Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.96/2012
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_96/2012

Urteil vom 18. September 2012
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichterin Aubry Girardin,
Bundesrichter Stadelmann,
Gerichtsschreiber Hugi Yar.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Burkard J. Wolf,

gegen

Migrationsamt des Kantons Zürich,
Berninastrasse 45, Postfach, 8090 Zürich,
Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich,
Neumühlequai 10, Postfach, 8090 Zürich.

Gegenstand
Aufenthaltsbewilligung,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 4.
Kammer, vom 7. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
X.________ (geb. 1967) stammt aus Brasilien. Sie ersuchte am 8. Oktober 2008
unter Beilage eines befristeten Arbeitsvertrages sowie einer italienischen
Identitätskarte, welche sie als Brasilianerin auswies, darum, ihr eine
Kurzaufenthaltsbewilligung auszustellen. Im Gesuch wurde sie als italienische
Staatsangehörige brasilianischer Herkunft bezeichnet. Mit Schreiben vom 20.
Oktober 2008 informierte das Migrationsamt des Kantons Zürich X.________, dass
sich EU/EFTA-Staatsangehörige während dreier Monate im Kalenderjahr ohne
ausländerrechtliche Bewilligung in der Schweiz aufhalten dürften; es schrieb
das Gesuch dementsprechend als gegenstandslos ab.
Am 18./19. Dezember 2008 reichte die Einwohnerkontrolle Kloten für X.________
erneut ein Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ein; diesem lag ein
neuer, unbefristeter Arbeitsvertrag sowie wiederum eine Kopie der italienischen
Identitätskarte bei. Im Gesuchsformular wurde sie als italienische
Staatsbürgerin bezeichnet. Gestützt hierauf erteilte das Migrationsamt des
Kantons Zürich ihr am 2. Februar 2009 eine bis zum 26. September 2013
befristete Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA.

B.
Am 5. Juli 2010 wies das Personalmeldeamt der Stadt Zürich das Migrationsamt
daraufhin, dass die Staatsangehörigkeit von X.________ in Kloten falsch erfasst
worden sei. Dieses widerrief hierauf am 12. November 2010 deren
Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA und setzte ihr Frist bis zum 11. Februar 2011,
um die Schweiz zu verlassen. X.________ gelangte hiergegen erfolglos an die
kantonalen Rechtsmittelinstanzen.

C.
Mit Eingabe vom 30. Januar 2012 beantragt X.________ vor Bundesgericht, das
Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 7. Dezember 2011
aufzuheben und ihr den Verbleib in der Schweiz bis zum Ablauf der Bewilligung
zu gestatten.
Die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich und das Bundesamt für Migration
ersuchen darum, die Beschwerde abzuweisen. Das Verwaltungsgericht des Kantons
Zürich hat darauf verzichtet, sich vernehmen zu lassen.

D.
Der Abteilungspräsident hat der Beschwerde am 2. Februar 2012 - antragsgemäss -
aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Erwägungen:

1.
1.1 Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid auf dem Gebiet
des Ausländerrechts, welcher grundsätzlich der Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unterliegt (Art. 82 lit. a i.V.m. Art.
90 BGG). Gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde unzulässig gegen
Entscheide betreffend ausländerrechtliche Bewilligungen, auf die weder das
Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt. Vorliegend geht es
nicht um die Erteilung, sondern um den Widerruf einer noch laufenden
Bewilligung. In dieser Ausgangslage ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ohne Weiteres zulässig (vgl. BGE 135 II
1 E. 1.2.1 S. 4).
1.2
1.2.1 Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und 96 BGG
geltend gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an
(Art. 106 Abs. 1 BGG). Dabei prüft es nur die geltend gemachten Rügen, sofern
die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389). Die betroffene Person muss rechtsgenügend dartun, dass und
inwiefern der festgestellte Sachverhalt bzw. die beanstandete Beweiswürdigung
klar und eindeutig mangelhaft erscheint (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2
BGG; vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.3; 133 III 350 E. 1.3). Auf rein
appellatorische Kritik an der Sachverhaltsermittlung und an der Beweiswürdigung
tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 136 II 101 E. 3 S. 104 f.). Der
Beschwerdeführer muss - in Auseinandersetzung mit der Begründung im
angefochtenen Entscheid - zudem darlegen, inwiefern dieser Recht verletzen soll
(vgl. BGE 134 II 244 E. 2.1 - 2.3).
1.2.2 Die vorliegende Eingabe genügt diesen Anforderungen weitgehend nicht: Die
Beschwerdeführerin beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die bereits vor der
Vorinstanz erhobenen Einwände zu wiederholen; sie setzt sich mit den
Ausführungen im angefochtenen Entscheid jedoch nicht im Einzelnen auseinander
und legt auch nicht dar, inwiefern der Sachverhalt offensichtlich unrichtig
bzw. willkürlich festgestellt worden wäre (vgl. Art. 105 Abs. 1 BGG).

