Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.171/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
4A_171/2012

Urteil vom 25. Juni 2012
I. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
Bundesrichter Corboz, Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiber Kölz.

Verfahrensbeteiligte
G.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Beschwerdeführer,

gegen

Versicherung X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Aschwanden-Lichti,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Haftung des Motorfahrzeughalters,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, vom 12. März 2012.

Sachverhalt:

A.
G.________ (Beschwerdeführer), geboren 1975, erlitt am 12. September 2003 als
angegurteter Beifahrer einen Autounfall. Der Personenwagen, in dem er sass,
hatte vor einer Ampel angehalten, worauf der nachfolgende Personenwagen in das
Heck auffuhr. Haftpflichtversicherung des Halters des den Unfall verursachenden
Personenwagens war die Versicherung X.________ AG (Beschwerdegegnerin).

B.
Mit Klage vom 6. November 2009 beantragte der Beschwerdeführer dem
Bezirksgericht Zürich, die Beschwerdegegnerin habe ihm aus der
Haftpflichtversicherung Fr. 434'472.15, ferner aus der Insassenversicherung ein
Invaliditätskapital von Fr. 12'000.--, gesamthaft Fr. 446'472.15 zuzüglich Zins
zu 5 % seit dem 1. Mai 2010 zu bezahlen. Zur Begründung gab er an, er habe sich
beim genannten Verkehrsunfall Verletzungen (HWS-Distorsionstrauma) zugezogen,
die heute noch Auswirkungen zeitigten und zu einer dauernden Arbeitsunfähigkeit
im Umfang von 20 % geführt hätten. Er macht Erwerbsausfallschaden, Genugtuung,
Haushaltschaden, Selbstbehalt- und Franchisekosten sowie vorprozessuale
Anwaltskosten geltend. Mit Urteil vom 18. Oktober 2010 wies das Bezirksgericht
die Klage ab.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung beim Obergericht des Kantons
Zürich, das die Klage am 12. März 2012 ebenfalls abwies. Das Obergericht
bestätigte die erstinstanzliche Annahme, dass die unfallbedingte dauerhafte
Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers unter 10 % liege.
Wie schon das Bezirksgericht verneinte auch das Obergericht weiter den
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den heutigen Beschwerden
des Beschwerdeführers.

C.
Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben. Die Beschwerdegegnerin habe dem Beschwerdeführer als
Motorfahrzeughaftpflichtversicherer des Unfallereignisses vom 12. September
2003 Fr. 434'472.15, aus der Insassenversicherung ein Invaliditätskapital von
Fr. 12'000.--, gesamthaft Fr. 446'472.15 zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 1. Mai
2010 zu bezahlen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz bzw. an das Bezirksgericht zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde abzuweisen, das Urteil des
Obergerichts zu bestätigen und die Klage abzuweisen. Eventualiter sei die Sache
zur Beurteilung des haftpflichtrechtlichen Schadens und der Ansprüche aus der
Insassenversicherung an die Vorinstanz bzw. an das Bezirksgericht
zurückzuweisen. Die Vorinstanz verzichtete auf eine Vernehmlassung.

Der Beschwerdeführer replizierte auf die Antwort der Beschwerdegegnerin mit
einem kurzen Hinweis.

D.
Mit Präsidialverfügung vom 18. April 2012 wurde der Beschwerdeführer
aufgefordert, als Sicherstellung einer allfälligen Parteientschädigung an die
Beschwerdegegnerin Fr. 8'500.-- zu hinterlegen. Der Betrag ging in der Folge
bei der Bundesgerichtskasse ein.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz vor, den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig festgestellt zu haben, indem sie annahm, dass sich die
nicht unfallkausalen Beschwerden im linken Oberkiefer direkt auf die
gutachterlich ermittelte Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers auswirkten, und
indem sie deshalb von einer unfallbedingten dauerhaften Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit von weniger als 10 % ausging. Dafür fänden sich in den
ZMB-Gutachten keine Stütze. Die Gutachter hätten dem Beschwerdeführer eine
20%ige unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit attestiert, weshalb davon auszugehen
sei, dass allfällige Auswirkungen der nicht auf den Unfall zurückgeführten
Oberkieferbeschwerden in den Ergebnissen nicht berücksichtigt seien. Von dieser
gutachterlichen Einschätzung sei die Vorinstanz ohne Grund und damit in
willkürlicher Weise abgewichen.

1.2 Zur Abklärung des medizinischen Sachverhalts lagen der Vorinstanz u.a. zwei
Gutachten vom 10. November 2005 bzw. vom 27. November 2007 des Zentrums für
Medizinische Begutachtung, Medizinische Abklärungsstelle der eidg.
Invalidenversicherung (ZMB) vor. Von den Parteien wird nicht bestritten, dass
darauf abzustellen ist.

