Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.350/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_350/2012

Urteil vom 28. Februar 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Tarkan Göksu,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg, Liebfrauenplatz 4, 1700 Freiburg,
Beschwerdegegnerin 1,

2. Y.________,
vertreten durch Fürsprecher Peter Huber,
Beschwerdegegnerin 2.

Gegenstand
Sexuelle Nötigung; Strafzumessung; Öffentlichkeit
der Verhandlung; Beweiswürdigung, Grundsatz der Unschuldsvermutung,

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Freiburg, Strafappellationshof,
vom 5. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Am 9. November 2006 entdeckte der Vater von Y.________ eine "Chatunterhaltung"
auf ihrem Computer, die sie am Vortag mit einer unbekannten Person geführt
hatte. Darin erzählte sie, sie sei im Sommer 2005 durch K.O.-Tropfen gefügig
gemacht und von acht Männern vergewaltigt worden. Der Vater meldete in der
Folge der Polizei, Y.________ sei von X.________ und dessen Freunden mehrmals
zum Geschlechtsverkehr sowie oralem Sex gezwungen worden. Diese Handlungen
seien mit Handys gefilmt worden. Die polizeiliche Untersuchung förderte noch
weitere Delikte zu Tage, die im vorliegenden Verfahren nicht mehr angefochten
sind.
Das Beweisverfahren ergab gemäss Vorinstanz, dass X.________ am 16. Juli 2005
im Rahmen einer Gruppenvergewaltigung ("Gang Bang") unter Anwesenheit mehrerer
Kollegen Y.________ vergewaltigt und zu weiteren sexuellen Handlungen wie
Analverkehr genötigt hatte.

B.
Das Bezirksstrafgericht Sense verurteilte X.________ am 18. März 2008 wegen
Vergewaltigung, sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung, begangen am
16. Juli 2005 zum Nachteil von Y.________; mehrfachen sexuellen Handlungen mit
zwei Kindern, begangen zwischen Dezember 2005 und November 2006; sexueller
Nötigung, begangen im April/Mai 2006; Förderung der Prostitution, begangen im
Herbst 2006 sowie mehrfachen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, begangen am 9.
März 2007 und 3. Juni 2007, zu einer Freiheitsstrafe von 3 ½ Jahren, teilweise
als Zusatzstrafe zum Urteil des Untersuchungsrichteramtes III Bern-Mittelland
vom 20. Oktober 2005. Zudem verpflichtete es X.________, verschiedene
Genugtuungszahlungen zu leisten. Das Verfahren wegen einfacher Körperverletzung
stellte es ein.

C.
Der Strafappellationshof des Kantons Freiburg wies am 17. September 2009 die
Berufung von X.________ ab und bestätigte das angefochtene Urteil.
X.________ führte gegen das Urteil des Strafappellationshofs Beschwerde in
Strafsachen. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde am 13. Dezember 2010 gut
und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

D.
Der Strafappellationshof des Kantons Freiburg wirft X.________ in seinem
Entscheid vom 5. März 2012 vor, Y.________ am 16. Juli 2005 nach
einvernehmlichem Geschlechtsverkehr mit zwei weiteren Personen festgehalten und
im Rahmen einer Gruppenvergewaltigung ("Gang Bang") unter Anwesenheit mehrerer
Kollegen zu vergewaltigen versucht sowie zu weiteren sexuellen Handlungen
genötigt zu haben.
Der Strafappellationshof bestätigte die Schuldsprüche sowie die Genugtuungs-
und Entschädigungszahlungen, sprach X.________ aber vom Vorwurf der vollendeten
Vergewaltigung frei. Er verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 40
Monaten, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Untersuchungsrichteramtes
III Bern-Mittelland vom 20. Oktober 2005.

E.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben, und er sei vom Vorwurf der versuchten Vergewaltigung
sowie sexueller Nötigung, begangen am 16. Juli 2005 zum Nachteil von
Y.________, freizusprechen. Für die übrigen Anklagepunkte sei er zu einer
bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten, bei einer Probezeit von zwei Jahren,
zu verurteilen. X.________ verlangt die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

F.
Das Kantonsgericht Freiburg beantragt sinngemäss, die Beschwerde sei
abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg und Y.________
beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden
könne.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe den Grundsatz der
Öffentlichkeit der Verhandlung verletzt (Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1
EMRK, Art. 69 f. StPO). Er rügt, die Vorinstanz habe keine Interessenabwägung
vorgenommen und nicht begründet, weshalb sie die Öffentlichkeit von der
Hauptverhandlung ausgeschlossen habe (Beschwerde, S. 6 ff.).

1.2 Die Vorinstanz erwähnt den Ausschluss der Öffentlichkeit im Rahmen der
Hauptverhandlung nicht. Sie führt lediglich aus, dass die Verhandlung zur
Urteilsberatung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden habe,
unterbrochen worden sei (Urteil, S. 3). Im Protokoll zur Hauptverhandlung vom
17. Februar 2012 (S. 2) führt die Vorinstanz aus: "Die Sitzung wird um 08.50
Uhr im Saal des Kantonsgerichts in Freiburg eröffnet. Gemäss Art. 70 Abs. 1
lit. a StPO findet sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt."

1.3 Nach Art. 69 Abs. 1 StPO sind die Verhandlungen vor dem erstinstanzlichen
Gericht und dem Berufungsgericht sowie die mündliche Eröffnung von Urteilen und
Beschlüssen dieser Gerichte mit Ausnahme der Beratung öffentlich. Gemäss Art.
70 StPO kann das Gericht die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ganz oder
teilweise ausschliessen, wenn schutzwürdige Interessen einer beteiligten
Person, insbesondere des Opfers, dies erfordern (Abs. 1 lit. a). Das Gericht
kann Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstattern unter
bestimmten Auflagen den Zutritt zur Verhandlung gestatten, die nach Absatz 1
nicht öffentlich sind (Abs. 3).
Jede Person hat gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Recht darauf, dass über
Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen
oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen
Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Die
Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung stellt ein fundamentales Prinzip dar,
das nicht nur für den Einzelnen bedeutend ist, sondern ebenso als Voraussetzung
der Bevölkerung für das Vertrauen in das Funktionieren der Justiz erscheint (
BGE 122 V 47 E. 2c; 121 I 30 E. 5d; Urteil 1C_457/2009 vom 23. Juni 2010 E. 3;
je mit Hinweisen).

1.4 Das Bundesgericht setzte sich in seinem Rückweisungsentscheid ausführlich
mit den Grundsätzen der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung auseinander,
worauf zu verweisen ist (Urteil 6B_1078/2009 vom 13. Dezember 2010 E. 2.3 und
2.4). Die am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Schweizerische
Strafprozessordnung ändert an diesen Überlegungen nichts. Neu wurden die
Bestimmungen des Opferhilfegesetzes über den besonderen Schutz und die
besonderen Rechte im Strafverfahren (aArt. 34-39 OHG) in die
Strafprozessordnung integriert. Die im vorliegenden Zusammenhang
interessierende Vorschrift von aArt. 35 lit. e OHG, wonach das Opfer von
Straftaten gegen die sexuelle Integrität u.a. verlangen kann, dass das Gericht
die Öffentlichkeit von den Verhandlungen ausschliesst, findet sich in
abgeschwächter Form in Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO wieder.

1.5 Wie schon unter dem Geltungsbereich des OHG hat der Richter gestützt auf
den in Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 30 Abs. 3 BV und in Art. 69 Abs. 1 StPO
vorgesehenen Anspruch auf Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung eine
Interessenabwägung mit den verschiedenen Interessen des Opfers, des
Beschuldigten sowie des Publikums und der Presse vorzunehmen (PASCAL MAHON,
Commentaire Romand, Code de procédure pénale suisse, Art. 70 N. 7 ff.; URS
SAXER/SIMON THURNHEER, Basler Kommentar StPO, Art. 70 N. 8 ff.; Botschaft zur
Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085,
S. 1153). Der Ausschluss der Öffentlichkeit muss verhältnismässig, das heisst
geeignet und erforderlich sein. Zudem muss ein angemessenes Verhältnis zwischen
den Gründen für den Ausschluss der Öffentlichkeit und dem Interesse an der
öffentlichen Verhandlung bestehen (Urteil 1C_332/2008 vom 15. Dezember 2008 E.
3.1 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Ein grundsätzlicher
Ausschluss der Publikumsöffentlichkeit verletzt Art. 6 Ziff. 1 EMRK (so auch
SUSANNE SCHAFFNER-HESS in: Peter Gomm/Dominik Zehntner, Kommentar zum
Opferhilfegesetz, 3. Aufl. 2009, Art. 35 N. 17; MARK E. VILLIGER, Handbuch der
Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, N. 449).

1.6 Das Bundesgericht verneinte im Rückweisungsentscheid einen Anspruch des
Beschwerdeführers auf Durchführung einer öffentlichen Hauptverhandlung einzig
deshalb, weil dieser es unterlassen hatte, im Vorfeld oder anlässlich der
vorinstanzlichen Verhandlung ein entsprechendes Begehren zu stellen. Es
erwähnte zudem ausdrücklich die richterliche Pflicht, bei Ausschluss der
Öffentlichkeit eine Interessenabwägung vorzunehmen (Urteil 6B_1078/2009 vom 13.
Dezember 2010 E. 2.5). Im Rückweisungsverfahren stellte der Beschwerdeführer am
28. Oktober 2011 den begründeten Antrag auf Durchführung einer
publikumsöffentlichen Hauptverhandlung (Beschwerdebeilage 18). Die Vorinstanz
hielt mit Schreiben vom 17. Januar 2012 an die Parteien (Beschwerdebeilage 19)
ohne weitere Ausführungen fest, dass sie entschieden habe, die Öffentlichkeit
vom Verfahren auszuschliessen. Sie räumt in ihrer Vernehmlassungsantwort vom
12. November 2012 (act. 13) denn auch ein, dass sie den Entscheid zur Frage
nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit nicht näher begründet habe. Sie erwähnt
weiter, dass eine Interessenabwägung recht klar zu Gunsten des Opfers
ausgefallen wäre. Die Vorinstanz verkennt damit, dass bei korrekter
Interessenabwägung (wie oben E. 1.4 erwähnt) nicht nur die Interessen des
Opfers, des Beschuldigten und allenfalls anderer Verfahrensbeteiligter, sondern
auch diejenigen der Öffentlichkeit im Allgemeinen einzubeziehen sind.

1.7 Die Vorinstanz verletzt Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
(Öffentlichkeit der Verhandlung) sowie den Anspruch des Beschwerdeführers auf
rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), wenn sie die Öffentlichkeit ohne
Interessenabwägung von der Hauptverhandlung ausschliesst und die bestehenden
Möglichkeiten, etwa lediglich der akkreditierten Presse Zutritt zur Verhandlung
oder zu einzelnen Verfahrensabschnitten zu gewähren, nicht prüft bzw.
begründet.
Da der Anspruch gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK formeller Natur ist, führt die
Gutheissung der Rüge zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 121 I 30
E. 5j). Der Mangel lässt sich im vorliegenden Verfahren nicht beheben. Auf die
weiteren Rügen des Beschwerdeführers ist bei dieser Sachlage nicht einzugehen.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der Entscheid des Strafappellationshofs des
Kantons Freiburg vom 5. März 2012 ist aufzuheben und die Sache zur neuen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens
sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BGG). Der
Kanton Freiburg hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung
auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Da der Beschwerdeführer obsiegt, wird
sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Strafappellationshofs des
Kantons Freiburg vom 5. März 2012 wird aufgehoben und die Sache zur neuen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Freiburg hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.
3'000.-- auszurichten.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Freiburg,
Strafappellationshof, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. Februar 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller