Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.461/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_461/2012

Urteil vom 7. November 2012
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Egli.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Benedikt Schneider-Koch,

gegen

Departement des Innern des Kantons Solothurn, vertr. durch Migration und
Schweizer Ausweise, Ambassadorenhof, 4509 Solothurn.

Gegenstand
Niederlassungsbewilligung,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom
10. April 2012.

Sachverhalt:

A.
Der in der Schweiz niederlassungsberechtigte indische Staatsangehörige
X.________ (geb. 1964) hat am 20. April 2011 die Schweiz verlassen, um seine
Ehefrau in Indien abzuholen. Dort wurde er wegen des Verdachts auf
Terrorismusfinanzierung inhaftiert. In der Schweiz bezog X.________ seit Mai
2005 Sozialhilfe in der Höhe von insgesamt CHF 232'780.50 (Stand: Oktober
2011).

B.
Am 29. September 2011 ersuchte der Rechtsvertreter von X.________ um
Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung. Mit Verfügung vom 8. Februar
2012 hat das Departement des Innern des Kantons Solothurn dieses Gesuch
abgelehnt und festgestellt, dass die Niederlassungsbewilligung erloschen ist.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn bestätigte diesen Entscheid am 10.
April 2012.

C.
Vor Bundesgericht beantragt X.________, das angefochtene Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 10. April 2012 aufzuheben und
festzustellen, dass ihm weiterhin die Niederlassungsbewilligung zustehe,
eventualiter das Gesuch um Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung
gutzuheissen oder die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Subeventualiter sei festzustellen, dass ihm die Rückkehr in sein Heimatland
nach 27 Jahren Aufenthalt in der Schweiz nicht mehr zumutbar sei. Ferner sei
ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn, das Departement des Innern des
Kantons Solothurn und das Bundesamt für Migration (BFM) beantragen die
Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hat am 4. September 2012 darauf
repliziert.

D.
Mit Verfügung vom 21. Mai 2012 hat der Abteilungspräsident der Beschwerde
aufschiebende Wirkung erteilt.

Erwägungen:

1.
1.1 Soweit der Beschwerdeführer den weiteren Bestand seiner
Niederlassungsbewilligung geltend macht, indem er deren Erlöschen bestreitet,
kann er sich auf einen Anspruch im Sinne von Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG
berufen, da diese Bewilligung ihrem Inhaber grundsätzlich ein unbefristetes
Aufenthaltsrecht gewährt (vgl. Art. 34 Abs. 1 AuG [SR 142.20]). Diesbezüglich
greift der erwähnte Ausschlussgrund des Art. 83 BGG nicht und die Beschwerde
ist insoweit zulässig (vgl. Urteil 2C_609/2011 vom 3. April 2012 E. 1 mit
Hinweis).

1.2 Soweit der Beschwerdeführer in seinem Hauptantrag allgemein um Feststellung
ersucht, dass ihm weiterhin die Niederlassungsbewilligung zustehe, kann darauf
nur insoweit eingetreten werden, als sich diese Feststellung aus der
eventualiter beantragten Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung
ergibt. Diese Aufrechterhaltung ("Reservation") bildet vorliegend Prozessthema,
war doch nur sie Gegenstand der erstinstanzlichen Verfügung vom 8. Februar 2012
wie auch des vorinstanzlichen Urteils vom 10. April 2012 (zur Umschreibung des
Streitgegenstandes vgl. Urteil 2C_446/2007 vom 22. Januar 2008 E. 2.2 mit
Hinweisen). Nicht einzutreten ist ferner auf den erstmals vor Bundesgericht
gestellten Feststellungsantrag, wonach dem Beschwerdeführer nach 27 Jahren
Aufenthalt in der Schweiz eine Rückkehr in sein Heimatland nicht mehr zumutbar
sei (vgl. Art. 99 Abs. 2 BGG). Unzulässig ist schliesslich der prozessuale
Antrag, die neu aufgelegten Dokumente zu den Akten zu nehmen. Ihm stehen das
Novenverbot (Art. 99 Abs. 1 BGG) und die zeitliche Begrenzung des
Streitgegenstandes entgegen. Unberücksichtigt bleiben namentlich Tatsachen oder
Beweismittel, die sich auf das vorinstanzliche Prozessthema beziehen, jedoch
erst nach dem angefochtenen Entscheid eingetreten bzw. entstanden sind (sog.
echte Noven; vgl. zum Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht Art. 105 BGG; BGE
133 IV 342 E. 2.1 S. 344; 121 II 97 E. 1c S. 99 ff.; 107 Ib 167 E. 1b S. 169;
Urteil 2C_35/2012 vom 20. August 2012 E. 1.3; zu allfälligen Ausnahmen aus
prozessökonomischen Gründen vgl. Urteil 2C_276/2009 vom 22. September 2009 E.
1.4.2, nicht publ. in BGE 136 II 43; MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 12 zu Art. 105 BGG).

