Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.367/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_367/2012

Urteil vom 21. Dezember 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys, Schöbi,
Gerichtsschreiberin Unseld.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marc Dübendorfer,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Parteientschädigung (Verletzung der Verkehrsregeln),

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts
des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer,
vom 8. Mai 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ fuhr am 24. November 2009 um ca. 21.30 Uhr als Lenker eines
Personenwagens von Riniken kommend in Richtung Rüfenach. In der Linkskurve bei
der Abzweigung zum Waldhaus Rüfenach geriet er mit dem Fahrzeug von der Strasse
nach rechts auf das angrenzende Wiesland und prallte in einen am rechten
Strassenrand stehenden Baum. Der Unfall ereignete sich auf einer eher schmalen
Landstrasse ohne Trottoir, die sich vor der Unfallstelle mehrere hundert Meter
dem Waldrand entlangschlängelt. Im Tatzeitpunkt herrschte auf der betreffenden
Fahrtstrecke wenig Verkehr. Die Strassenverhältnisse waren eher schlecht
(feuchte Strasse, starke Dunkelheit). X.________ erlitt mehrere Knochenbrüche.
Er musste von der Feuerwehr aus dem Fahrzeug geschnitten werden.

B.
Das Bezirksamt Brugg verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 30. August 2010
gestützt auf Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV und Art. 32 Abs. 1
SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 2 SVG sowie Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 1
SVG (Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausserorts, Nichtanpassen
der Geschwindigkeit an die Strassen- und Sichtverhältnisse und Nichtbeherrschen
des Fahrzeugs) zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr.
110.-- und einer Busse von Fr. 700.--. Es warf X.________ vor, er sei mit
überhöhter Geschwindigkeit von ca. 100 km/h unterwegs gewesen. Angesichts der
Strassenverhältnisse sei seine Fahrweise riskant gewesen.

C.
X.________ erhob gegen den Strafbefehl Einsprache, wobei er erklärte, die
Opposition richte sich einzig gegen die Verurteilung gemäss Art. 90 Ziff. 2
SVG. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau überwies die Einsprache an das
Bezirksgericht Brugg mit dem Antrag auf Verurteilung von X.________ gemäss
Strafbefehl.

D.
Das Bezirksgericht Brugg sprach X.________ am 1. März 2011 vom Vorwurf der
groben Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG frei
(Dispositiv-Ziff. 1). Es erklärte ihn wegen einfacher Verletzung der
Verkehrsregeln nach Art. 90 Ziff. 1 SVG (Missachtung der signalisierten
Höchstgeschwindigkeit ausserorts, Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die
Strassen- und Sichtverhältnisse und Nichtbeherrschen des Motorfahrzeugs)
schuldig und auferlegte ihm eine Busse von Fr. 500.-- (Dispositiv-Ziff. 2 und
3) sowie die Gerichtskosten (Dispositiv-Ziff. 4). Eine Parteientschädigung
sprach es ihm nicht zu.
Das Bezirksgericht hält für erwiesen, dass X.________ auf der betreffenden
Ausserortsstrecke die zulässige Höchstgeschwindigkeit zumindest zeitweise
überschritt, wobei es von Tempoüberschreitungen im Bereich von 5 bis 20 km/h
ausgeht. Zufolge einer Ablenkung durch ein Reh am Strassenrand sei er zudem
über eine kurze Zeitspanne unaufmerksam gewesen. Dadurch sei seine
Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt gewesen, was zum Kontrollverlust über das
Fahrzeug geführt habe.

E.
X.________ legte gegen dieses Urteil Berufung ein. Er beantragte, es sei ihm
für das erstinstanzliche Gerichtsverfahren eine Parteientschädigung von Fr.
2'405.15 zuzusprechen. Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung am
8. Mai 2012 ab.

F.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des
Obergerichts vom 8. Mai 2012 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
Am 1. Januar 2011 trat die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober
2007 (StPO; SR 312.0) in Kraft. Der Entscheid des Bezirksgerichts Brugg erging
am 1. März 2011. Das vorliegende Verfahren richtet sich nach neuem Recht (vgl.
Art. 448 Abs. 1 und Art. 454 Abs. 1 StPO; BGE 137 IV 219 E. 1.1 mit Hinweisen).

2.
Der Beschwerdeführer rügt, er habe mit seiner Einsprache gegen den Strafbefehl
der Staatsanwaltschaft obsiegt, da ihn das Bezirksgericht vom Vorwurf der
groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG freigesprochen
habe. Er habe sich von Beginn der Strafuntersuchung an gegen diesen Vorwurf zur
Wehr setzen müssen, habe aber selber die Verurteilung wegen einfacher
Verkehrsregelverletzung beantragt. Verursacher der Kosten für den Parteiaufwand
sei in einem solchen Fall der Staat. Der angefochtene Entscheid verletze die
grundlegenden Prinzipien des Entschädigungsrechts und stelle einen Verstoss
gegen das Gebot des "fair trail" gemäss Art. 6 Ziff. 1 und 2 EMRK dar. Das
Bezirksgericht hätte ihm in analoger Anwendung von Art. 436 Abs. 2 StPO eine
Entschädigung für die geltend gemachten Parteikosten ausrichten müssen. Die
Vorinstanz berufe sich für die Verweigerung der Parteientschädigung zu Unrecht
auf Art. 429 StPO.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer verlangt eine volle Entschädigung der Kosten seiner
privaten Verteidigung im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren. Er stellt sich
auf den Standpunkt, es wäre gar nie zum Verfahren vor dem Bezirksgericht
gekommen, wenn die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl von der korrekten
rechtlichen Qualifikation ausgegangen wäre.
Die beantragte Entschädigung der erstinstanzlichen Anwaltskosten setzt voraus,
dass der beschuldigten Person ein Anspruch auf Erledigung des Strafverfahrens
durch einen Strafbefehl zuerkannt wird. Verneint man dies, kann der
Staatsanwaltschaft nicht vorgeworfen werden, sie habe durch den Erlass eines
"falschen" Strafbefehls die erstinstanzlichen Verteidigungskosten verursacht.

3.2 Das Strafbefehlsverfahren ist Bestandteil des Vorverfahrens. Der
Strafbefehl stellt einen Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung des
Straffalles (BBl 2006 1291) bzw. ein Angebot zur summarischen
Verfahrenserledigung dar (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung,
Praxiskommentar, 2009, N. 1 vor Art. 352-357 StPO; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER,
in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/Hansjakob/
Lieber [Hrsg.], 2010, N. 1 zu Art. 352 StPO mit weiteren Hinweisen). Art. 352
Abs. 1 und Art. 324 Abs. 1 StPO sind nicht als Kann-Vorschriften konzipiert. In
der Lehre wird daher mehrheitlich die Auffassung vertreten, ein Strafbefehl
habe zwingend zu ergehen, wenn die Voraussetzungen von Art. 352 Abs. 1 StPO
erfüllt sind (SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 4 zu Art. 352 StPO; DERS.,
Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, N. 1354 S. 618; FRANZ
RIKLIN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 14
f. zu Art. 352 StPO; SCHWARZENEGGER, a.a.O., N. 12 zu Art. 352 StPO; vgl. auch
GILLIÉRON/KILLIAS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse,
2011, N. 20 zu Art. 352 StPO). Die Frage ist allerdings umstritten (vgl. dazu
YVAN JEANNERET, Ordonnance pénale et procédure simplifiée: une autoroute semée
d'embûches?, in: Jusletter 13. Februar 2012, S. 2 f.). Kontrovers ist zudem, ob
das Gericht die Staatsanwaltschaft anweisen kann, einen Strafbefehl zu erlassen
(vgl. RIKLIN, a.a.O., N. 14 zu Art. 352 StPO; siehe auch den Beschluss UH110117
vom 1. Juni 2011 des Obergerichts des Kantons Zürich sowie JEANNERET, a.a.O.,
Rz. 8 S. 3). Dass die beschuldigte Person ein Interesse am Erlass eines
Strafbefehls haben kann, liegt auf der Hand, zumal sie dadurch ihres Anspruchs
auf ein gerichtliches Verfahren nicht verlustig geht. Nebst der geringeren
Mediatisierung und schnelleren Verfahrenserledigung können aus Sicht der
beschuldigten Person vor allem Kostengründe für den Strafbefehl sprechen (vgl.
RIKLIN, a.a.O., N. 15 zu Art. 352 StPO; GILLIÉRON/KILLIAS, a.a.O., N. 2 zu Art.
352 StPO).

3.3 Voraussetzung für den Erlass eines Strafbefehls ist gemäss Art. 352 Abs. 1
StPO u.a., dass die beschuldigte Person im Vorverfahren den Sachverhalt
eingestanden hat oder dieser anderweitig ausreichend geklärt ist. Bestreitet
die beschuldigte Person den ihr zur Last gelegten und später gerichtlich
festgestellten Sachverhalt, kann sie der Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht
zum Vorwurf machen, sie habe zu Unrecht keinen Strafbefehl erlassen.

3.4 Die Tacho-Nadel des Fahrzeugs des Beschwerdeführers blieb nach der
Kollision mit dem Baum bei ca. 100 km/h stecken. Y.________, die Lenkerin des
Fahrzeugs, das der Beschwerdeführer kurz vor dem Unfall überholt hatte, gab
anlässlich der Einvernahme vom 24. November 2009 an, sie selber sei im
Zeitpunkt des Überholmanövers durch den Beschwerdeführer mit 80 km/h unterwegs
gewesen. Sie habe damals einen Blick auf ihren Tacho geworfen. Der
Beschwerdeführer habe sie auf sehr kurzer Strecke überholt, woraus sie habe
schliessen können, dass dieser deutlich zu schnell unterwegs gewesen sei. Sie
habe sich sogleich gedacht, dass der massiv zu schnell fahrende Lenker
hoffentlich nicht die Herrschaft über sein Fahrzeug verliere und verunglücke.
Sie schätzte dessen Geschwindigkeit auf 100 km/h (kant. Akten, Urk. 23 f.). Der
Beschwerdeführer konnte am 19. Dezember 2009 von der Kantonspolizei Aargau zum
Verkehrsunfall vom 24. November 2009 einvernommen werden. Er bestritt, mit
übersetzter Geschwindigkeit gefahren zu sein. Y.________ sei im Zeitpunkt des
Überholmanövers mit weniger als 80 km/h unterwegs gewesen, ansonsten er sie
nicht überholt hätte. Er machte geltend, er habe in der Linkskurve auf dem
Wiesland links ein Richtung Strasse rennendes Reh wahrgenommen. Beim
Ausweichmanöver nach rechts sei sein Fahrzeug ins Schleudern geraten und mit
dem Baum kollidiert. Er sei weder zu schnell unterwegs gewesen noch habe er die
Kurve zu schnell befahren. Der einzige Grund für den Unfall sei das auf die
Strasse rennende Reh gewesen (kant. Akten, Urk. 28 ff.).

3.5 Angesichts der verfügbaren Beweise konnte der vom Beschwerdeführer
behauptete Sachverhalt nicht als klar bezeichnet werden. Vielmehr war von einer
umstrittenen Beweislage auszugehen. Der Beschwerdeführer war im Vorverfahren
selbst ausgehend von der bezirksgerichtlichen Beweiswürdigung nicht geständig,
da er die Geschwindigkeitsüberschreitung bestritt und einzig ein auf die
Strasse rennendes Reh für den Unfall verantwortlich machte. Bei dieser Sachlage
bestand - auch wenn man Art. 352 Abs. 1 StPO als zwingend betrachtet - kein
Anspruch auf Erledigung des Strafverfahrens durch einen Strafbefehl. Der
Staatsanwaltschaft kann nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie das
Verfahren zur gerichtlichen Beurteilung an das Bezirksgericht überwies.
Entsprechend können die erstinstanzlichen Verteidigungskosten nicht als vom
Staat verursacht gelten.

4.
Für Rügen der Verletzung von Grundrechten gelten erhöhte
Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 mit
Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung von Art. 6 Ziff. 1
und 2 EMRK genügt diesen Anforderungen nicht. Auf die Rüge ist nicht
einzutreten.

5.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Die
Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Dezember 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Die Gerichtsschreiberin: Unseld