2.
Unstrittig ist, dass der Beschwerdeführerin eine Aufenthaltserlaubnis EU/EFTA
gestützt auf das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen;
FZA, SR 0.142.112.681) erteilt wurde. Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanzen
berechtigt waren, auf die Aufenthaltsbewilligung zurückzukommen und diese zu
widerrufen.
2.1
2.1.1 Gemäss Art. 23 Abs. 1 der Verordnung vom 22. Mai 2002 über die
schrittweise Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft und deren
Mitgliedstaaten sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen
Freihandelsassoziation (Verordnung über die Einführung des freien
Personenverkehrs; VEP, SR 142.203) können Kurzaufenthalts- und
Aufenthaltsbewilligungen EU/EFTA sowie Grenzgängerbewilligungen EU/EFTA
widerrufen oder nicht verlängert werden, wenn die Voraussetzungen für ihre
Erteilung nicht mehr erfüllt sind.
2.1.2 Vorliegend ist offensichtlich und wird von der Beschwerdeführerin zu
Recht nicht in Abrede gestellt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung
einer Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA von Anfang an nie gegeben waren, weil sie
als Brasilianerin nicht Staatsangehörige eines Vertragsstaats ist. Sie ist zwar
mit einem Italiener verheiratet, dieser lebt jedoch in seiner Heimat und hat
von seinem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht, weshalb für sie auch
kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht (Familiennachzug) im Sinn von Art. 7 Abs. 1
lit. d FZA i.V.m. Art. 3 Anhang I FZA bestehen kann.
2.2
2.2.1 Die Vorinstanz hat angenommen, Art. 23 Abs. 1 VEP finde vorliegend keine
Anwendung, weil diese Bestimmung bloss den Widerruf nachträglich fehlerhafter
Bewilligungen regle, während es hier um eine bereits ursprünglich fehlerhafte
Bewilligung gehe. Die Prüfung des Widerrufs habe daher nach den allgemeinen
verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen. Dieser Auffassung kann so nicht
gefolgt werden: Die allgemeinen Grundsätze betreffend den Widerruf eines
Verwaltungsaktes gelten nur insoweit, als das Gesetz die Widerrufbarkeit einer
Verfügung nicht selber regelt (vgl. BGE 120 Ib 193 E. 2). Dies ist hier im
bereits erwähnten Art. 23 Abs. 1 VEP (in Verbindung mit Art. 62 AuG [SR
142.20]) der Fall. Eine EU/EFTA-Bewilligung kann mangels Fortdauerns der
Bewilligungsvoraussetzungen gestützt auf Art. 23 Abs. 1 VEP in Verbindung mit
Art. 62 AuG widerrufen oder nicht mehr verlängert werden, da das
Freizügigkeitsabkommen diesbezüglich keine eigenen abweichenden Bestimmungen
enthält (vgl. Art. 2 Abs. 2 AuG; vgl. etwa das Urteil 2C_886/2011 vom 28.
Februar 2012 E. 3 u. 4).
2.2.2 Entgegen der Interpretation der Vorinstanz ist Art. 23 Abs. 1 VEP nicht
so zu verstehen, dass sich diese Bestimmung nur auf den Widerruf nachträglich
fehlerhafter Verfügungen beschränken würde. Bei der Auslegung von Vorschriften
kommt es abgesehen vom Wortlaut und den Materialien namentlich auch auf den
Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den
Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht (vgl. allg. zur Auslegung BGE 137 II
164 E. 4.1 S. 170; 132 II 200 E. 1.6 S. 203; 125 II 113 E. 3a S. 117). Zwar
liesse sich rein vom Wortlaut her der von der Vorinstanz getroffene Schluss
rechtfertigen, spricht Art. 23 VEP doch vom Widerruf, falls die Voraussetzungen
für die Erteilung nicht mehr erfüllt sind. Ein derartig einschränkendes
Verständnis der Bestimmung steht jedoch in Widerspruch zu Sinn und Zweck der
Norm. Diese soll sicherstellen, dass keine Bewilligungen bestehen, ohne dass
die dafür notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind. Das ergibt sich aus dem
Umstand, dass Art. 23 Abs. 1 VEP nicht bloss die Verlängerung einer Bewilligung
ausschliesst, sondern darüber hinaus bestimmt, dass eine erteilte Bewilligung
in diesem Fall auch widerrufen werden kann. Vor dem Hintergrund dieses Zweckes
kann es keine Rolle spielen, in welchem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die
Bewilligungserteilung nicht bestehen oder wegfallen. Wird nachträglich
festgestellt, dass von Beginn weg diese Voraussetzungen nicht erfüllt waren und
dass die Bewilligung zu Unrecht erteilt wurde, so ist diese gestützt auf Art.
23 Abs. 1 VEP zu entziehen bzw. zu widerrufen, soweit dies im Einzelfall
verhältnismässig erscheint und damit keine schutzwürdigen Vertrauenspositionen
beeinträchtigt werden. Nur wenn das FZA tatsächlich zur Anwendung kommt, sind
zusätzlich die Vorgaben von Art. 5 des Anhangs I zum FZA (Erfordernis des
Schutzes der öffentlichen Ordnung) zu berücksichtigen, nicht jedoch wenn dieses
fälschlicherweise auf einen Drittstaatsangehörigen angewandt worden ist (vgl.
das Urteil 2C_209/ 2010 vom 4. Oktober 2010 zum Widerruf einer EU/
EFTA-Aufenthaltsbewilligung bei der Fälschung eines Reisepasses; vgl. auch:
EPINEY/ METZ, Zur schweizerischen Rechtsprechung zum
Personenfreizügigkeitsabkommen, in: Achermann et al. [Hrsg.], Jahrbuch für
Migrationsrecht 2011/2012, Bern 2012, S. 223 ff., dort S. 226 ff.).
2.2.3 Die Beschwerdeführerin musste sich im vorliegenden Fall bewusst sein,
dass sie als brasilianische Staatsangehörige keinen Anspruch auf eine
Aufenthaltsbewilligung für EU/EFTA-Bürger haben konnte, und sie hatte mit dem
Widerruf ihrer Bewilligung zu rechnen, sobald entdeckt würde, dass ihr diese
fälschlicherweise erteilt worden war. Auf der widerrufenen
Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA war unter der Rubrik "Staatsangehörigkeit/
Nationalité/Nazionalità" ausdrücklich "Italien" vermerkt, was der
Beschwerdeführerin nicht hatte entgehen können. Es wäre gestützt auf die
ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten (Art. 90 AuG) an ihr gewesen, die
Behörden auf diese Unstimmigkeit hinzuweisen und sie nicht einfach zu ihren
Gunsten hinzunehmen, nachdem sie in Kloten jeweils nur ihre italienische "Carta
d´identità" eingereicht hatte, welche bei raschem Studium den Eindruck erwecken
konnte und musste, sie stamme aus Italien, zumal die Angaben in ihrem Gesuch
ebenfalls hierauf deuteten. Bereits im Schreiben des Migrationsamtes vom 20.
Oktober 2008 wurde sie auf die speziellen Regeln für EU/EFTA-Angehörige
hingewiesen, ohne dass sie hierauf reagiert hätte. Es kann unter diesen
Umständen dahingestellt bleiben, ob sie mit ihren Angaben auf den jeweiligen
Gesuchsformularen den Behörden gegenüber nicht auch falsche Angaben gemacht
oder wesentliche Tatsachen im Sinne von Art. 62 lit. a AuG verschwiegen hat,
wovon die Sicherheitsdirektion ausgegangen ist, oder ob diesbezüglich - wie von
ihr behauptet - lediglich gewisse Sprachprobleme bestanden haben.
2.2.4 Aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip kann die Beschwerdeführerin
ebenfalls nichts zu ihren Gunsten ableiten. Die Vorinstanz hat festgestellt,
ausser dem Entzug eines ihr nicht gebührenden Vorteils entstünde ihr kein
weiterer Nachteil. Sie behaupte weder die Unzumutbarkeit der Rückkehr nach
Italien (zu ihrem Mann) oder Brasilien noch hinsichtlich der restlichen
Laufzeit der Aufenthaltsbewilligung getroffene unwiderrufliche Dispositionen.
Die Beschwerdeführerin zeigt nicht rechtsgenüglich auf, inwiefern diese
Ausführungen falsch wären (vgl. oben E. 1.2). Sie macht lediglich geltend, sie
habe sich gut integriert, sei berufstätig, gebe zu keinen Klagen Anlass und
habe in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, die deutsche Sprache zu
erlernen und sich mehr und mehr zu integrieren. Angesichts des Umstandes, dass
die Aufenthaltsbewilligung ohnehin bis September 2013 befristet war, ist nicht
ersichtlich, was sich gestützt hierauf in Bezug auf die Zumutbarkeit des
Widerrufs im jetzigen Zeitpunkt ableiten liesse.

3.
3.1 Der Widerruf der Aufenthaltsbewilligung ist somit im Resultat
bundesrechtskonform. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werden kann.

3.2 Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend wird die Beschwerdeführerin für
dieses kostenpflichtig (Art. 65 i.V.m. Art. 66 Abs. 1 BGG). Es sind keine
Parteientschädigungen geschuldet (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich, 4. Kammer, und dem Bundesamt für Migration schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 18. September 2012
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Der Gerichtsschreiber: Hugi Yar