Die Vorinstanz erwog dazu mit der Erstinstanz, es sei davon auszugehen, dass
sich der Beschwerdeführer beim Unfall vom 12. September 2003 ein
Distorsionstrauma der Halswirbelsäule zugezogen habe. Er beklage dafür ein
typisches Beschwerdebild. So sei die Rotation der HWS linksseitig leicht
eingeschränkt, wobei die klinischen Befunde im Nacken- und
Schultergürtelbereich links aber als diskret zu beurteilen seien und keiner
weiteren medizinischen Behandlung bedürften. Diese gesundheitliche
Beeinträchtigung sei überwiegend wahrscheinlich auf den Unfall zurückzuführen
und beeinflusse die Arbeitsfähigkeit. Die gemäss den Angaben des
Beschwerdeführers eher akzentuiert erscheinenden Beschwerden im Bereich des
linken Oberkiefers liessen eine neuropathische Genese (nervenleidender
Ursprung) vermuten, wobei die Ursache hierfür aber unklar bleibe. Damit sei
insofern der Beweis der natürlichen Kausalität nicht erbracht. Diese
Beschwerden beeinflussten indes die Arbeitsfähigkeit. Die beklagten psychischen
Störungen seien unfallfremd und ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Die von
den Gutachtern attestierte Arbeitsunfähigkeit im Umfang von 20 % werde
beeinflusst einerseits durch die unfallbedingte diskrete und nicht weiter
behandlungsbedürftige Nacken- und Schultergürtelproblematik sowie andererseits
durch die weiterhin behandlungsbedürftigen, jedoch nicht kausal auf den Unfall
zurückzuführenden Oberkieferbeschwerden. Letztere stünden gemäss den Angaben
des Beschwerdeführers im Vordergrund und dürften daher einen mehr als nur
hälftigen Anteil am negativen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit haben. Es sei
daher von einer unfallbedingten dauerhaften Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
von weniger als 10 % auszugehen.

1.3 Entgegen der Kritik des Beschwerdeführers kann sich diese Beurteilung auf
die ZMB-Gutachten stützen. Die von den Gutachtern vorgenommene Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit erfolgte in beiden Gutachten unter Berücksichtigung des
gesamten Beschwerdebildes, d.h. der Problematik im Nacken-/Schulterbereich und
der Oberkieferschmerzen. Im ersten Gutachten vom 10. November 2005 wird dies
explizit erwähnt. Aber auch das zweite Gutachten vom 27. November 2007 kann
nicht anders verstanden werden. So wird die Frage bei Ziffer 6.2.2 nach der
Arbeitsfähigkeit "unter Berücksichtigung des Beschwerdebildes gemäss Gutachten
vom 10. November 2005 Punkt 6.3.1 und 6.3.2" mit 20 % beantwortet. Unter Punkt
6.3.1 des Gutachtens vom 10. November 2005 wird auf die unter Punkt 6.1.2
beschriebenen Beschwerden verwiesen. Unter diesen figurieren aber auch die
Beschwerden im Bereich des Oberkiefers. Die gutachterliche Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit erfolgte demnach unter Einbezug der Beschwerden im Bereich des
Oberkiefers, womit klar wird, dass die Ergebnisse auch die Auswirkungen der
Oberkieferbeschwerden beinhalten. Die Vorinstanz kann sich demnach für ihre
diesbezügliche Annahme auf die Gutachten stützen und stellte den medizinischen
Sachverhalt nicht willkürlich fest.
Im Gegensatz zum ersten Gutachten wurden im zweiten Gutachten die
Oberkieferschmerzen aber klarerweise nicht als unfallbedingt bezeichnet. Dies
anerkennt der Beschwerdeführer denn auch. Deren Anteil an der Auswirkung auf
die Arbeitsfähigkeit fällt demnach weg. Da aber der Beschwerdeführer selbst die
Oberkieferschmerzen stets in den Vordergrund stellte und diese überwiegend
stärker als die Nackenbeschwerden beklagte, ist es keineswegs willkürlich,
sondern vielmehr folgerichtig, wenn die Vorinstanz, ausgehend von einer 20%igen
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufgrund des gesamten Beschwerdebildes, auf
eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit von weniger als 10 % schloss. Die
Beschwerde ist in diesem Punkt unbegründet.

