Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.118/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_118/2012

Urteil vom 8. November 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiber Adamczyk.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Silvan Fahrni,
Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510
Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Schändung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts
des Kantons Thurgau vom 10. Oktober 2011.

Sachverhalt:

A.
An einem nicht mehr genau feststellbaren Tag im Zeitraum von April 2005 bis
April 2006 übernachtete Y.________ (geboren am xxx), eine Freundin der Tochter
von X.________, in dessen Wohnung in Zürich im Kinderzimmer. Weil sie über
Rückenschmerzen klagte, massierte X.________ das auf dem Bauch liegende Mädchen
vor dem Einschlafen während ungefähr 10 Minuten am Rücken respektive am Kreuz.
Zum Abschluss der Massage strich er Y.________ mit den Händen unter der
Pyjamahose etwa fünf- bis sechsmal über ihr Gesäss und die Oberschenkel.

B.
Das Bezirksgericht Frauenfeld sprach X.________ am 10. März 2011 wegen dieses
Vorfalls der sexuellen Handlung mit einem Kind und der Schändung sowie wegen
weiterer Vorkommnisse der mehrfachen (teilweise versuchten) sexuellen
Handlungen mit Kindern, der sexuellen Nötigung, der Schändung und der
mehrfachen Pornografie schuldig. Das Bezirksgericht verurteilte X.________ zu
einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten, unter Anrechnung von 58 Tagen
Untersuchungshaft. Es erklärte die Freiheitsstrafe im Umfang von 15 Monaten für
vollziehbar und gewährte X.________ für den Rest den bedingten Strafvollzug bei
einer Probezeit von fünf Jahren. Es verpflichtete ihn, sich während des
Strafvollzugs und der Probezeit einer ambulanten psychiatrischen Behandlung
gemäss den Anordnungen des Straf- und Massnahmenvollzugs zu unterziehen.

X.________ erhob Berufung beim Obergericht des Kantons Thurgau und beantragte,
er sei in Bezug auf den Vorfall mit Y.________ im Kinderzimmer seiner Wohnung
von den Vorwürfen der sexuellen Handlung mit einem Kind und der Schändung
freizusprechen. Er sei zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten zu
verurteilen bei einer Probezeit von fünf Jahren und zu verpflichten, sich
während der Probezeit einer ambulanten psychiatrischen Behandlung zu
unterziehen.
Das Obergericht des Kantons Thurgau wies am 10. Oktober 2011 die Berufung ab
und bestätigte das Urteil des Bezirksgerichts.

C.
Gegen das Urteil des Obergerichts führt X.________ Beschwerde in Strafsachen
und beantragt, er sei in Bezug auf den Vorfall mit Y.________ im Kinderzimmer
vom Vorwurf der Schändung freizusprechen. Der Beschwerde sei die aufschiebende
Wirkung zu erteilen.

D.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beziehungsweise die
Staatsanwaltschaft Frauenfeld verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das
Obergericht des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der Beschwerde und
verweist auf den angefochtenen Entscheid.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 191 StGB. Die Vorinstanz
bejahe zu Unrecht eine Widerstandsunfähigkeit.

1.1 Nach Art. 191 StGB macht sich der Schändung schuldig, wer eine
urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres
Zustandes zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder anderen sexuellen
Handlung missbraucht.

1.2 Als widerstandsunfähig gilt nach konstanter Rechtsprechung, wer nicht im
Stande ist, sich gegen ungewollte sexuelle Kontakte zu wehren. Art. 191 StGB
schützt Personen, die einen zur Abwehr ausreichenden Willen zum Widerstand
gegen sexuelle Übergriffe nicht oder nicht sinnvoll bilden, äussern oder
betätigen können. Dabei genügt, dass das Opfer vorübergehend zum Widerstand
unfähig ist. Die Gründe für die Widerstandsunfähigkeit können dauernder oder
vorübergehender, chronischer oder situationsbedingter Natur sein. Erforderlich
ist, dass die Widerstandsfähigkeit gänzlich aufgehoben ist (BGE 133 IV 49 E.
7.2 S. 56; 119 IV 230 E. 3a S. 232). Subjektiv ist vorsätzliches Handeln
erforderlich, wobei Eventualvorsatz genügt.

1.3 Die Vorinstanz geht mit der ersten Instanz davon aus, dass der vorliegende
Sachverhalt mit dem in BGE 133 IV 49 beurteilten Fall vergleichbar ist. Wie die
Geschädigte im genannten Entscheid - eine Patientin während einer
physiotherapeutischen Behandlung - habe Y.________ auf dem Bauch liegend eine
Massage am Rücken erwartet. Aufgrund dieser besonderen Körperlage sei es ihr
nicht möglich gewesen, den Übergriff des Beschwerdeführers rechtzeitig zu
erkennen. Sie sei widerstandsunfähig gewesen, weil sie sich gegen die
überraschende Massage am Gesäss und an den Oberschenkeln nicht habe zur Wehr
setzen können. Der Beschwerdeführer habe diese Wehrlosigkeit ausgenützt, indem
er dem Mädchen unter der Pyjamahose mit seinen Händen fünf- bis sechsmal über
das Gesäss und die Oberschenkel gefahren sei. Damit habe er den objektiven
Tatbestand von Art. 191 StGB erfüllt. Indem er die Widerstandsunfähigkeit der
sich in der Bauchlage befindenden Geschädigten erkannt und sich dennoch
entschlossen habe, das Kind in dieser Körperlage am Gesäss und an den
Oberschenkeln zu massieren, habe er vorsätzlich gehandelt (Entscheid, S. 11
f.).

1.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die ihm zur Last
gelegte Handlung in undifferenzierter Weise dem in BGE 133 IV 49 beurteilten
Sachverhalt gleichgesetzt, bei welchem tatsächlich ein Missbrauch von
Widerstandsunfähigkeit im Sinne von Art. 191 StGB vorliege. Der in jenem Fall
beschuldigte Physiotherapeut habe einer nackt auf dem Bauch liegenden Patientin
bei einer Massage mit einem oder zwei Fingern in die Vagina gegriffen, sich mit
seinem Oberkörper über die Patientin gelehnt und sie auf ihre linke Halsseite
geküsst. Die völlig überrumpelte Patientin habe sich während ein paar Sekunden
gegen die ungewollte sexuelle Handlung nicht zur Wehr setzen können. Würde man
der Ansicht der Vorinstanz im vorliegenden Fall folgen, wäre bei jeder
Berührung eines Masseurs etwas unterhalb des Steissbeins einer Patientin der
Tatbestand von Art. 191 StGB erfüllt. Auch wäre bei jedem Griff an das Gesäss
einer Frau, ob sie auf dem Bauch liege oder möglicherweise dem Täter nur den
Rücken zudrehe, nicht nur von einer sexuellen Belästigung, sondern sogleich von
einer Schändung auszugehen. Dies könne nicht richtig sein. Bezeichnenderweise
habe die erste Instanz den Vorfall, bei dem er der Geschädigten im Hallenbad
Altstetten von hinten an deren Brüste gegriffen haben solle, als er ihr beim
Zusammenbinden des Bikinioberteils geholfen habe, nicht zusätzlich zum Vorwurf
der sexuellen Handlung mit einem Kind auch noch als Schändung gewertet
(Beschwerde, S. 4 f.).

1.5 Die Geschädigte konnte aufgrund ihrer Bauchlage nicht erkennen, dass sich
der Beschwerdeführer gegen Ende der Massage am Rücken respektive am Kreuz dazu
anschickte, mit den Händen über ihr Gesäss und die Oberschenkel zu streichen.
Zudem war sie durch die Bauchlage in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich
eingeschränkt, wodurch eine rasche Reaktion auf den Übergriff des
Beschwerdeführers stark erschwert war. Schliesslich durfte sie aufgrund der
gesamten Umstände davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer sie lediglich am
Rücken beziehungsweise am Kreuz massieren würde. Unter diesen Gegebenheiten
waren die Möglichkeiten der Geschädigten, einen zur Abwehr der sexuellen
Handlungen ausreichenden Willen zum Widerstand zu betätigen, derart
eingeschränkt, dass eine vollständige Widerstandsunfähigkeit zu bejahen ist.
Dass diese nur eine vorübergehende war, ist unerheblich. Der Beschwerdeführer
nutzte die Widerstandsunfähigkeit aus. Damit ist der objektive Tatbestand von
Art. 191 StGB erfüllt. Der Beschwerdeführer erfüllte auch den subjektiven
Tatbestand, da er die sich aus den Umständen ergebende Widerstandsunfähigkeit
der Geschädigten erkannte und sich dennoch entschloss, diese durch die
inkriminierte Handlung auszunützen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist der vorliegende Fall
hinsichtlich der Widerstandsunfähigkeit mit dem in BGE 133 IV 49 beurteilten
Sachverhalt vergleichbar, befanden sich doch die Geschädigten aufgrund ihrer
Körperlage und des Vertrauens darauf, dass eine Massage nicht ihre sexuelle
Integrität tangieren würde, in ähnlicher Weise in einer Situation des
Ausgeliefertseins. Darin besteht ein Unterschied zur Konstellation, in welcher
der Beschwerdeführer der Geschädigten beim Zusammenbinden ihres Bikinioberteils
im Hallenbad an die Brüste fasste. Bei diesem Vorfall stand das
Überraschungsmoment im Vordergrund und nicht das Ausnützen einer vorbestehenden
Widerstandsunfähigkeit.

2.
Auf den Antrag des Beschwerdeführers, bei einer Veröffentlichung des
vorliegenden Entscheides seien die Namen der Parteien zu anonymisieren, ist
nicht weiter einzugehen, da das Bundesgericht praxisgemäss eine Anonymisierung
vornimmt (siehe Art. 27 Abs. 2 BGG). Soweit der Beschwerdeführer die
Anonymisierung der Rechtsvertreter beantragt, legt er ein rechtlich geschütztes
Interesse nicht dar. Darauf ist nicht einzutreten.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens sind die Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art.
66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. November 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Adamczyk