Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.288/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_288/2012

Urteil vom 6. Dezember 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys, Schöbi,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Fürsprecher August Biedermann,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Wiederaufnahme,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom
9. Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
Das Kreisgericht St. Gallen verurteilte X.________ am 3. Dezember 2009 wegen
schwerer Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer
Freiheitsstrafe von 3 ½ Jahren. Der amtliche Verteidiger von X.________ erhob
gegen diesen Entscheid Berufung und die Staatsanwaltschaft des Kantons St.
Gallen Anschlussberufung. Am 29. März 2010 gewährte das Sicherheits- und
Justizdepartement des Kantons St. Gallen X.________ für das Verfahren vor
Kantonsgericht (wie schon vor erster Instanz) die amtliche Verteidigung,
allerdings nur insoweit, als die Verteidigungskosten den Betrag von Fr.
5'000.-- übersteigen. Da X.________ den Selbstbehalt nicht beglich, ersuchte
der amtliche Verteidiger am 16. August 2010 um Entbindung von der amtlichen
Verteidigung, die das Sicherheits- und Justizdepartement am 27. August 2010
genehmigte. Das Kantonsgericht St. Gallen verurteilte X.________ am 30. August
2010 wegen schwerer Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer
Freiheitsstrafe von 3 ½ Jahren unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 124
Tagen.

B.
Am 28. Oktober 2011 reichte X.________ ein Gesuch um Wiederaufnahme ein. Der
Präsident des Kantonsgerichts bewilligte am 14. November 2011 die amtliche
Verteidigung für das Wiederaufnahmeverfahren. Am 9. Januar 2012 wies das
Kantonsgericht das Gesuch ab.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des
Kantonsgerichts St. Gallen vom 9. Januar 2012 sei aufzuheben und die Vorinstanz
anzuweisen, die Revision im Sinne von Art. 248 ff. des Strafprozessgesetzes des
Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 (aStP/SG) zu bewilligen. Ausserdem sei ihm
für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Prozessführung und
Verbeiständung zu bewilligen.

D.
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung gemäss Art. 103 Abs. 2 lit. b BGG hat das
Bundesgericht am 1. Juni 2012 abgewiesen.

E.
Das Kantonsgericht St. Gallen verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen.

F.
Das Bundesgericht hat den Entscheid öffentlich beraten.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Recht auf Verteidigung sei
unverzicht- und unverjährbar. Die Durchführung der Hauptverhandlung in
Abwesenheit eines Verteidigers bei einer notwendigen oder obligatorischen
Verteidigung verletze nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in jedem Fall
die Bundesverfassung. Unabhängig von den tatsächlichen und rechtlichen
Schwierigkeiten bestehe Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung, wenn der
Angeklagte mit einer unbedingten Strafe zu rechnen habe. Art. 55 aStP/SG sehe
eine notwendige Verteidigung in wichtigen Fällen vor, die sich aus Art. 56 aStP
/SG ergeben würden. Die erste Instanz habe ihn zu 3 ½ Jahren Freiheitsstrafe
verurteilt. Die Staatsanwaltschaft habe in ihrer Anschlussberufung gar 4 ½
Jahre beantragt. Es sei von einem schwerwiegenden Fall auszugehen, der eine
Verteidigung notwendig gemacht hätte (Beschwerde, S. 7 ff.).
Werde gegen das Recht auf Verteidigung verstossen, sei die Wiederaufnahme des
Verfahrens ausnahmsweise kraft Bundesrechts zuzulassen. Die Wiederaufnahme
könne zwar nicht dazu dienen, einer säumigen Partei eine zweite ordentliche
Rechtsmittelfrist zu verschaffen. Sie stelle jedoch ein unverzichtbares Recht
dar, das gemäss einem früheren Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau im
Rahmen von Art. 385 StGB geltend gemacht werden könne (Beschwerde, S. 5 f.).

