Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.542/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
5A_542/2012

Urteil vom 9. August 2012
II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichter L. Meyer, Marazzi,
Gerichtsschreiber Zbinden.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Remo Gilomen,
Beschwerdeführer,

gegen

Obergericht des Kantons Bern, Zivilabteilung, Rekurskommission für
fürsorgerische Freiheitsentziehungen, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001
Bern.

Gegenstand
fürsorgerische Freiheitsentziehung (Zuständigkeit),

Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Bern,
Zivilabteilung, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen, vom
10. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
A.a Mit Entscheid des Präsidenten der Einwohnergemeinde Q.________/OW vom 24.
Mai 2012 wurde X.________ (geb. 1991) in Anwendung von Art. 397a Abs. 1 ZGB mit
sofortiger Wirkung in die Psychiatrie A.________ eingewiesen (1). Die
Institution wurde dazu angehalten, dem Betroffenen die angemessene Behandlung
zukommen zu lassen (2). Schliesslich wurde eröffnet, dass über die Entlassung
oder einen allfälligen Wechsel der Klinik oder Institution die
Vormundschaftsbehörde befinde (3). Von diesem Entscheid hat der
Einwohnergemeinderat Q.________ mit Beschluss vom 4. Juni 2012 "Kenntnis
genommen".
A.b Am 5. Juni 2012 erhob X.________ "Einsprache" gegen die Einweisung, die das
Kantonsgerichtspräsidium Obwalden als Beschwerde behandelte und am 19. Juni
2012 abwies. X.________ hat diesen Entscheid am 19. Juli 2012 der
Rechtsmittelbelehrung entsprechend beim Obergericht des Kantons Obwalden
angefochten. Über den Ausgang dieses Beschwerdeverfahrens ist nichts bekannt.

B.
B.a Am 29. Juni 2012 verfügte Dr. med. Y.________, Oberarzt der Psychiatrie
A.________, einen "ärztlichen FFE". X.________ wurde daraufhin in die
Privatklinik B.________/BE eingewiesen, worauf er am 4. Juli 2012 bei der
ärztlichen Leitung dieser Einrichtung um Entlassung ersuchte. Auf den
abweisenden Entscheid der Einrichtung vom 5. Juli 2012 hin und in Nachachtung
der Rechtsmittelbelehrung gelangte X.________ am 9. Juli 2012 an das
Obergericht des Kantons Bern, Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen. Mit Verfügung vom 10. Juli 2012 leitete der Vorsitzende
dieses Gerichts die Eingabe wegen örtlicher Unzuständigkeit der Behörden des
Kantons Bern an das Kantonsgericht Obwalden weiter.
B.b Mit Entscheid vom 12. Juli 2012 trat das Kantonsgerichtspräsidium Obwalden
auf die Eingabe X.________s vom 9. Juli 2012 mangels örtlicher Zuständigkeit
nicht ein.
B.c X.________ (Beschwerdeführer) hat am 19. Juli 2012 (Postaufgabe) gegen die
ihm am 11. Juli 2012 zugestellte Verfügung des Vorsitzenden des Obergerichts
des Kantons Bern, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen,
beim Bundesgericht Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Er beantragt, die
angefochtene Verfügung sei aufzuheben und das Obergericht des Kantons Bern
anzuweisen, auf seinen Rekurs einzutreten. Des Weiteren ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

C.
Das Kantonsgerichtspräsidium Obwalden hat sich ohne ausdrücklichen Antrag
vernehmen lassen. Das Obergericht des Kantons Bern schliesst auf Abweisung der
Beschwerde.

Erwägungen:

1.
1.1 Angefochten ist eine kantonale Verfügung, mit der das Obergericht des
Kantons Bern auf einen Rekurs gegen eine Verweigerung der Entlassung aus der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung nicht eingetreten ist. Dabei handelt es
sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid, zumal damit das
Verfahren vor dem Obergericht abgeschlossen worden ist (Art. 75 Abs. 1 und Art.
90 BGG). Zudem beschlägt er die fürsorgerische Freiheitsentziehung, mithin eine
öffentlich-rechtliche Angelegenheit in unmittelbarem Zusammenhang mit dem
Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG), womit die Beschwerde in
Zivilsachen ohne Weiteres gegeben ist. Der Beschwerdeführer war als Partei am
kantonalen Verfahren beteiligt (Art. 76 Abs. 1 lit. a BGG); seinem Begehren um
Entlassung wurde nicht entsprochen, sodass er über ein schützenswertes
Interesse an der Beschwerde verfügt (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG). Auf die im
Übrigen fristgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 100 Abs. 1
BGG).

1.2 Der Entscheid des Kantonsgerichtspräsidiums Obwalden vom 12. Juli 2012 ist
nicht formell Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

2.
Das Obergericht hat erwogen, der Beschwerdeführer habe mit Fax-Schreiben vom 9.
Juli 2012 die gerichtliche Beurteilung der am 29. Juni 2012 verfügten
ärztlichen fürsorgerischen Freiheitsentziehung verlangt. Sein Wohnsitz befinde
sich im Kanton Obwalden, weshalb die dortigen Behörden in Anwendung von Art. 23
i.V.m. Art. 26, 397b und 397e Ziff. 3 ZGB zur Beurteilung des eigentlichen
Rechtsmittels örtlich zuständig seien.
Der Beschwerdeführer macht geltend, gemäss Art. 397b ZGB entscheide die
einweisende Behörde zwar auch über die Entlassung. Verlange der Betroffene,
entlassen zu werden, so habe - bei entsprechender Delegation durch die
einweisende Behörde - die Anstaltsleitung über das Gesuch zu befinden. Dieser
Praxis der Behörden des Kantons Obwalden sei zuzustimmen, da den Spitalärzten
nicht zugemutet werden könne, bei einem abweisenden Entscheid die für die
Behandlung des Rekurses zuständige Gerichtsinstanz zu eruieren. Das
Rechtsmittel sei in jenem Kanton einzureichen, in dem der Verfügungsakt
ergangen sei.
Das Kantonsgerichtspräsidium Obwalden verweist auf seine Praxis. Es macht
überdies geltend, bei einer Verantwortlichkeitsklage wegen widerrechtlichen
Freiheitsentzuges nach Art. 429a Abs. 2 ZGB seien die Gerichte desjenigen
Kantons zuständig, in welchem der Arzt die Entlassung abgelehnt hat, zumal
dieser Arzt als Verursacher des Schadens gelte. Das Obergericht des Kantons
Bern bestätigt seinen gegenteiligen Standpunkt.

3.
Im vorliegenden Fall ist strittig, wer zur Prüfung des Gesuchs des
Beschwerdeführers vom 4. Juli 2012 um Entlassung aus der Anstalt zuständig ist.
Im Folgenden wird erörtert, in wessen Kompetenzbereich die Anordnung der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung fällt und ob diese Massnahme von der
zuständigen Behörde angeordnet worden ist. In diesem Zusammenhang stellt sich
die Frage nach der Bedeutung der am 29. Juni 2012 verfügten "ärztlichen FFE".

4.
4.1 Nach Art. 397b Abs. 1 ZGB ist eine vormundschaftliche Behörde am Wohnsitz
des Betroffenen zur Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung
zuständig. Bei Gefahr im Verzug fällt die Anordnung überdies in den
Zuständigkeitsbereich einer vormundschaftlichen Behörde am Aufenthaltsort des
Betroffenen. Für Fälle, in denen Gefahr im Verzug liegt oder die Person
psychisch krank ist, können die Kantone diese Zuständigkeit ausserdem einer
andern geeigneten Stelle einräumen (Art. 397b Abs. 2 ZGB). Es gilt als
unbestritten, dass der Beschwerdeführer in Q.________, Kanton Obwalden,
Wohnsitz hat, womit Art. 397b Abs. 1 ZGB entsprechend eine vormundschaftliche
Behörde dieses Ortes für die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung
zuständig ist.