2.
Eine weitere Rüge betrifft die Adäquanzbeurteilung.

2.1 Die Vorinstanz gab zunächst die Umschreibung der Adäquanz wieder, die im
Haftpflichtrecht und im Sozialversicherungsrecht gleich ausfalle. Sie nahm
sodann die konkrete Beurteilung anhand der im Sozialversicherungsrecht
begründeten Rechtsprechung zur sog. "Schleudertrauma-Praxis" vor (BGE 134 V 109
; 117 V 359). Dabei stufte sie den Auffahrunfall vom 12. September 2003 als
mittelschweres, im Grenzbereich zu den leichten Fällen liegendes Ereignis ein.
Sie vermochte keines der gegebenenfalls in die Gesamtwürdigung einzubeziehenden
adäquanzrelevanten Kriterien auszumachen. Schliesslich hielt sie dafür, aus
spezifisch haftpflichtrechtlicher Sicht ergäben sich keine weiteren oder
anderen Kriterien, die zu beachten wären und zu einer anderen Beurteilung
führten. Sie verneinte daher die Adäquanz.

2.2 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem
sie die Adäquanz nach sozialversicherungsrechtlichen Kriterien beurteilt habe.
In Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Adäquanz im
Haftpflichtrecht sei der adäquate Kausalzusammenhang zu bejahen.

2.3 Sowohl im Haftpflicht- als auch im Sozialversicherungsrecht ist von
derselben Umschreibung der Adäquanz auszugehen. Danach hat ein Ereignis als
adäquate Ursache eines Erfolgs zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen
Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt des Erfolges
also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 123 III 110 E.
3a). Die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs bedarf richterlicher
Wertung, die gemäss Art. 4 ZGB nach Recht und Billigkeit vorzunehmen ist. Dabei
ist auch der rechtspolitischen Zielsetzung der im konkreten Fall anwendbaren
Normen Rechnung zu tragen. Eine schematische Übernahme
sozialversicherungsrechtlicher Kriterien in das Haftpflichtrecht unbesehen der
Unterschiede würde dem Zweck, im Einzelfall eine billige, eben "adäquate"
Zurechnungsentscheidung zu fällen, zuwiderlaufen. Die Abgrenzung adäquater
Unfallfolgen von inadäquaten kann deshalb im Haftpflicht- und im
Sozialversicherungsrecht unterschiedlich ausfallen (BGE 127 V 102 E. 5b/aa; 123
III 110 E. 3a und 3b). Haftpflichtrechtlich genügt es, dass der Schädiger eine
Schadensursache gesetzt hat, ohne die es nicht zum Schaden gekommen wäre,
während Mitursachen wie etwa die konstitutionelle Prädisposition des
Geschädigten den adäquaten Kausalzusammenhang in der Regel weder zu
unterbrechen noch auszuschliessen vermögen (BGE 123 III 110 E. 3c; 113 II 86 E.
1b).

2.4 Mit Blick auf diese Rechtsprechung, die das Bundesgericht ständig anwendet
(vgl. etwa Urteile 4A_45/2009 vom 25. März 2009 E. 3.3.1 und 3.3.2; 4C.402/2006
vom 27. Februar 2007 E. 4.1), beanstandet der Beschwerdeführer zu Recht, dass
die Vorinstanz den adäquaten Kausalzusammenhang ausgehend von der Schwere des
Unfallereignisses anhand der sozialversicherungsrechtlichen Kriterien
beurteilte. Aus haftpflichtrechtlicher Sicht ist richtigerweise zu fragen, ob
das Unfallereignis vom 12. September 2003 nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, die
eingetretenen Beschwerden des Beschwerdeführers herbeizuführen. Dies ist
entgegen der Vorinstanz zu bejahen. Die von der Beschwerdegegnerin aufgeworfene
Frage, ob eine derart geringe unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit von unter 10 %
sich überhaupt auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt bzw. ob es dem
Beschwerdeführer zumutbar ist, entsprechende Anstrengungen zu unternehmen, um
dies zu vermeiden, ist nicht im Rahmen der Adäquanz zu beurteilen, sondern hat
Einfluss auf die Feststellung des zu ersetzenden Schadens. Hierzu ist die Sache
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

3.
Die Beschwerde erweist sich im ersten Punkt betreffend den festgestellten Grad
der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit als unbegründet, im zweiten Punkt
betreffend die Adäquanzbeurteilung als begründet. Sie ist dementsprechend
teilweise gutzuheissen, das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache
ist zur weiteren Prüfung der geltend gemachten Ansprüche an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten
den Parteien hälftig aufzuerlegen und die Parteikosten wettzuschlagen (vgl.
Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Dem Beschwerdeführer ist die von
ihm an die Gerichtskasse bezahlte Sicherheitsleistung von Fr. 8'500.--
zurückzuerstatten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich vom 12. März 2012 wird aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 7'500.-- werden im Betrag von Fr. 3'750.-- dem
Beschwerdeführer und im Betrag von Fr. 3'750.-- der Beschwerdegegnerin
auferlegt.

3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen. Dem Beschwerdeführer ist
die an die Gerichtskasse bezahlte Sicherheitsleistung von Fr. 8'500.--
zurückzuerstatten.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Juni 2012

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Klett

Der Gerichtsschreiber: Kölz