1.2 Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer mache in seinem
Wiederaufnahmegesuch weder neue Tatsachen oder Beweismittel geltend noch
verweise er auf einen Entscheid einer internationalen Behörde. Seine einzige
Rüge, die mündliche Berufungsverhandlung sei ohne notwendigen Verteidiger
durchgeführt worden, stelle keinen Revisionsgrund nach Art. 248 Abs. 1 aStP/SG
dar. Art. 385 StGB liefere darüber hinaus keine Grundlage, die Wiederaufnahme
wegen Verfahrensfehler kraft Bundesrechts zuzulassen.
Die notwendige Verteidigung nach Art. 55 aStP/SG setze voraus, dass die
beschuldigte Person wegen geistiger und körperlicher Beeinträchtigung oder aus
anderen Gründen ihre Rechte nicht ausreichend wahren könne. Solche Gründe habe
der Beschwerdeführer weder im Rahmen der Hauptverhandlung noch im
Wiederaufnahmeverfahren geltend gemacht. Seinen mangelnden Sprachkenntnissen
sei im Übrigen mit einer Dolmetscherin Rechnung getragen worden. Deshalb habe
vom Beizug eines notwendigen Verteidigers abgesehen werden können. Nichts
anderes ergebe sich aus der bundesgerichtlichen Praxis. Eine Pflicht, unter
bestimmten Voraussetzungen eine obligatorische Verteidigung des Beschuldigten
anzuordnen, bestehe nicht. Hingegen könnten es die konkreten Umstände eines
Falles gebieten, dass einem Beschuldigten auch ohne entsprechendes Ersuchen von
Amtes wegen ein Rechtsvertreter bestellt werde. Vorliegend fehle es an solchen
Umständen. Der Beschwerdeführer habe im Laufe des Jahres 2010 freiwillig auf
eine Verteidigung verzichtet, indem er sich geweigert habe, seinem amtlichen
Verteidiger einen Kostenvorschuss zu leisten. Auf das Schreiben des
Sicherheits- und Justizdepartementes im Zuge der Niederlegung des Mandates
durch den amtlichen Verteidiger Mitte August 2010 habe der Beschwerdeführer
nicht reagiert. Es habe keine Verpflichtung bestanden, ihn ein weiteres Mal auf
sein Recht hinzuweisen, einen Verteidiger beizuziehen oder von Verfassung wegen
einen solchen zu ernennen (angefochtenes Urteil, S. 6 f.).

1.3 Gemäss Art. 453 Abs. 1 StPO werden Rechtsmittel gegen Entscheide, die vor
Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 gefällt
wurden, nach bisherigem Recht, von den bisher zuständigen Behörden, beurteilt.
In Bezug auf Revisionen gelangen die Revisionsgründe zur Anwendung, die im
Zeitpunkt des zu revidierenden Entscheids in Kraft waren (Urteil 6B_41/2012 vom
28. Juni 2012 E. 1.1 mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer reichte sein
Revisionsgesuch gegen das Urteil vom 30. August 2010 am 28. Oktober 2011 ein.
Die Vorinstanz wendet zu Recht kantonales Recht an.

1.4 Nach Art. 248 Abs. 1 aStP/SG ist die Wiederaufnahme eines durch
Bussenverfügung, Aufhebungsverfügung, Strafbescheid oder Urteil rechtskräftig
erledigten Strafverfahrens zulässig, wenn a) durch eine strafbare Handlung auf
das Ergebnis des Strafverfahrens eingewirkt wurde; b) erhebliche Tatsachen oder
Beweismittel glaubhaft gemacht werden, die der entscheidenden Instanz nicht
bekannt waren; c) der Entscheid einer internationalen Behörde in der gleichen
Sache dies erfordert.

1.5 Die Vorinstanz hält zu Recht fest, dass der Beschwerdeführer keinen der in
Art. 248 aStP/SG vorgesehenen Wiederaufnahmegründe geltend macht. Ein
Wiederaufnahmegrund lässt sich entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
auch nicht direkt aus Bundesrecht ableiten. Art. 385 StGB verlangt für eine
Wiederaufnahme des Verfahrens neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel, die
dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren. Der
Beschwerdeführer bringt keine solchen Tatsachen oder Beweismittel vor. Die
Schweizerische Strafprozessordnung ist auf das vorliegende Verfahren nicht
anwendbar (oben E. 1.3). Die Bundesverfassung und die EMRK sehen keine über
Art. 248 aStP/SG hinausgehenden Wiederaufnahmegründe vor (in diesem Sinn
bereits das unveröffentlichte Urteil 6S.100/1997 vom 15. April 1997 E. 2). Im
Übrigen muss die Verletzung von Grundrechten klar und substantiiert begründet
werden (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 137 IV E. 4.2.3; 136 I E.
1.3.1; je mit Hinweisen), was der Beschwerdeführer unterlassen hat.
Bei dieser Ausgangslage kann offenbleiben, ob sich der Beschwerdeführer
rechtsmissbräuchlich verhält, indem er gegen das vorinstanzliche Urteil kein
Rechtsmittel erhoben hat, sondern sich mehr als ein Jahr später mittels
Revision dagegen zur Wehr setzt.

2.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang sind die
bundesgerichtlichen Kosten grundsätzlich dem Beschwerdeführer aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Er stellt indessen ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung, das gutzuheissen ist, da seine Bedürftigkeit
ausgewiesen scheint und die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist eine
angemessene Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten. Der
Beschwerdegegnerin ist keine Entschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. Dem
Beschwerdeführer wird Fürsprecher August Biedermann als unentgeltlicher
Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird eine Parteientschädigung von Fr.
3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Dezember 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller