicht gross geändert und sei immer näher
gekommen. Die Vorinstanz hält zu Recht fest, der Beschwerdeführer habe nicht
annehmen können, das herannahende Fahrzeug des Vortrittsberechtigten würde
bremsen oder anhalten, um ihm den Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen.
Angesichts dieses Fahrverhaltens hätte der Beschwerdeführer vielmehr damit
rechnen müssen, dass der Unfallbeteiligte nicht auf sein Vortrittsrecht
verzichtet und ein Einspuren auf den linken Fahrstreifen ohne Behinderung oder
sogar Gefährdung nicht möglich sein würde (Urteil S. 12 f. E. 8.3). Indem der
Beschwerdeführer unter diesen Umständen gleichwohl den Fahrstreifen wechselte,
dieses Manöver "erzwingen" wollte (Beschwerde S. 6 N. 14), nahm er nicht
genügend auf den nachfolgenden Verkehr Rücksicht und missachtete das
Vortrittsrecht des Unfallbeteiligten. Entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers waren die Verhältnisse gerade nicht mit der bei dichtem
Stadtverkehr bestehenden, besonderen Lage vergleichbar. Nach den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz herrschte stockender Kolonnenverkehr. Damit war
das Verkehrsaufkommen sehr hoch, der Verkehr aber nicht flüssig. Ein Verzicht
des Vortrittsrechts durch den Unfallbeteiligten lag insofern weder im Interesse
der Flüssigkeit des Verkehrs noch der Verkehrs- oder Rechtssicherheit.
Soweit der Beschwerdeführer geltend machen will, der Unfallbeteiligte hätte
gestützt auf den Vertrauensgrundsatz auf das Vortrittsrecht verzichten müssen,
weil Anzeichen für sein mögliches Fehlverhalten vorgelegen hätten, ist sein
Vorbringen unbehelflich. Das Strafrecht kennt keine Schuldkompensation (BGE 106
IV 58 E. 1 mit Hinweis).

3.
Den Antrag auf Neufestsetzung der Kosten- und Entschädigungsfolgen begründet
der Beschwerdeführer nicht. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 2 BGG).

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei
diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen
Verfahrens (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. Februar 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Die Gerichtsschreiberin: Pasquini