Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.805/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_805/2012

Urteil vom 15. Januar 2013
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Donzallaz, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Zähndler.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Migrationsamt des Kantons St. Gallen,
St. Leonhard-Strasse 40, 9001 St. Gallen,
Sicherheits- und Justizdepartement
des Kantons St. Gallen,
Oberer Graben 32, 9001 St. Gallen.

Gegenstand
Widerruf der Niederlassungsbewilligung; unentgeltliche Rechtspflege,

Beschwerde gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 10. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1982 geborene türkische Staatsangehörige X.________ reiste im Alter von
fünf Jahren in die Schweiz ein, wo ihm zuerst eine Aufenthaltsbewilligung und
im Jahr 1999 schliesslich die Niederlassungsbewilligung erteilt wurde. Am 19.
Mai 2003 heiratete er eine Landsfrau und am 8. Juli 2003 wurde ein gemeinsamer
Sohn geboren. Seit dem 31. März 2007 leben die Ehegatten allerdings getrennt
und der gemeinsame Sohn wurde unter die Obhut der Ehefrau gestellt, wobei
X.________ ein Besuchsrecht eingeräumt wurde.
X.________ wurde in der Schweiz wiederholt straffällig; insgesamt ergingen
gegen ihn 19 Straferkenntnisse. Insbesondere wurde er am 17. November 2010 vom
Kreisgericht Rorschach wegen gewerbsmässigem Betrug, mehrfacher
Urkundenfälschung und mehrfacher Fälschung von Ausweisen zu einer bedingt
vollziehbaren Freiheitsstrafe von 20 Monaten sowie zu einer Busse von Fr.
2'000.-- verurteilt.
Nachdem das Migrationsamt des Kantons St. Gallen ihn am 6. Oktober 2005 wegen
den strafrechtlichen Verurteilungen bereits verwarnt hatte, widerrief es mit
Verfügung vom 11. Juli 2011 die Niederlassungsbewilligung von X.________ unter
Hinweis auf dessen erneute Delinquenz.

B.
Ein von X.________ hiergegen eingereichter Rekurs wurde vom Sicherheits- und
Justizdepartement des Kantons St. Gallen abgewiesen, worauf sich X.________
beim Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen beschwerte und um unentgeltliche
Rechtspflege für das Beschwerdeverfahren ersuchte. Mit Zwischenverfügung vom
10. Juli 2012 wies das Verwaltungsgericht das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege zufolge Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels ab und es forderte
X.________ auf, einen Kostenvorschuss von Fr. 2'000.-- zu leisten, andernfalls
seine Beschwerde abgeschrieben werde.

C.
Gegen die Zwischenverfügung vom 10. Juli 2012 führt X.________ mit Eingabe vom
15. August 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim
Bundesgericht. Er stellt im Wesentlichen den Antrag, es sei ihm die
unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht zu
gewähren.
Das Verwaltungsgericht sowie das Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons
St. Gallen schliessen auf Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Die Verfügung über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege stellt
einen Zwischenentscheid dar. Als solcher kann sie selbständig angefochten
werden, falls sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirkt (Art. 93
Abs. 1 lit. a BGG). Nach der Praxis ist dies der Fall, wenn - wie hier - im
angefochtenen Entscheid nicht nur die unentgeltliche Rechtspflege verweigert,
sondern zugleich die Anhandnahme des Rechtsmittels von der Bezahlung eines
Kostenvorschusses abhängig gemacht wird (Urteil 2C_536/2012 vom 18. September
2012 E. 1.1; 4A_100/2009 vom 15. September 2009 E. 1.3, nicht publ. in BGE 135
III 603; BGE 128 V 199 E. 2b S. 202 mit Hinweisen; 126 I 207 E. 2a S. 210).
Prozessuale Entscheide sind nach dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens mit
dem gleichen Rechtsmittel anzufechten wie der Entscheid in der Sache selber.
Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten gegen Entscheide ausgeschlossen, welche Bewilligungen
betreffen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch
einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Vorliegend geht es nicht um die
erstmalige Erteilung oder die Verlängerung, sondern um den Widerruf einer
bereits gewährten Bewilligung. Die Beschwerde bleibt in diesem Zusammenhang
zulässig, soweit die Bewilligung - wäre sie nicht widerrufen worden - nach wie
vor Rechtswirkungen entfalten würde. Dies ist bei der unbefristeten
Niederlassungsbewilligung der Fall (vgl. BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4). Die
Zulässigkeit des Rechtsmittels beruht auf dem schutzwürdigen Vertrauen, dass
eine erteilte Bewilligung für die Dauer ihrer Gültigkeit fortbesteht und
grundsätzlich nicht in die entsprechende Rechtsposition eingegriffen wird (vgl.
Urteile 2C_515/2009 vom 27. Januar 2010 E. 1.1; 2C_21/2007 vom 16. April 2007
E. 1.2).
Als Verfügungsadressat ist der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 89 Abs. 1
lit. a BGG zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
legitimiert; auf das form- und fristgerecht eingereichte Rechtsmittel (Art. 42
und Art. 100 Abs. 1 BGG) ist daher einzutreten.

2.
2.1 Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Dass sich aus dem kantonalen Recht
ein weitergehender Anspruch ergeben würde, wird vom Beschwerdeführer nicht
behauptet. Als aussichtslos im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV gelten gemäss der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung jene Prozessbegehren, bei denen die
Gewinnaussichten beträchtlich geringer erscheinen als die Verlustgefahren und
die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Massgeblich ist, ob
sich eine vernünftige, nicht mittellose Partei ebenfalls zur Beschwerde
entschlossen hätte. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung
und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie
nichts kostet (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f. mit Hinweisen).

2.2 Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 62 lit. b AuG kann die
Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die ausländische Person zu
einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Als "längerfristig"
gilt jede Freiheitsstrafe, deren Dauer ein Jahr überschreitet (BGE 135 II 377
E. 4.2 und E. 4.5 S. 379 ff.). Dieses Erfordernis ist hier offensichtlich
erfüllt. Ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung ist demnach zulässig,
sofern sich diese Massnahme auch als verhältnismässig erweist. In diesem
Zusammenhang sind namentlich die Schwere des Verschuldens, der Grad der
Integration sowie die dem Betroffenen drohenden Nachteile zu berücksichtigen (
BGE 135 II 377 E. 4.3 ff. S. 381 ff.; vgl. auch Art. 96 Abs. 1 AuG).

2.3 Der Beschwerdeführer wendet im Wesentlichen ein, er habe seit seinem
fünften Lebensjahr in der Schweiz gelebt und die gesamte Schulzeit hier
absolviert. Er sei zudem integriert, da er intakte soziale und berufliche
Beziehungen in der Schweiz unterhalte. In der Türkei habe er dagegen weder
Verwandte noch eine Wohnung oder Verdienstmöglichkeiten. Auch spreche er kaum
noch Türkisch. Zudem könne er von der Türkei aus auch das Besuchsrecht
gegenüber seinem Sohn nicht mehr ausüben. Weiterhin weist der Beschwerdeführer
darauf hin, dass es sich bei den gegen ihn ergangenen Verurteilungen
grösstenteils um Verkehrsbussen handelt.

2.4 Das Verwaltungsgericht hielt dagegen in der angefochtenen Zwischenverfügung
fest, beim Beschwerdeführer sei eine seit 1999 andauernde Delinquenz zu
beobachten, wobei die Schwere der begangenen Taten stetig zugenommen habe.
Diverse Chancen zur Bewährung habe der Beschwerdeführer ungenutzt gelassen. Aus
dem Betreibungsregisterauszug ergebe sich weiter, dass er auch seinen
finanziellen Verpflichtungen, namentlich seinen Unterstützungspflichten
gegenüber seinem Sohn, nicht nachkomme. Da der Beschwerdeführer keine Lehre
abgeschlossen habe und immer wieder arbeitslos gewesen sei, könne sodann auch
von einer beruflichen Integration keine Rede sein. Ferner habe der
Beschwerdeführer bis zu seinem sechsten Altersjahr in der Türkei gelebt,
weshalb ihm die dortigen Verhältnisse und die Sprache durchaus vertraut seien.

2.5 Fremdenpolizeiliche Massnahmen sind selbst bei Ausländern, die hier geboren
sind und ihr ganzes bisheriges Leben in der Schweiz verbracht haben, nicht
ausgeschlossen; namentlich bei wiederholten oder schweren Straftaten wie etwa
Gewalt- und Betäubungsmitteldelinquenz besteht hieran ein wesentliches
öffentliches Interesse. Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind aber
umso strengere Anforderungen an eine fremdenpolizeiliche Massnahme zu stellen,
je länger ein Ausländer in der Schweiz anwesend war (Urteil 2C_864/2012 vom 11.
April 2012 E. 2.2; BGE 122 II 433 E. 2c S. 436). Im vorliegenden Fall wurde der
Beschwerdeführer mehrfach und in erheblichem Ausmass straffällig, ohne aber
Gewalt- oder Betäubungsmitteldelikte zu begehen. Die vom Verwaltungsgericht
aufgezeigten Gesichtspunkte erscheinen grundsätzlich zwar durchaus als
bedeutsam und werden bei der materiellen Überprüfung der Verhältnismässigkeit
des Bewilligungswiderrufs entsprechend zu würdigen sein. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanz lässt sich allerdings heute aus dem blossen Umstand,
dass der Beschwerdeführer während seiner frühen Kindheit - konkret bis zu
seinem sechsten Lebensjahr - in der Türkei gelebt hat, nicht mehr schliessen,
er sei mit den Verhältnissen und der Sprache in seinem Heimatland vertraut:
Angesichts des mittlerweile mehr als 25-jährigen Aufenthalts des
Beschwerdeführers in der Schweiz sowie der differenzierten Rechtsprechung des
Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte,
insbesondere in Bezug auf Ausländer, die der zweiten Generation angehören bzw.
im Gaststaat aufgewachsen sind, kann die bei der Vorinstanz anhängig gemachte
Beschwerde insgesamt nicht als von vornherein aussichtslos bezeichnet werden
(vgl. Urteil 2C_28/2012 vom 18. Juli 2012 E. 5).

2.6 Bei dieser Sachlage ist entscheidend, ob der Beschwerdeführer über die für
die Prozessführung erforderlichen finanziellen Mittel verfügt, oder ob er
prozessual bedürftig ist. Hierzu haben sich weder der Beschwerdeführer noch das
Verwaltungsgericht ausgesprochen. Dementsprechend bedarf dieser Punkt der
näheren Prüfung durch die Vorinstanz. Frühere Angaben zur finanziellen
Situation des Beschwerdeführers können bereits deswegen nicht mehr
berücksichtigt werden, weil dieser in seiner Beschwerdeschrift ausführt, er
habe wieder eine Arbeitsstelle bei einer Autowerkstatt gefunden
(Beschwerdeschrift S. 15 in fine).

3.
Nach dem Ausgeführten erweist sich die Beschwerde als begründet. Die
Zwischenverfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. Juli
2012 ist aufzuheben und die Sache zur Prüfung der Bedürftigkeit des
Beschwerdeführers und anschliessendem neuen Entscheid über die unentgeltliche
Rechtspflege an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend, sind keine Gerichtskosten zu erheben
(Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Das vom Beschwerdeführer gestellte Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren wird somit
gegenstandslos und ist folglich abzuschreiben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Zwischenverfügung des Verwaltungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 10. Juli 2012 aufgehoben und die Sache zu neuem
Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren wird
als gegenstandslos abgeschrieben.

4.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Verwaltungsgericht des
Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Januar 2013

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Der Gerichtsschreiber: Zähndler