Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.425/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_425/2012

Urteil vom 19. November 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Denys,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.

Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Josephsohn,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Aufschub des Strafvollzugs zwecks ambulanter Massnahme (Art. 63 Abs. 2 StGB),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 11. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ behändigte in den frühen Morgenstunden des 1. Mai 2011 trotz
Führerausweisentzugs den Personenwagen seines Vaters. Um circa 05.20 Uhr zog er
die Aufmerksamkeit einer Patrouille der Kantonspolizei Zürich auf sich, als er
auf der Autobahn A1 relativ aggressiv auf ein anderes Fahrzeug aufschloss, auf
den linken Fahrstreifen wechselte und kontinuierlich beschleunigte, wobei er
die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um mindestens 47 km/h
überschritt. Die Polizeipatrouille bedeutete ihm anzuhalten (Matrix-Leuchte
"STOP", Lichthupe). Statt dieser Aufforderung nachzukommen, beschleunigte
X.________ massiv, überholte mehrere Fahrzeuge rechts und verliess die
Autobahn. In der Folge missachtete er auf seiner Fahrt durch Brüttisellen,
Dietlikon, Dübendorf und Falländen auf "ROT" stehende Lichtsignale, überfuhr
Sicherheitslinien sowie mit einer Geschwindigkeit von circa 40 km/h ein
"STOP"-Signal und bog im Kreiselverkehr ohne Richtungsanzeige im Uhrzeigersinn
ab. Zudem überschritt er inner- und ausserorts die zulässigen
Höchstgeschwindigkeiten von 50 km/h bzw. 80 km/h erheblich, indem er innerorts
mit Geschwindigkeiten bis zu 130 km/h und ausserorts bis zu (brutto) 176 km/h
fuhr. Als er in Maur mit einem herumliegenden Baumstamm kollidierte, verliess
X.________ das Fahrzeug und flüchtete zu Fuss. Er wies anlässlich dieser Fahrt
einen Blutalkoholwert von mindestens 1,53 Gewichtspromillen und einen THC-Wert
von 3,1 µg/L auf.

B.
Das Bezirksgericht Uster sprach X.________ am 12. Januar 2012 der mehrfachen
groben Verkehrsregelverletzung, des Fahrens in fahrunfähigem Zustand, der
versuchten Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, der
Entwendung zum Gebrauch, des Fahrens trotz Entzugs des Führerausweises sowie
der mehrfachen Übertretung des SVG und des BetmG schuldig. Es bestrafte ihn mit
einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten und einer Busse von Fr.
500.--. Zudem ordnete es eine ambulante Suchtbehandlung ohne Aufschub des
Strafvollzugs an.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhob Berufung. Sie beantragte den
unbedingten Vollzug der Freiheitsstrafe.
Das Obergericht des Kantons Zürich stellte am 11. Mai 2012 die Rechtskraft des
bezirksgerichtlichen Urteils betreffend Schuldspruch und Kostenregelung fest.
Es bestrafte X.________ mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten
(unter Anrechnung der erstandenen Haft von 377 Tagen), büsste ihn mit Fr.
500.-- und ordnete ebenfalls eine ambulante Massnahme an. Den Vollzug der
Strafe schob es zu Gunsten der Massnahme auf.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Zürich, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben. Die Strafsache sei
reformatorisch zu entscheiden oder kassatorisch zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

D.
X.________ beantragt mit Eingabe vom 18. Oktober 2012 die Abweisung der
Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Zürich hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
1.1 Schuldspruch und Strafmass sind unbestritten. Die Beschwerdeführerin ficht
alleine den von der Vorinstanz in Anwendung von Art. 63 Abs. 2 StGB zu Gunsten
der ambulanten Behandlung gewährten Strafaufschub an. Die Voraussetzungen einer
Behandlung in Freiheit seien nicht gegeben. Der Beschwerdegegner sei
gefährlich. Das ergebe sich aus seiner Kriminalgeschichte und den
psychiatrischen Erkenntnissen zur Legalprognose. Die Massnahme sei mit dem
Strafvollzug nicht unvereinbar. Die Vorinstanz begründe den Strafaufschub unter
Hinweis auf die "primäre" Empfehlung im psychiatrischen Gutachten einzig damit,
dass die soziale und berufliche Integration des Beschwerdegegners erhalten
bleibe. Damit alleine lasse sich ein Strafaufschub nicht rechtfertigen. Auf die
gutachterliche Erkenntnis, der Art der Behandlung könne bei gleichzeitigem
Vollzug der Strafe Rechnung getragen werden, gehe die Vorinstanz nicht ein. Sie
verletze mit ihrem Entscheid neben Bundesrecht auch die verfassungsmässige
Begründungspflicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV (Beschwerde, S. 3-8).

1.2 Nach Art. 63 Abs. 2 StGB kann das Gericht den Vollzug einer zugleich
ausgesprochenen Freiheitsstrafe zu Gunsten einer ambulanten Massnahme
aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen. Gemäss der Praxis
des Bundesgerichts gilt der Grundsatz, dass die Strafe vollzogen und die
ambulante Massnahme gleichzeitig durchgeführt werden. Es ist vom
Ausnahmecharakter des Strafaufschubs auszugehen (BGE 129 IV 161 E. 4.1 und E.
4.3).
Die Anordnung des Strafaufschubs ist an zwei Voraussetzungen gebunden.
Einerseits muss der Täter ungefährlich sein. Dass gefährliche Täter nicht in
Freiheit belassen werden können, ergibt sich aus dem Zweck der Massnahme. Diese
hat der Deliktsprävention zu dienen. Um einen Strafaufschub auszuschliessen,
muss vom Täter allerdings eine besondere Rückfallgefahr ausgehen, weil eine
schlechte Legalprognose bei der Anordnung einer Massnahme per definitionem
vorausgesetzt wird (Marianne Heer, Basler Kommentar, Strafrecht I, 2. Aufl.,
2007, Art. 63 Rz. 40 und 44). Gefährdet ein Täter die öffentliche Sicherheit in
schwerwiegender Weise, kommt ein Strafaufschub nicht in Frage (vgl. BGE 123 IV
100 E. 3b; 100 IV 12 E. 2a).

Andererseits muss die ambulante Therapie vordringlich sein. Ein Aufschub muss
sich aus Gründen der Heilbehandlung hinreichend rechtfertigen. Er ist
anzuordnen, wenn die ambulante Therapie (ausserhalb des Strafvollzugs) im
konkreten Einzelfall aktuelle und günstige Bewährungsaussichten eröffnet, die
durch den Strafvollzug zunichte gemacht oder erheblich vermindert würden. Unter
dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgebotes muss der Behandlungsbedarf umso
ausgeprägter sein, je länger die zu Gunsten der ambulanten Therapie
aufzuschiebende Freiheitsstrafe ist (BGE 129 IV 161 E. 4.1 S. 162 f. mit
Hinweisen).
Das Gericht muss seinen Entscheid auf ein Gutachten stützen (BGE 116 IV 101 E.
1b; 115 IV 89 E. 1; 107 IV 20 E. 4; 105 IV 87 E. 2b).

1.3 Das bei den Akten liegende Gutachten vom 29. August 2011 nimmt ausführlich
Stellung zum psychischen Gesundheitszustand des Beschwerdegegners, der
Schuldfähigkeit, der Legalprognose und der Rückfallgefahr. Die verantwortlich
zeichnenden Gutachter stellen die Diagnose eines Alkohol- und
Cannabisabhängigkeitssyndroms (ICD 10 F.10.25 und F.12.25) und führen aus, dass
die Alkoholabhängigkeit deliktskausal ist. Sie attestieren dem Beschwerdegegner
im Tatzeitpunkt eine leichtgradige Verminderung der Schuldfähigkeit (bei voll
erhaltener Einsichtsfähigkeit und leicht herabgesetzter Steuerungsfähigkeit)
und bejahen eine Rückfallgefahr. Zu befürchten seien im ungünstigen Fall
weitere Straftaten unter Alkohol- und Cannabiseinfluss, insbesondere weitere
Autofahrten verbunden mit erheblichen Verkehrsregelverletzungen. Die
Wahrscheinlichkeit der Deliktsverübung hänge vom Gelingen oder Misslingen der
empfohlenen ambulanten Therapie ab. Grundsätzlich liesse sich durch eine
erfolgreiche Behandlung weiteren Straftaten wirksam begegnen. Bei positivem
Behandlungsverlauf sei die Prognose günstig, andernfalls sei sie äusserst
ungünstig. Die Prognose bleibe damit unsicher. Der Art der Behandlung könne bei
gleichzeitigem Strafvollzug Rechnung getragen werden. Unter dem Aspekt des
Erhalts von sozialer und beruflicher Integration werde empfohlen, die Massnahme
unter Strafaufschub durchzuführen (kantonale Akten, Urk. 23/9, Gutachten, S.
58, S. 59-62).

1.4 Die Vorinstanz stützt ihren Entscheid auf das Gutachten vom 29. August
2011. Die Gutachter würden primär empfehlen, die Massnahme "unter
Strafaufschub" durchzuführen. Dieser Empfehlung nicht zu folgen, lasse sich -
auch mit Blick auf die Höhe der Freiheitsstrafe - sachlich nicht begründen
(Entscheid, S. 8).

1.5 Für einen Strafaufschub kann sprechen, dass ein Betroffener durch den
Strafvollzug aus seinem sozialen Netz oder dem Berufsleben gerissen wird (vgl.
Marianne Heer, a.a.O., Art. 63 Rz. 51). Allerdings bedeutet ein Freiheitsentzug
für jede sozial und beruflich integrierte Person einen Härtefall. Allgemeine
destabilisierende Folgen des Strafvollzugs - beispielsweise wegen eines
Abbruchs von gefestigten familiären, sozialen oder beruflichen Strukturen -
genügen nicht, um einen Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe anzuordnen
(vgl. Urteile 6B_200/2011 vom 7. Juni 2011 E. 2.4.3 und 6B_581/2009 vom 15.
Dezember 2009 E. 3.5). Ein solcher kommt nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung nur in Betracht, wenn aufgrund besonderer Verhältnisse der
Vollzug der Strafe die Erfolgschancen einer Therapie erheblich vermindern
würde. Die Nachteile einer Kombination von ambulanter Massnahme und
Strafvollzug müssen deutlich über das Ausmass hinausgehen, das grundsätzlich
mit jedem Entzug der Freiheit verbunden ist. Dafür liegen hier keine
Anhaltspunkte vor. Die "primäre" Empfehlung der Gutachter, den Vollzug der
Strafe zu Gunsten der Massnahme aufzuschieben, erfolgt ausschliesslich im
Hinblick auf die allgemeinen Nachteile, die der Strafvollzug für den sozial und
beruflich integrierten Beschwerdegegner mit sich bringt. Hinweise darauf, dass
der Erfolg der Therapie durch einen Freiheitsentzug erheblich beeinträchtigt
würde, lassen sich den Ausführungen der Gutachter nicht entnehmen. Im Gegenteil
halten diese die ambulante Behandlung auch während des Strafvollzugs ohne
Weiteres für durchführbar. Zudem hat der in seiner Schuldfähigkeit nur leicht
eingeschränkte Beschwerdegegner massiv gegen fundamentalste Verkehrsregeln
verstossen und die Verkehrssicherheit gefährdet. Sein deliktisches Verhalten
wiegt angesichts des sehr hohen abstrakten Gefährdungspotenzials für andere
schwer. Je gravierender die Straftaten und je leichter die Verminderung der
Schuldfähigkeit, desto weniger drängt sich ein Strafaufschub aber auf (BGE 129
IV 161 E. 4.1 und 4.2 S. 162 ff.). Vor diesem Hintergrund lässt sich der
vorliegend gewährte Strafaufschub nicht (mehr) mit Art. 63 Abs. 2 StGB
vereinbaren. Indem die Vorinstanz ihn dennoch anordnete, verletzt sie
Bundesrecht.

1.6 Offenbleiben kann unter diesen Umständen, ob von einem Strafaufschub auch
wegen Gefährlichkeit des Beschwerdegegners abzusehen wäre. Immerhin ist darauf
hinzuweisen, dass dieser bereits verschiedentlich wegen Fahrens in
fahrunfähigem Zustand schuldig gesprochen wurde (kantonale Akten, Urk. 35,
Vorstrafenbericht). Überdies fuhr er am 1. Mai 2008 mit seinem Personenwagen in
eine dicht gedrängte Menschenmenge und nahm dabei den Tod von Menschen in Kauf
(vgl. Urteil 6B_260/2012 vom 19. November 2012). Die Gutachter führen aus, die
zu beurteilende Tat sei keine Einzeltat, sondern eine Wiederholungstat, die
sich durch ein hochgradig fremdgefährdendes Verhalten auszeichne (Gutachten, S.
55). Sie erachten den Beschwerdegegner als rückfallgefährlich und die
Legalprognose als unsicher (Gutachten, S. 56, 60).

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Auf
die Rüge der unzureichenden Begründung im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV braucht
nicht eingegangen zu werden.
Der obsiegenden Beschwerdeführerin ist keine Entschädigung auszurichten (Art.
68 Abs. 3 BGG). Dem Beschwerdegegner sind die Gerichtskosten als unterliegende
Partei aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 StGB).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Zürich vom 11. Mai 2012 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. November 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill