Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.223/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
4A_223/2012

Urteil vom 20. August 2012
I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch,
Bundesrichter Kolly,
Gerichtsschreiber Luczak.

Verfahrensbeteiligte
X.________ AG,
Beschwerdeführerin,

gegen

Y.________, 8645 Jona,
vertreten durch Rechtsanwalt Roland Hochreutener,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankentaggeld,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen, Abteilung III, vom 24. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
Y.________ (Beschwerdegegnerin) war bei der X.________ AG (Beschwerdeführerin)
für ihre Tätigkeit als Pflegehelferin im Rahmen einer
Kollektiv-Krankentaggeldversicherung nach VVG für ein Taggeld von 80 % des
versicherten Lohnes versichert. Da seit dem 13. August 2009 wegen eines
Rückenleidens eine volle Arbeitsunfähigkeit bestand, richtete die
Beschwerdeführerin Krankentaggelder aus. Am 25. Mai 2010 eröffnete sie der
Beschwerdegegnerin, es sei nicht davon auszugehen, dass diese in ihrem
angestammten Beruf als Pflegehelferin eine 100%ige Arbeitsfähigkeit erlangen
werde. Im Rahmen einer leidensangepassten Tätigkeit sei eine 100%ige
Arbeitsleistung aber möglich und zumutbar. Die Beschwerdegegnerin sei aufgrund
ihrer Pflicht zur Schadensminderung gehalten, innert nützlicher Frist auf einem
anderen Erwerbszweig eine Arbeit zu suchen und anzunehmen.

B.
Nachdem sich die Beschwerdeführerin in einem vor dem Vermittleramt See am 22.
Juli 2010 geschlossenen Vergleich verpflichtet hatte, für die Zeit vom 1. April
bis 31. August 2010 Taggeldzahlungen zu erbringen (die Beschwerdegegnerin
behielt ihr Nachklagerecht vor) und mit Schreiben vom 30. Dezember 2010 ihre
Leistungspflicht für einen Spitalaufenthalt vom 8. bis zum 26. November 2010
anerkannt hatte, reichte die Beschwerdegegnerin am 24. Mai 2011 Klage ein und
verlangte Fr. 23'222.70 brutto abzüglich Quellensteuer vom 1. September 2010
bis 7. November 2010 sowie vom 27. November 2010 bis 28. Februar 2011 nebst
Zins unter Vorbehalt des Nachklagerechts. Am 24. Februar 2012 hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Klage in dem Sinne gut, dass es
die Beschwerdeführerin verpflichtete, für die Zeit vom 1. September 2010 bis 7.
November 2010 und vom 27. November 2010 bis 28. Februar 2011 Taggeldleistungen
auf der Basis einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % zuzüglich Zins auszurichten.

C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin dem
Bundesgericht, den Entscheid des Versicherungsgerichts aufzuheben und die Sache
an dieses zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Die Beschwerdegegnerin schliesst
auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde, soweit überhaupt darauf einzutreten
ist. Zudem sucht sie für das Verfahren vor Bundesgericht wie schon im
kantonalen Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege nach. Das
Versicherungsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat die Streitsache als einzige kantonale Instanz nach Art. 7
ZPO entschieden. Damit ist die Beschwerde in Zivilsachen unabhängig vom
Streitwert zulässig (Art. 74 Abs. 2 lit b BGG). Soweit die Beschwerdeführerin
allerdings unter Angabe von Beweismitteln den Sachverhalt schildert, verkennt
sie, dass das Bundesgericht die Sachverhaltsfeststellung im angefochtenen
Entscheid nur berichtigen und ergänzen kann, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
BGG), was eine entsprechende, hinreichend begründete Rüge voraussetzt (Art. 97
Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 254
f.; 133 III 462 E. 2.4 S. 466 f.).

2.
Die Vorinstanz ging in Würdigung der Akten, insbesondere eines Gutachtens,
davon aus, der Beschwerdegegnerin sei die Ausübung einer angepassten Tätigkeit
im Umfang von 80 % seit dem 26. November 2010 zumutbar. Unter Berücksichtigung
des bei einer leidensadaptierten Tätigkeit erzielbaren Einkommens verbleibe
eine Arbeitsunfähigkeit von 36 % ab dem 26. November 2010. Jedoch sei der
Beschwerdegegnerin jedenfalls bis Ende Februar 2011 eine Anpassungsfrist zur
Stellensuche und Neuorientierung einzuräumen, weshalb bis zu diesem Zeitpunkt
gestützt auf die volle Arbeitsunfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit Anspruch
auf die vollen Taggeldleistungen bestehe.

2.1 Die von der Beschwerdeführerin behauptete 100%ige Arbeitsfähigkeit in einer
angepassten Tätigkeit erachtete die Vorinstanz nicht für nachgewiesen. Sie
stützte sich dabei auf das Gutachten, welches interdisziplinär eine somatisch/
psychiatrisch begründete Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 20 %
bescheinigt hatte. Der Einwand der Beschwerdeführerin, eine diagnostizierte
anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche begründe nach der
Rechtsprechung (BGE 130 V 352) noch keine Invalidität, sei unbehelflich, da
konkret einzig die Frage der Arbeitsfähigkeit zur Diskussion stehe. Eine
analoge Anwendung der von der Beschwerdeführerin zitierten Rechtsprechung
erscheine schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil diese auf mehrjährige
chronifizierte Krankheitsverläufe und dauerhafte Einschränkungen (Invalidität)
zugeschnitten sei und nicht auf solche für einen begrenzten Zeitraum
(Arbeitsunfähigkeit) bzw. auf Versicherungsleistungen mit zum vornherein
begrenzter Dauer. Die Frage der Überwindbarkeit einer Einschränkung im Sinne
dieser Rechtsprechung stehe mithin nicht zur Debatte.

2.2 Die Beschwerdeführerin beanstandet, die Vorinstanz übersehe, dass das
Bundesgericht in seinem Urteil 4A_5/2011 vom 24. März 2011 E. 4.3.2.1
ausdrücklich festgehalten habe, dass die in BGE 130 V 352 begründete
Rechtsprechung zum Einfluss einer somatoformen Schmerzstörung auf die
Arbeitsunfähigkeit auch beizuziehen sei, wenn Krankentaggelder nach VVG zu
beurteilen seien. Die Krankentaggeldversicherung habe sich im Rahmen der
Schadenminderung nicht auf die Arbeitsunfähigkeit, sondern auf die
Erwerbsunfähigkeit abzustützen, womit sich eine ungleiche Anwendung der
Rechtsprechung nicht rechtfertige. Gemäss dem Gutachten sei die diagnostizierte
somatoforme Schmerzstörung überwindbar. Damit stehe fest, dass die
Beschwerdegegnerin aus somatischer Sicht in einer leidensangepassten Tätigkeit
zu 100 % arbeitsfähig sei. Ebenso stellten soziokulturelle und psychosoziale
Einflüsse invaliditätsfremde Gründe dar, die nach Art. 7 Abs. 2 ATSG ausser
Acht zu bleiben hätten. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, die
Vorinstanz hätte das Gutachten mit Bezug auf die Überwindbarkeit würdigen und
diesen Aspekt bei der Entscheidfindung berücksichtigen müssen.

2.3 Die Beschwerdegegnerin macht dagegen geltend, eine pauschale Anwendung der
Überwindbarkeitspraxis sei im von der Beschwerdeführerin zitierten
Bundesgerichtsurteil 4A_5/2011 nicht postuliert und schon gar nicht begründet
worden. Insoweit komme dem Entscheid keine praxisbegründende Bedeutung zu.
Demgegenüber habe sich das Bundesgericht in einer publizierten Entscheidung (
BGE 137 V 199 E. 2.2.2.1) ausdrücklich gegen eine analoge Anwendung der Praxis
auf kurzfristige Leistungen wie Heilbehandlungen und (UVG)-Taggelder
ausgesprochen.

2.4 Auf die von den Parteien aufgeworfene Frage braucht nicht eingegangen zu
werden. Die Vorinstanz ging davon aus, für die Zeitspanne, für welche
Leistungen eingeklagt wurden, bestehe lediglich eine Arbeitsunfähigkeit von 36
%. Sie sprach dennoch die vollen Taggeldleistungen zu, um der
Beschwerdegegnerin eine Frist zur Stellensuche und Neuorientierung einzuräumen,
jedenfalls bis Ende Februar 2011. Dass der angefochtene Entscheid mit Bezug auf
die Anpassungsfrist Bundesrecht verletzt, wird in der Beschwerde nicht
rechtsgenüglich dargelegt (Art. 42 Abs. 2 BGG), so dass er insoweit nicht zu
überprüfen ist (BGE 135 III 397 E. 1.4 S. 400; 134 III 102 E. 1.1 S. 105).
Selbst wenn die Beschwerdegegnerin ihr Leiden überwinden könnte und dies bei
der Festsetzung der für die Leistungen massgebenden Arbeits- bzw.
Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen wäre, vermöchte dies die Anpassungsfrist
zur Stellensuche und Neuorientierung nicht zu verkürzen, zumal die
Beschwerdegegnerin diesfalls nicht nur eine angepasste Stelle suchen, sondern
zusätzlich noch die Schmerzproblematik überwinden müsste. Die Frage der
Überwindbarkeit bleibt mithin ohne Einfluss auf das Dispositiv des
angefochtenen Entscheides. Da nur dieses in Rechtskraft erwächst, würde die
Beschwerde auf einen blossen Streit über Entscheidungsgründe hinauslaufen, die
für sich allein keine Beschwer bedeuten (vgl. BGE 111 II 398 E. 2b S. 400 mit
Hinweis). Daran besteht kein Rechtsschutzinteresse (Art. 76 Abs. 1 lit b BGG).

3.
Auf die Beschwerde ist mangels Rechtsschutzinteresses nicht einzutreten. Damit
kann offen bleiben, ob der blosse Rückweisungsantrag überhaupt genügt, was nur
der Fall wäre, wenn das Bundesgericht die Sache, sollte es der Auffassung der
Beschwerdeführerin folgen, nicht selbst entscheiden könnte (BGE 133 III 489 E.
3.1 mit Hinweisen). Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die
Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig. Da nicht von der
Uneinbringlichkeit der Parteientschädigung auszugehen ist, wird das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, Abteilung III, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. August 2012

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Klett

Der Gerichtsschreiber: Luczak