4.2 Gemäss Art. 1 der Ausführungsbestimmungen des Kantons Obwalden über die
fürsorgerische Freiheitsentziehung vom 16. Dezember 1980 ist der
Einwohnergemeinderat zuständige Behörde im Sinn von Art. 397b Abs. 1 ZGB. Er
ist Vormundschaftsbehörde (Art. 56 EGZGB/OW vom 30. April 1911; Art. 1 der
Ausführungsbestimmungen über die fürsorgerische Freiheitsentziehung vom 16.
Dezember 1980 [SR 870.511]). Gemäss Art. 74a des Gesetzes des Kantons Obwalden
über die Gerichtsorganisation vom 22. September 1996 (SR 134.1) ist das
Kantonsgerichtspräsidium zuständige Behörde für die gerichtliche Beurteilung
der Anordnung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Entscheide des
Kantonsgerichtspräsidiums können mit Beschwerde beim Obergericht angefochten
werden (Art. 74b GOG).

4.3 Im vorliegenden Fall hat der Gemeindepräsident der Einwohnergemeinde
Q.________/OW am 24. Mai 2012 in Anwendung von Art. 397a Abs. 1 ZGB die
fürsorgerische Freiheitsentziehung angeordnet; diese Massnahme wurde vom
Einwohnergemeinderat von Q.________ als zuständiger Vormundschaftsbehörde mit
Beschluss vom 4. Juni 2012 bestätigt (Sachverhalt A.a). Der Beschwerdeführer
hat diesen Beschluss am 5. Juni 2012 beim Kantonsgerichtspräsidium Obwalden
angefochten; die angerufene Instanz hat die Beschwerde am 19. Juni 2012
abgewiesen, worauf der Beschwerdeführer diesen Entscheid an das Obergericht des
Kantons Obwalden weiterzog. Über dessen Entscheid ist nichts bekannt. Damit ist
einmal klargestellt, dass das Obergericht des Kantons Bern im hier
angefochtenen Entscheid irrtümlicherweise angenommen hat, der Beschwerdeführer
habe um die gerichtliche Beurteilung der Anordnung der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung ersucht. Vor Obergericht hat er vielmehr die Verweigerung
der Entlassung gerügt.

4.4 Aufgrund dieser tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten besteht somit
eine durch die zuständige Vormundschaftsbehörde angeordnete fürsorgerische
Freiheitsentziehung, die zum Zeitpunkt der am 29. Juni 2012 verfügten
"ärztlichen FFE" nicht aufgehoben war. Damit aber bedurfte es keiner weiteren
Anordnung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung durch den Oberarzt der
Psychiatrie A.________, Dr. med. Y.________. Die von ihm als "ärztlicher FFE"
bezeichnete Verfügung war jedenfalls keine rechtsgültige Anordnung der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Bei dessen "Verfügung" kann es sich nur um
eine Überstellung in eine andere Anstalt handeln. Als Nächstes stellt sich
nunmehr die Frage, wer für die Behandlung des Entlassungsgesuchs örtlich
zuständig ist.

5.
5.1 Hat - wie hier - eine vormundschaftliche Behörde am Wohnsitz des
Betroffenen die fürsorgerische Freiheitsentziehung angeordnet, befindet auch
sie über die Entlassung (Art. 397b Abs. 3 ZGB Satz 1). In den anderen Fällen
entscheidet darüber die Anstalt (Art. 397b Abs. 3 letzter Satz). Örtlich
zuständig ist in der Regel die gleiche vormundschaftliche Behörde, welche die
Einweisung veranlasst hat (THOMAS GEISER, Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I,
4. Auflage 2010, N. 16 zu Art. 397b ZGB). Erfolgte die Einweisung durch eine
vormundschaftliche Behörde, ist die Anstalt, in der die Massnahme vollzogen
wird, nicht zur Entlassung befugt (GEISER, a.a.O., N. 17 zu Art. 397b ZGB).
Damit steht die Entlassungskompetenz dem Einwohnergemeinderat Q.________ zu,
womit die Behandlung des Entlassungsbegehrens ausschliesslich in seine
Zuständigkeit fällt.

