Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.247/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
4A_247/2012

Urteil vom 18. September 2012
I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
Bundesrichter Corboz,
Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch,
Gerichtsschreiber Kölz.

Verfahrensbeteiligte
X.________ Versicherung AG,
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Klett,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Haftung des Motorfahrzeughalters,

Beschwerde gegen das Vorurteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 19.
März 2012.

Sachverhalt:

A.
Am 26. Juni 2003 begab sich die Sekundarschulklasse 3A des Schulhauses
Y.________ unter der Führung des Lehrers B.________ auf die Abschlussreise. Die
Schulklasse mietete in Airolo Fahrräder, mit denen sie talabwärts in Richtung
Biasca fuhr. Zwischen Rodi Fiesso und Faido führt die Strasse nach einigen
hundert Metern in einen Tunnel und beschreibt (in Richtung talabwärts) eine
ausgedehnte Rechtskurve. In dieser Rechtskurve kam A.________ mit ihrem Fahrrad
über die Mittellinie hinaus und prallte auf der Gegenfahrbahn mit dem
entgegenkommenden Personenwagen von C.________, der Lenkerin und Halterin des
Wagens, zusammen. Dadurch wurde A.________ von ihrem Fahrrad geschleudert. Sie
erlitt dabei Verletzungen, die zu einer bleibenden Tetraplegie führten.

B.
Am 17. August 2009 klagte A.________ beim Handelsgericht des Kantons Zürich
gegen die X.________ Versicherung AG als Motorfahrzeughaftpflichtversicherung
des Personenwagens von C.________. Zusammengefasst verlangte sie unter
Nachklagevorbehalt, die X.________ Versicherung AG sei zu verurteilen, ihr
unter verschiedenen Titeln Schadenersatz sowie eine Genugtuung zu bezahlen. Die
X.________ Versicherung AG verkündete der T.________ Bike AG und der Gemeinde
Y.________ den Streit.

Auf Antrag der X.________ Versicherung AG und im Einverständnis mit A.________
wurde das Verfahren mit Präsidialverfügung vom 1. Oktober 2009 zunächst auf die
Frage der Haftung beschränkt.

Mit Vorurteil vom 19. März 2012 entschied das Handelsgericht, die X.________
Versicherung AG hafte gegenüber A.________ für den aus dem Unfall vom 26. Juni
2003 entstandenen Schaden.

C.
Die X.________ Versicherung AG (Beschwerdeführerin) beantragt mit Beschwerde in
Zivilsachen, das Vorurteil des Handelsgerichts sei aufzuheben und die Klage sei
abzuweisen. Zur Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen
Verfahrens sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei das
Vorurteil des Handelsgerichts aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.
A.________ (Beschwerdegegnerin) beantragt, auf die Beschwerde sei nicht
einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Ausserdem ersucht sie um
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das
bundesgerichtliche Verfahren. Die Vorinstanz liess sich nicht vernehmen.

Die Parteien reichten eine Replik und eine Duplik ein.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 137 III 417 E. 1; 136 II 101 E. 1, 470 E. 1).

1.1 Beim angefochtenen Vorurteil, das die Haftung der Beschwerdeführerin für
den aus dem Unfall vom 26. Juni 2003 entstandenen Schaden bejaht, handelt es
sich um einen selbständig eröffneten Vor- und Zwischenentscheid gemäss Art. 93
Abs. 1 BGG. Gegen einen solchen Entscheid ist die Beschwerde zulässig, wenn er
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a
BGG), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).
Die selbständige Anfechtbarkeit von Vor- und Zwischenentscheiden bildet aus
prozessökonomischen Gründen eine Ausnahme vom Grundsatz, dass sich das
Bundesgericht mit jeder Angelegenheit nur einmal befassen soll (BGE 134 III 188
E. 2.2; 133 III 629 E. 2.1 S. 631). Die Ausnahme ist restriktiv zu handhaben,
können Vor- und Zwischenentscheide doch durch Beschwerde gegen den Endentscheid
angefochten werden, soweit sie sich auf dessen Inhalt auswirken (Art. 93 Abs. 3
BGG).

Die Anwendung von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG setzt voraus, dass das
Bundesgericht, sollte es der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers folgen,
selbst einen Endentscheid fällen könnte und die Angelegenheit nicht an die
Vorinstanz zurückweisen müsste (BGE 134 III 426 E. 1.3.2; 133 III 634 E. 1.1 S.
636; 132 III 785 E. 4; je mit Hinweisen).

Es obliegt dem Beschwerdeführer, darzutun, dass die Voraussetzungen von Art. 93
BGG erfüllt sind, soweit deren Vorliegen nicht ohne weiteres in die Augen
springt (BGE 134 III 426 E. 1.2 in fine S. 429; 133 III 629 E. 2.3.1 und
2.4.2). Macht der Beschwerdeführer geltend, die Voraussetzungen von Art. 93
Abs. 1 lit. b BGG seien erfüllt, ist zu differenzieren: Geht bereits aus dem
angefochtenen Urteil oder der Natur der Sache hervor, dass ein bedeutender
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren erforderlich
sein wird, darf auf lange Ausführungen verzichtet werden. Andernfalls hat der
Beschwerdeführer im Einzelnen darzutun, welche Tatfragen offen sind und welche
weitläufigen Beweiserhebungen in welchem zeitlichen oder kostenmässigen Umfang
erforderlich sind. Zudem hat er unter Aktenhinweisen darzulegen, dass er die
betreffenden Beweise im kantonalen Verfahren bereits angerufen oder
entsprechende Anträge in Aussicht gestellt hat (BGE 133 IV 288 E. 3.2; 118 II
91 E. 1a S. 92; Urteil 4A_172/2011 vom 28. Juni 2011 E. 2.1).

1.2 Die Beschwerdeführerin stützt ihre Beschwerde auf Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG
und begründet die Zulässigkeit der selbständigen Anfechtung des Vorurteils
damit, dass, sollte der Prozess weitergeführt werden, sowohl die Frage der
Haftungsquote als auch die Fragen des Schadenquantitativums und der Kausalität
der Unfallfolgen umfassend abzuklären und zu beurteilen wären. Demgegenüber
würde eine Gutheissung der Beschwerde nach Auffassung der Beschwerdeführerin
eine sofortige Beendigung des Rechtsstreits bewirken, d.h. sofort einen
Endentscheid herbeiführen, und ein ausgedehntes Beweisverfahren vermeiden sowie
beachtliche Zeit und erheblichen Aufwand ersparen.

Die Beschwerdeführerin erläutert in der Beschwerdeschrift nicht näher,
inwiefern die Verneinung der Haftung ein Beweisverfahren entbehrlich machen und
dadurch beachtliche Zeit oder Kosten ersparen würde. Allerdings erscheint diese
Folge angesichts der Komplexität der geltend gemachten Haftpflichtansprüche als
naheliegend (vgl. Urteil 4A_270/2011 vom 9. August 2011 E. 1.1; 4C.268/2004 vom
4. Oktober 2004 E. 1, nicht publ. in: BGE 131 III 115). Überdies ist der
Beschwerdeführerin zugute zu halten, dass es ihr als Beklagter im
vorinstanzlichen Verfahren aufgrund der Beschränkung des Prozessthemas auf die
Frage der Haftung kaum möglich sein dürfte, unter Aktenhinweisen entsprechende
Beweisanträge zu belegen.

1.3 Unabhängig davon ist vorliegend zu prüfen, ob, wie es Art. 93 Abs. 1 lit. b
BGG verlangt, die Gutheissung der Beschwerde eine sofortige Beendigung des
Rechtsstreits bewirken kann, mit anderen Worten das Bundesgericht bei
Gutheissung der Beschwerde selber in der Lage wäre, materiell zu entscheiden.
Die Beschwerdegegnerin stellt dies in Abrede.

Die Vorinstanz erwog, da das Verfahren auf die Frage der Haftung beschränkt
worden sei, müsse untersucht werden, ob die grundsätzlichen Voraussetzungen für
eine Haftung des Motorfahrzeughalters gegeben seien. Anschliessend stelle sich
die Frage, ob sich die Beschwerdeführerin von einer solchen präsumtiv
bestehenden Haftung befreien könne, wofür sie insbesondere nachzuweisen habe,
dass der Unfall auf ein grobes Selbst- und/oder Drittverschulden zurückzuführen
sei, während C.________ als Halterin/Lenkerin des Fahrzeugs kein Verschulden
treffe und keine fehlerhafte Beschaffenheit des Fahrzeugs zum Unfall
beigetragen habe. Sie prüfte und bejahte in der Folge die grundsätzlichen
Voraussetzungen für eine Haftung nach Art. 58 Abs. 1 des
Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 1958 (SR 741.01; SVG). Weiter
verneinte sie die Haftungsbefreiung nach Art. 59 Abs. 1 SVG mit der Begründung,
weder könne der Beschwerdegegnerin grobes Selbstverschulden zur Last gelegt
werden noch sei im Verhalten des Lehrers B.________ grobes Drittverschulden zu
erblicken. Sie schloss, bei dieser Sachlage könne dahingestellt bleiben, ob
C.________ ein Verschulden treffe und die Beschaffenheit des Fahrzeugs zum
Unfall beigetragen habe.

Somit hat die Vorinstanz, wie die Beschwerdegegnerin zu Recht einwendet, nicht
über sämtliche Voraussetzungen von Art. 59 Abs. 1 SVG entschieden. Sollte das
Bundesgericht im Gegensatz zum Handelsgericht der Auffassung der
Beschwerdeführerin folgen, dass der Unfall durch grobes Verschulden der
Beschwerdegegnerin oder eines Dritten verursacht wurde, und die Beschwerde aus
diesem Grund gutheissen, müsste zunächst jedenfalls beurteilt werden, ob
C.________ ein Verschulden am Unfall trifft.

1.4 Inwiefern das Bundesgericht unter diesen Umständen im Falle der Gutheissung
der Beschwerde selber einen Endentscheid fällen könnte und somit die
Gutheissung sofort einen solchen herbeiführen würde, vermag die
Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen: Sie beantragt zwar, das Bundesgericht
habe die Klage abzuweisen, also gestützt auf Art. 107 Abs. 2 BGG einen
Endentscheid zu fällen. Nach einer (rechtsgenüglichen) Begründung dieses
Antrags sucht man allerdings vergebens. In der Beschwerdeschrift findet sich
lediglich die weiter nicht begründete Behauptung, die Beschwerde würde im Fall
der Gutheissung sofort einen Endentscheid herbeiführen. Replicando erläutert
die Beschwerdeführerin dann zwar ausführlich, weshalb es ihrer Auffassung nach
prozessökonomisch wäre, auf die Beschwerde einzutreten; sie räumt jedoch
gleichzeitig selber ein, dass sich die Vorinstanz nicht über sämtliche
Voraussetzungen einer Haftungsbefreiung nach Art. 59 Abs. 1 SVG geäussert habe,
obwohl die Parteien die entsprechenden Ausführungen getätigt und Beweismittel
offeriert hätten. Sie zeigt nicht auf, gestützt auf welche festgestellten
Sachverhaltselemente das Bundesgericht bereits heute und ohne Rückweisung an
die Vorinstanz über das Verschulden von C.________ entscheiden könnte.

Solches ist auch nicht ersichtlich: Ob der Unfall für C.________ vermeidbar
gewesen wäre, wenn sie sich aufmerksam verhalten und umgehend gebremst hätte,
und ob sie somit ein Verschulden daran trifft, war im vorinstanzlichen
Verfahren umstritten. Die Vorinstanz prüfte zwar eingehend, ob der Unfall durch
den Betrieb eines Motorfahrzeugs verursacht wurde und stellte dabei unter
anderem fest, dass das Fahrzeug vor der Tunneleinfahrt noch 40 bis 50 km/h
schnell gefahren sei. Ob aber C.________ die Geschwindigkeit - wie von der
Beschwerdeführerin behauptet - noch am Tunnelanfang kurzzeitig reduzierte, und
ob der Personenwagen sogar vor der Kollision infolge des unstreitig
eingeleiteten Bremsmanövers noch kurz zum Stillstand gekommen war, liess sie
demgegenüber ausdrücklich offen. Es steht somit nicht fest, in welchem
Zeitpunkt C.________ genau abgebremst hat und wo das Fahrzeug zum Stillstand
gekommen ist.

Aufgrund dieser fehlenden vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung könnte das
Bundesgericht im Falle der Gutheissung der Beschwerde nicht beurteilen, ob
C.________ ein Verschulden am Unfall trifft. Es müsste die Sache vielmehr zur
Beurteilung dieser Frage an die Vorinstanz zurückweisen.

1.5 Entsprechendes gilt im Übrigen auch für die Rüge der Beschwerdeführerin,
die Vorinstanz habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und das Willkürverbot
verletzt, indem sie die Relevanz der vom Personenwagen gesetzten Betriebsgefahr
für den Unfall bejaht habe. Die Beschwerdeführerin beanstandet konkret die -
für die Beurteilung dieser Haftungsvoraussetzung erhebliche - vorinstanzliche
Annahme, dass sich die Kollision nicht so zugetragen hätte, wenn es sich statt
des Motorfahrzeugs um eine tote Masse wie einen Stein oder ein sonstiges
stehendes Hindernis gehandelt hätte. Sie rügt, die Vorinstanz habe in
bundesrechtswidriger Weise auf die Abnahme von hierzu offerierten Beweismitteln
(Gerichtsgutachten, Zeugenaussagen) verzichtet. Aus den angebotenen
Beweismitteln ergebe sich nämlich, dass das Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision
stillgestanden habe oder höchstens sehr langsam gefahren sei.

Auf welcher Grundlage das Bundesgericht, falls es diese Gehörs- und Willkürrüge
für zulässig und begründet erachten sollte, unter diesen Umständen selber einen
materiellen Entscheid fällen könnte, wird in der Beschwerde indessen nicht
dargetan und ist auch nicht erkennbar. Die Vorinstanz hielt es ohnehin nicht
für entscheidend, ob sich das Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision noch bewegte
oder ob es stillstand, da es sich mindestens zuvor der Beschwerdegegnerin mit
erheblicher Geschwindigkeit genähert und ihr "durch die auf seine Masse
angewendete Motorenkraft und den dadurch entstehenden Bremsweg im Vergleich zu
einem stillstehenden Hindernis Zeit und Raum zum Ausweichen oder zum Reduzieren
der eigenen Geschwindigkeit" genommen habe. Die Ausführungen der
Beschwerdeführerin gehen daher weitgehend an der Sache vorbei. Jedenfalls wäre
das Verfahren aber auch bei Gutheissung der Beschwerde in diesem Punkt zur
Durchführung eines Beweisverfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eine
sofortige Erledigung durch Endentscheid ist folglich auch unter diesem
Gesichtswinkel nicht möglich (vgl. CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, 2009, N.
22 und 24 zu Art. 93 BGG).

1.6 Nach dem Gesagten sind die Voraussetzungen für die selbständige Anfechtung
des Vor- und Zwischenentscheids gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG nicht gegeben.
Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten.

2.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kosten- und
entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG). Dem geringen
Aufwand des Gerichts wird durch eine reduzierte Gerichtsgebühr Rechnung
getragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 20'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Zürich
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. September 2012

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Klett

Der Gerichtsschreiber: Kölz