Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.317/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_317/2012

Urteil vom 21. Dezember 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys, Schöbi,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Gefährdung des Lebens,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 16. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Am 30. Juni 2011 verurteilte das Bezirksgericht Zürich X.________ wegen
Gefährdung des Lebens, Angriffs und weiterer Delikte und Übertretungen. Auf die
dagegen erhobene Berufung sprach ihn das Obergericht des Kantons Zürich am 16.
März 2012 vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens frei, bestätigte den
Schuldspruch wegen Angriffs und stellte fest, dass das Urteil des
Bezirksgerichts Zürich hinsichtlich der weiteren Delikte und Übertretungen in
Rechtskraft erwachsen ist. Es verurteilte X.________ zu einer unbedingten
Freiheitsstrafe von 21 Monaten und einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je
Fr. 10.-- sowie einer Busse von Fr. 1'000.--.

B.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in Strafsachen
mit dem Antrag, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und zur neuen
Entscheidung zwecks Verurteilung von X.________ wegen Gefährdung des Lebens im
Sinne von Art. 129 StGB und eines damit verbundenen höheren Strafmasses an das
Obergericht zurückzuweisen.

C.
Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. X.________ beantragt
die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 129 StGB. Die Vorinstanz
habe entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine konkrete Gefahr im
Sinne von Art. 129 StGB verneint, obwohl der Beschwerdegegner eine geladene und
entsicherte Schusswaffe aus drei Metern Entfernung auf Y.________ gerichtet
habe. Dass er hierbei seinen Zeigefinger nicht am Abzug der Pistole gehabt
habe, lasse das objektive Tatbestandselement der unmittelbaren Lebensgefahr
nicht entfallen.

2.
Der Gefährdung des Lebens im Sinne von Art. 129 StGB macht sich strafbar, wer
einen Menschen in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr bringt.
Objektiv ist eine konkrete, unmittelbare Lebensgefahr erforderlich; eine blosse
Gefahr für die Gesundheit genügt nicht. Unmittelbar ist die Gefahr, wenn sich
aus dem Verhalten des Täters nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge direkt die
Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit der Todesfolge ergibt (BGE 133 IV 1 E.
5.1). Nicht erforderlich ist, dass die Wahrscheinlichkeit des Todes grösser ist
als jene seiner Vermeidung (BGE 121 IV 67 E. 2b/aa).

3.
3.1 Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz richtete der
Beschwerdegegner aus einer Entfernung von drei Metern eine durchgeladene und
schussbereite Pistole auf die Körpermitte von Y.________. Er habe hierbei
seinen Finger - im Unterschied zum Sachverhalt in BGE 121 IV 67 E. 2d - nicht
am Abzug der Waffe gehabt, weshalb kein Grund ersichtlich sei, warum sich ein
Schuss hätte lösen sollen. Der festgestellte Abzugswiderstand von 3.23 kg sei
zwar niedriger als im zitierten Leitentscheid (5.5 kg), liege aber im normalen
Bereich. Zudem habe sich die Waffe in einem einwandfreien Zustand befunden.
Eine konkrete Lebensgefahr habe für Y.________ nicht bestanden. Hieran ändere
auch der Rauschzustand des Beschwerdegegners nichts.

3.2 Die Gefahr einer ungewollten Schussabgabe ist nicht nur gegeben, wenn der
Täter den Finger am Abzug einer durchgeladenen und entsicherten Schusswaffe
hat. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung und herrschender Lehre liegt -
beim qualifizierten Raub im Sinne von Art. 140 Abs. 4 StGB - eine konkrete
Lebensgefahr vor, wenn der Täter das Opfer mit einer entsicherten und
durchgeladenen oder gespannten Schusswaffe bedroht (BGE 121 IV 67 E. 2d; Urteil
6B_737/2009 vom 28. Januar 2010 E. 1.2.2 mit Hinweisen; Andreas Donatsch,
Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 9. Auflage, Zürich 2008, § 4 Ziff.
4.1, S. 62; Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I,
7. Aufl., Bern 2010, § 13 Rz. 134, S. 346). Der Frage, ob der Täter den Finger
am Abzug hat oder nicht, kommt insoweit keine entscheidende Bedeutung zu (BGE
117 IV 419 E. 4c; Urteil 6B_737/2009, a.a.O.). Richtet der Täter eine
schussbereite Waffe auf einen Menschen, kann sich auch ohne weitere
zielgerichtete Handlungen des Täters - etwa zufolge Aufregung,
unvorhergesehener Reaktion des Opfers, Intervention Dritter oder Defekts der
Waffe - jederzeit ungewollt ein Schuss lösen. Es hängt demnach nur vom Zufall
ab, ob das Opfer durch einen Schuss getötet werden kann, so dass eine
unmittelbare Lebensgefahr für den Bedrohten beim Einsatz von schussbereiten
Waffen stets gegeben ist.

3.3 Der Begriff der Lebensgefahr ist nach übereinstimmender Ansicht in
Rechtsprechung und Lehre bei beiden Tatbeständen nicht identisch und aufgrund
der hohen Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren beim lebensgefährlichen Raub
restriktiver auszulegen als bei der Lebensgefährdung, die mit Freiheitsstrafe
bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bedroht ist (BGE 121 IV 67 E. 2a; Peter
Aebersold, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 2. Aufl. 2010, N. 13 zu Art.
129 StGB; Stefan Trechsel/Thomas Fingerhuth, in: Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2008, N. 3 zu Art. 129
StGB; je mit Hinweisen). Ob an der bisher vom Bundesgericht praktizierten
Differenzierung zwischen einer "naheliegenden" (Art. 129 StGB) und einer "sehr
naheliegenden" (Art. 140 Abs. 4 StGB) Lebensgefährdung festzuhalten ist, kann
vorliegend dahingestellt bleiben, denn die im Rahmen von Art. 140 Abs. 4 StGB
entwickelten Kriterien zur Lebensgefahr beim Einsatz von schussbereiten
Feuerwaffen sind nach aktueller Rechtsprechung erst recht (argumentum a
fortiori) auch beim Tatbestand der Lebensgefährdung anwendbar. Es ist nicht
einsehbar und im Übrigen von der Vorinstanz auch nicht dargelegt, warum das
Richten einer schussbereiten Waffe gegen einen Menschen im Rahmen von Art. 129
StGB weniger gefährlich sein soll als beim Raub. Beide Tatbestände setzen eine
konkrete Lebensgefahr und damit die Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit
des Todes der bedrohten Person voraus. Eine solche ist bei der Bedrohung eines
Menschen mit einer geladenen und entsicherten Pistole aus kürzester Distanz
stets gegeben. Die Möglichkeit, dass sich selbst ungewollt und ohne weitere
Handlungen des im Waffenumgang oft ungeübten Täters ein tödlicher Schuss löst,
ist derart gross, dass es für eine konkrete Lebensgefahr weder bei Art. 129
StGB noch bei Art. 140 Abs. 4 StGB darauf ankommt, ob der Täter den Finger am
Abzug hat oder nicht.

3.4 Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie eine unmittelbare
Lebensgefahr im Sinne von Art. 129 StGB verneint. Die Beschwerde erweist sich
als begründet.

4.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die
Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang
des Verfahrens sind die Kosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs.
1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Zürich, II. Strafkammer, vom 16. März 2012 aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Dezember 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held