5.2 Zwar lässt sich den Materialien entnehmen, dass die vormundschaftliche
Behörde in ihrem Einweisungsbeschluss die Befugnis zur Entlassung der Anstalt
übertragen kann (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches [Fürsorgerische Freiheitsentziehung] und den Rückzug des
Vorbehaltes zu Artikel 5 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 17. August 1977, BBl 1977 III 1/31 Ziff. 221.2. am Ende).
Im konkreten Fall kann indes dem Beschluss des Einwohnergemeinderates vom 4.
Juni 2012 keine Delegation der Entlassungskompetenz an die jeweilige Anstalt
entnommen werden. Vielmehr ergibt sich daraus gegenteilig, dass die
Vormundschaftsbehörde über die Entlassung aus der Anstalt befindet (Ziffer 3
des Dispositivs). Ist aber keine Delegation der Entlassungskompetenz
auszumachen, so sind im konkreten Fall die Behörden des Kantons Bern zur
Behandlung des Entlassungsgesuchs nicht zuständig. Liegt aber kein von der
zuständigen Behörde im Sinn von Art. 397b Abs. 1 und 3 gefällter Entscheid über
das Entlassungsgesuch vor, stellt sich die Frage der gerichtlichen Beurteilung
der Verweigerung der Entlassung nicht. Diese setzt vielmehr einen
entsprechenden von der zuständigen Behörde gefällten Entscheid über das
Entlassungsgesuch voraus.

6.
Bei dieser Sachlage hätte das Obergericht die Verfügung der ärztlichen Leitung
der Privatklinik B.________ vom 5. Juli 2012 aufheben und das Entlassungsgesuch
des Beschwerdeführers vom 4. Juli 2012 an die Behörden des Kantons Obwalden
überweisen sollen. In diesem Sinn muss die Beschwerde teilweise gutgeheissen
und die Verfügung der ärztlichen Leitung der Privatklinik B.________ aufgehoben
werden. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen.
Ob innerkantonal - wie vom Obergericht des Kantons Bern angenommen - das
Kantonsgericht Obwalden zur Behandlung des Entlassungsgesuchs zuständig ist
oder ob dieses den vorliegenden Entscheid in das möglicherweise vor Obergericht
des Kantons Obwalden noch hängige Beschwerdeverfahren einzubringen hat oder ob
das Gesuch zur erstinstanzlichen Behandlung an den Einwohnergemeinderat
Q.________ zu überweisen ist, hat das Kantonsgericht zu entscheiden.

7.
Den Umständen des konkreten Falles entsprechend werden keine Kosten erhoben
(Art. 66 Abs. 1 BGG).

8.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ist
gutzuheissen, zumal er bedürftig ist und sich die Sache nicht als von
vornherein aussichtslos erwiesen hat. Dem Beschwerdeführer ist ein amtlicher
Rechtsbeistand zu bestellen, der für seine Bemühungen aus der
Bundesgerichtskasse zu entschädigen ist (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Die Verfügung der ärztlichen
Leitung der Privatklinik B.________ vom 5. Juli 2012 wird aufgehoben und das
Entlassungsgesuch vom 4. Juli 2012 an das Kantonsgericht Obwalden weiter
geleitet. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird
gutgeheissen. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Remo Gilomen als amtlicher
Rechtsbeistand bestellt.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Rechtsanwalt Remo Gilomen wird aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr.
2'000.-- entrichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der ärztlichen Leitung der
Privatklinik B.________, dem Kantonsgericht Obwalden und dem Obergericht des
Kantons Bern, Zivilabteilung, Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. August 2012
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Hohl

Der Gerichtsschreiber: Zbinden