Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.304/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_304/2012

Urteil vom 8. November 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Schöbi,
Gerichtsschreiber Briw.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
2. Y.________,
vertreten durch Fürsprecher Dr. René Müller,
Beschwerdegegnerinnen.

Gegenstand
Mehrfache Vergewaltigung; Willkür,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer,
vom 15. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Bremgarten sprach am 12. Mai 2011 X.________ der mehrfachen
Vergewaltigung gemäss Art. 190 Abs. 1 StGB sowie der Vernachlässigung von
Unterhaltspflichten schuldig. In zwei Anklagepunkten sprach es ihn frei. Das
Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6
Monaten (unter Anrechnung von 10 Tagen Untersuchungshaft) und widerrief den
bedingten Vollzug von Strafurteilen des Bezirksgerichts Aarau vom 18. Januar
2006 sowie des Obergerichts des Kantons Aargau vom 12. August 2008.

Das Obergericht des Kantons Aargau hiess am 15. März 2012 die Berufung von
X.________ teilweise gut und fasste das bezirksgerichtliche Dispositiv in den
Ziff. 4, 5 und 7 neu, indem es die beiden Strafurteile nicht widerrief und den
Kostenentscheid abänderte. Im Übrigen wies es die Berufung ab.

B.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das
obergerichtliche Urteil aufzuheben, ihn vom Vorwurf der mehrfachen
Vergewaltigung freizusprechen, ihn eventualiter zu einer bedingten
Freiheitsstrafe von nicht mehr als 15 Monaten zu verurteilen und ihm die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anklagegrundsatzes gemäss Art. 9
StPO. Die Anklage beschreibe keinen Akt physischer Aggression, wie ihn Art. 190
Abs. 1 StGB als Nötigungsmittel voraussetze.

Gemäss Art. 9 StPO kann eine Straftat nur gerichtlich beurteilt werden, wenn
die Staatsanwaltschaft gegen eine bestimmte Person wegen eines genau
umschriebenen Sachverhalts beim zuständigen Gericht Anklage erhoben hat. Nach
Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO bezeichnet die Anklageschrift "möglichst kurz, aber
genau die der beschuldigten Person vorgeworfene Tat". Das Anklageprinzip
gewährleistet das rechtliche Gehör und die Verteidigungsrechte des Angeklagten
(BGE 120 IV 348 E. 2b). Damit die Anklageschrift ihre doppelte Funktion der
Umgrenzung und Information wahrnehmen kann, muss sie hinreichend präzise
formuliert sein (vgl. BGE 133 IV 235 E. 6.2; 120 IV 348 E. 2b).

Die Vorinstanz nimmt zutreffend an, dass die Anklageschrift (Urteil S. 2 f.)
die Voraussetzungen des "genau umschriebenen Sachverhalts" im Sinne von Art. 9
StPO erfüllt. Dem Beschwerdeführer konnte nicht zweifelhaft sein, was ihm
vorgeworfen wurde. Zu beurteilen, ob die vorgeworfene Tat Art. 190 StGB
erfüllt, ist Sache des Strafgerichts.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz wende Art. 190 Abs. 1 StGB
falsch an, indem sie das angeklagte Verhalten als Gewalt im Sinne des
Tatbestandes qualifiziere. Die Geschädigte beschreibe keine Gewalt. Es sei von
einem Geschlechtsakt unter Ehepartnern auszugehen, bei dem der Mann auf den
Geschlechtsverkehr gedrängt habe, ohne Gewalt oder sonstige Aggressionen
anzuwenden.

2.1 Die Vorinstanz beurteilt den Sachverhalt im Sinne der Anklage als erstellt.
Dieser ist für das Bundesgericht massgebend (Art. 105 Abs. 1 BGG). Im ersten
Anklagepunkt steht fest, dass der Beschwerdeführer der Geschädigten trotz ihrer
Ablehnung Pyjama- und Unterhose bis zu den Knien auszog und sich auf sie legte.
Sie klemmte ihre Beine zusammen, so fest sie konnte. Sie bekam Muskelkrämpfe.
Der 198 cm grosse und ca. 120 kg schwere Beschwerdeführer war der 181 cm
grossen Geschädigten klar überlegen. Es gelang ihm, ihre Beine
auseinanderzudrücken. Er konnte aber mit seinem Glied nur wenig in die Vagina
eindringen. Sie sagte ihm wiederholt, dass sie wegen der Schmerzen infolge der
kurz zurückliegenden Geburt mit Dammschnitt keinen Geschlechtsverkehr wolle
(Urteil S. 21 f.). Anschliessend zog er sie auf seinen Schoss und setzte sie
auf sein Glied, was ihr "höllische" Schmerzen verursachte, weshalb sie weinen
musste. Ihre Abwehr blieb wirkungslos (Urteil S. 23).

Im zweiten Anklagepunkt schlich sich der Beschwerdeführer etwa einen Monat
später, als beide nach ihrer Trennung bei den Schwiegereltern wohnten, in der
Nacht auf ihr Zimmer und legte sich nackt auf sie, während sie schlief. Sie
erschrak. Er zog ihre Unterhose aus. Er erklärte ihr, dass es ihn heiss mache,
wenn sie sich wehre und nicht wolle. Er drang in sie ein. Sie sagte ihm, wenn
er nicht aufhöre, rufe sie seinen Vater. Er hielt ihr den Mund zu. Sie konnte
sich nicht wehren und befand sich in einem Schockzustand (Urteil S. 23 f.).

2.2 Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt,
namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck
setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis
zu zehn Jahren bestraft (Art. 190 Abs. 1 StGB).

Die sexuellen Nötigungstatbestände gelten als Gewaltdelikte und sind damit
prinzipiell als Akte physischer Aggression zu verstehen. Das ist nicht schon
mit jedem beliebigen Zwang gegeben. Die Einwirkung auf das Opfer muss erheblich
sein (BGE 131 IV 167 E. 3.1). Gewalt im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB ist
gegeben, wenn der Täter ein grösseres Mass an körperlicher Kraft aufwendet, als
zum blossen Vollzug des Akts notwendig ist. Es ist keine brutale Gewalt etwa in
Form von Schlägen und Würgen erforderlich. Es genügt, wenn der Täter seine
überlegene Kraft einsetzt, indem er die Frau festhält oder sich mit seinem
Gewicht auf sie legt (Urteil 6S.558/1996 vom 2. Dezember 1996 E. 3; Urteil
6B_267/2007 vom 3. Dezember 2007 E. 6.3).

Der Beschwerdeführer geht von einem nicht zutreffenden Verständnis des
Gewaltbegriffs bei der "einfachen" Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1
StGB aus. Dieser Tatbestand erfordert keine rohe Gewalt oder Brutalität.
Handelt der Täter grausam, ist die Tat gemäss Art. 190 Abs. 3 StGB zu
beurteilen. Art. 190 StGB bezweckt den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung
und erfasst alle erheblichen Nötigungsmittel, auch solche ohne unmittelbaren
Bezug zu physischer Gewalt. Es soll ebenfalls das Opfer geschützt werden, das
in eine ausweglose Situation gerät, in der es ihm nicht zumutbar ist, sich dem
Vorhaben des Täters zu widersetzen, auch wenn dieser keine Gewalt anwendet (BGE
131 IV 167 E. 3). Das Opfer muss sich nicht auf einen Kampf einlassen oder
Verletzungen in Kauf nehmen. Prinzipiell genügt der ausdrückliche Wille, den
Geschlechtsverkehr nicht zu wollen. Die Art. 189 Abs. 1 und Art. 190 Abs. 1
StGB "tendent à protéger la libre détermination en matière sexuelle, en
réprimant de manière générale la contrainte dans ce domaine, ayant pour objet
d'amener une personne, sans son consentement, à faire ou subir l'acte sexuel ou
un autre acte d'ordre sexuel" (BGE 122 IV 97 E. 2b). Der entgegenstehende Wille
muss unzweideutig manifestiert werden. Die von der Rechtsprechung geforderte
Widersetzlichkeit des Opfers ist nichts anderes als eine tatkräftige und
manifeste Willensbezeugung, mit welcher dem Täter unmissverständlich klar
gemacht wird, den Geschlechtsverkehr oder die sexuelle Handlung nicht zu
wollen. Unter Gewalt ist nicht mehr verlangt als das Mass an körperlicher
Kraftentfaltung, das notwendig ist, um sich über diese entgegenstehende
Willensbetätigung hinwegzusetzen. Gewalt ist die physische Einwirkung auf das
Opfer, die darauf gerichtet ist, dessen geleisteten oder erwarteten Widerstand
zu brechen (Urteil 6S.688/1997 vom 17. Dezember 1997 E. 2b). Das ist im
Einzelfall anhand der Umstände zu ermitteln und hier bei allen drei angeklagten
Sachverhalten zu bejahen.

Der Schuldspruch wegen mehrfacher Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1
StGB verletzt kein Bundesrecht.

3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 47 StGB. Seine Beweggründe
seien sexuell und keineswegs rücksichtslos motiviert gewesen. Die Vorinstanz
lasse den Umstand, dass er keine bzw. kaum Gewalt angewendet habe, als
wichtigstes Strafzumessungskriterium ausser Acht. Sie lasse unberücksichtigt,
dass es sich um ein sexuelles Ereignis in der Ehe gehandelt hatte, das erstmals
bei der scheidungsrechtlichen Auseinandersetzung zur Sprache kam. Sie
berücksichtige seine erhöhte Strafempfindlichkeit nicht. Er sei erneut
verheiratet, habe einen einjährigen Sohn und eine feste Arbeitsstelle. Weil er
nicht einschlägig vorbestraft sei, hätte ihn die Vorinstanz in richtiger
Anwendung von Art. 47 StGB nur zu einer bedingten Freiheitsstrafe von nicht
mehr als 15 Monaten verurteilen dürfen.

Der Beschwerdeführer zeigt keine Verletzung von Bundesrecht auf (vgl. BGE 134
IV 17 E. 2.1). Sein wiederholtes Vorgehen war angesichts der kurz
zurückliegenden Geburt roh, ohne Empathie und rücksichtslos. Art. 190 StGB
schützt alle "Personen weiblichen Geschlechts" unabhängig vom Personenstand.
Neben der Tatmehrheit waren vier Vorstrafen straferhöhend zu gewichten (Art. 49
Abs. 1 und Art. 47 Abs. 1 StGB). Die Vorinstanz beurteilt die
Strafempfindlichkeit als durchschnittlich. Diese war nicht strafmindernd zu
berücksichtigen, ebenso wenig die Härte der Strafverbüssung als solche (Urteil
6B_1037/2009 vom 20. Januar 2010 E. 4.3). Die Vorinstanz wertet sein Bestreiten
nicht straferhöhend (vgl. Urteil 6B_162/2011 vom 8. August 2011 E. 7.4).

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist
wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren abzuweisen (Art. 64 BGG). Der
finanziellen Lage des Beschwerdeführers (Urteil S. 27) ist mit herabgesetzten
Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. November 2012
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Briw