Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.360/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_360/2012

Urteil vom 13. August 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Schöbi,
Gerichtsschreiber C. Monn.

Verfahrensbeteiligte
X.________, vertreten durch Rechtsanwältin Isabelle Schwander,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Postfach 1233, 8026 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Haftentlassung, Rechtsverweigerung, unrichtiges Gerichtsverfahren,

Beschwerde gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich,
II. Strafkammer, vom 7. Mai 2012.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Obergericht des Kantons Zürich bestrafte X.________ am 20. November 2009
unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Körperverletzung mit 3½ Jahren
Freiheitsstrafe, abzüglich 416 Tage erstandener Haft, und einer Busse von Fr.
2'000.--. Das Gericht ordnete eine stationäre Massnahme im Sinne von Art. 59
Abs. 1 und 3 StGB an. Das Urteil ist seit dem 10. Februar 2010 rechtskräftig.
Am 1. Juli 2010 wurde X.________ per 30. Juni 2010 zum Vollzug der stationären
Massnahme in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies eingewiesen, wo er sich
zurzeit befindet. Einen gegen die Vollzugsanordnung erhobenen Rekurs wies die
Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich am 26. August 2010 ab,
soweit sie darauf eintrat. Ein von X.________ am 7. August 2011 gestelltes
Gesuch um bedingte Entlassung aus der Massnahme wurde durch das Amt für
Justizvollzug des Kantons Zürich am 12. September 2011 abgewiesen. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich wies eine dagegen gerichtete Beschwerde
in Anwendung von Art. 62d StGB am 22. März 2012 ab.

Mit Eingabe vom 29. April 2012 beantragte X.________ beim Obergericht unter
Bezugnahme auf Art. 440 Abs. 3 StPO, er sei unverzüglich aus der Massnahme und
der Haft zu entlassen. Sofern sich das Obergericht nicht für zuständig erachte,
sei die Angelegenheit dem zuständigen Richter zu überweisen (vgl. Eingabe vom
29. April 2012 S. 2/3).

Der Präsident der II. Strafkammer des Obergerichts verfügte am 7. Mai 2012, die
Eingabe vom 29. April 2012 werde zuständigkeitshalber dem Amt für Justizvollzug
des Kantons Zürich überwiesen. Er stellte fest, da keine Sicherheitshaft im
Sinne von Art. 440 StPO angeordnet worden sei, habe das Gericht auch nicht zu
entscheiden, "ob die verurteilte Person bis zum Antritt der Strafe oder
Massnahme in Haft bleibt" (Art. 440 Abs. 3 StPO). Weil das Obergericht
demzufolge keine Kompetenz habe, über eine Entlassung aus der Massnahme zu
entscheiden, sondern das nach kantonalem Recht zuständige Amt für
Justizvollzug, sei das Gesuch praxisgemäss dorthin zu überweisen.

X.________ wendet sich ans Bundesgericht und beantragt, die Verfügung vom 7.
Mai 2012 sei aufzuheben. Er sei aus der Massnahme und der Haft zu entlassen.
Eventualiter sei das Obergericht anzuweisen, das Haftentlassungsgesuch zu
behandeln. Subeventualiter sei das Obergericht anzuweisen, das
Haftentlassungsgesuch dem zuständigen Gericht zu überweisen. Es sei
festzustellen, dass sich das Obergericht zu Unrecht weigere, das
Haftentlassungsgesuch zu behandeln, und es sei der Kanton Zürich anzuweisen,
das Haftentlassungsgesuch zu behandeln. Es sei festzustellen, dass das
Obergericht bzw. der Kanton Zürich Art. 5 Abs. 4 EMRK durch Nichtbeurteilung
innert angemessener Frist verletzt hätten.

2.
Die Vorinstanz hat die Eingabe des Beschwerdeführers dem ihrer Ansicht nach
zuständigen Amt für Justizvollzug überwiesen und das Gesuch um Entlassung aus
der Massnahme und der Haft mangels Kompetenz nicht behandelt. Damit ist das bei
ihr hängig gewesene Verfahren im Sinne von Art. 90 BGG abgeschlossen, und auf
die Beschwerde, mit der geltend gemacht wird, dass die Vorinstanz das Gesuch
hätte behandeln müssen, ist einzutreten.

Es stellt sich die Frage, ob gegen die angefochtene Verfügung des Präsidenten
der II. Strafkammer des Obergerichts, jedenfalls soweit er das Gesuch um
Entlassung aus der Massnahme und Haft mangels Kompetenz nicht behandelte, ein
kantonaler Rechtsbehelf möglich gewesen wäre. Da sich die Beschwerde indessen
als offensichtlich unbegründet erweist, kann die Frage, ob der angefochtene
Entscheid letztinstanzlich im Sinne von Art. 80 Abs. 1 BGG ist, offen bleiben.

3.
Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV geltend, weil
in Missachtung von § 39 des zürcherischen Gesetzes über die Gerichts- und
Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess (GOG) keine Dreierbesetzung des
Obergerichts entschieden habe (Beschwerde S. 8). Im vorliegenden Fall hat die
Vorinstanz indessen die Angelegenheit nicht entschieden, sondern an die
zuständige Stelle überwiesen, weil sie für die aufgeworfene Frage nicht
kompetent sei. Dass auch eine solche Überweisung an eine andere Stelle durch
eine Dreierbesetzung vorgenommen werden müsste, ergibt sich aus der Beschwerde
nicht. Jedenfalls wird eine willkürliche Anwendung von § 39 GOG/ZH nicht
dargetan. Insoweit ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Unter diesen
Umständen ist auch die Rüge der Verletzung von Art. 30 BV unbegründet.

4.
Der Beschwerdeführer macht zur Hauptsache geltend, es sei umstritten bzw. durch
die Vorinstanz gar nicht richtig geprüft worden, ob er sich im Massnahmevollzug
befinde oder nicht. Er beharrt denn auch darauf, dass Art. 440 StPO anzuwenden
gewesen wäre. Durch die Weigerung, das Gesuch zu behandeln, habe die Vorinstanz
den Sachverhalt unrichtig bzw. lückenhaft festgestellt und gegen Art. 5 und 6
EMRK sowie Art. 29, 30 und 31 BV verstossen (vgl. Beschwerde S. 5 ff.).

Von einem lückenhaften Entscheid bzw. einer Verletzung der Begründungspflicht
kann nicht die Rede sein. Denn die Vorinstanz verweist ausdrücklich auf das
oben in E. 1 erwähnte Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 22.
März 2012. Inwieweit dieses widersprüchlich sein soll (Beschwerde S. 10), führt
der Beschwerdeführer nicht aus. Daraus ergibt sich klar, dass er sich im
Vollzug der von der Vorinstanz 2009 angeordneten stationären Massnahme
befindet. Dann aber steht auch fest, dass er nicht in Haft im Sinne von Art.
440 StPO sein kann, weil diese Sicherheitshaft nur "bis zum Antritt der Strafe
oder Massnahme" angeordnet wird. Da jemand aus einer nicht existierenden Haft
nicht entlassen werden kann, war es der Vorinstanz nicht möglich, das
ausdrücklich auf Art. 440 StGB gestützte Gesuch des Beschwerdeführers zu
behandeln.

Wer sich im Vollzug einer Massnahme befindet, kann nur die bedingte Entlassung
gemäss Art. 62 StGB oder die Aufhebung der Massnahme gemäss Art. 62c StGB
verlangen. Beides ist durch die zuständige kantonale Vollzugsbehörde zu prüfen
(Art. 62d Abs. 1 StGB). Dass zunächst die Vollzugsbehörde entscheidet und erst
deren Entscheid durch ein Gericht überprüft wird, verletzt weder die BV noch
die EMRK. Auch verlangen weder die BV noch die EMRK, dass der Betroffene
jederzeit ein "Haftentlassungsgesuch" bei dem Gericht, welches die Massnahme
angeordnet hat, stellen kann. Dies gilt auch, wenn er geltend macht, der
Massnahmevollzug sei mangelhaft. Davon, dass wegen der angeblichen Mängel
wieder Art. 440 StGB zum Zuge käme (Beschwerde S. 11), kann nicht die Rede
sein. Unter den gegebenen Umständen war es richtig (und entsprach denn auch dem
Eventualantrag des Beschwerdeführers), dass die Vorinstanz das Gesuch um
Entlassung aus der Massnahme dem zuständigen Amt für Justizvollzug überwies. Zu
Recht stellt sie zudem fest, dass das Verwaltungsgericht zwar gerade am 22.
März 2012 unter Hinweis auf die "nach wie vor ungünstige Legalprognose aufgrund
bestehender Rückfallgefahr" die Entlassung des Beschwerdeführers aus dem
Vollzug der Massnahme abgelehnt habe, es diesem indessen offen stehe, erneut
ein Gesuch gemäss Art. 62d StGB zu stellen.

Inwieweit schliesslich der Umstand, dass der Beschwerdeführer gestützt auf
einen Entscheid des Regierungsrates und eine Verfügung des Migrationsamtes des
Kantons Zürich die Schweiz per 2. August 2012 zu verlassen hat (vgl. act. 12),
am Ausgang der Sache etwas zu ändern vermag, ergibt sich aus der neuen Eingabe
vom 17. Juli 2012 nicht und ist auch nicht ersichtlich.

Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG abzuweisen, soweit darauf
einzutreten ist.

5.
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG
abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Der finanziellen
Lage des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu
tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. August 2012
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: C. Monn