1.3 Unter diesen Einschränkungen ist auf die ansonsten form- und fristgerecht
eingereichte Beschwerde gegen den kantonal letztinstanzlichen Endentscheid
einzutreten (vgl. Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 89 und Art. 90 BGG).

2.
2.1 Verlässt eine niederlassungsberechtigte Person die Schweiz, ohne sich
abzumelden, erlischt die Niederlassungsbewilligung nach sechs Monaten (Art. 61
Abs. 2 Satz 1 AuG). Auf Gesuch hin kann die Niederlassungsbewilligung während
vier Jahren aufrechterhalten werden (Art. 61 Abs. 2 Satz 2 AuG). Das Gesetz
legt keine Kriterien fest, die für die Aufrechterhaltung der Bewilligung
massgebend sind. Dies erhöht den Entscheidungsspielraum der Verwaltung und
damit die Verantwortung zur pflichtgemässen Ermessensausübung (Art. 96 AuG).

2.2 Unbestritten ist vorliegend, dass das Gesuch rechtzeitig eingereicht worden
ist. Die Vorinstanz hat erwogen, dass eine Genehmigung für die
Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung restriktiv zu erteilen sei und
die Ausnahme bilde. Gemeinsam sei den in der Botschaft des Bundesrates und den
Weisungen des BFM aufgeführten Gründen, die zu einer Genehmigung des Gesuchs
führen können, dass der Aufenthalt im Ausland freiwillig erfolge. Bei einer
Inhaftierung sei dies "in der Regel" nicht der Fall. Darüber hinaus sei gemäss
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu prüfen, ob ein Widerrufsgrund
vorliege. Beim Beschwerdeführer treffe dies zu, bestehe doch seit langem eine
erhebliche Sozialhilfeabhängigkeit.

2.3 Der Beschwerdeführer bringt vor, die ganze Regelung in Art. 61 AuG beruhe
auf einem freiwilligen Verlassen der Schweiz. Das unfreiwillige Verbleiben im
Ausland sei vom Gesetzgeber nicht bedacht worden. Die damit einhergehende Lücke
sei vom Gericht zu füllen. Es erscheine als sehr unbillig, dass jemand, der
unbeabsichtigt länger als sechs Monate im Ausland weile, die
Niederlassungsbewilligung verlieren könne. Selbst wenn man dieser Auffassung
nicht folgen wolle, hätten die Vorinstanzen jedenfalls ihr Ermessen
rechtsfehlerhaft ausgeübt, indem sie den Gefängnisaufenthalt als
Verlängerungsgrund verweigert hätten. Es widerspreche der "Philosophie", d.h.
dem Sinn und Zweck des Ausländergesetzes wie auch des Art. 62 AuG, dass jemand
die Bewilligung verliere, wenn er aufgrund eines äusseren Zwangs im Ausland
festgehalten werde. Die Vorinstanzen hätten weder die Verhältnismässigkeit noch
die Zumutbarkeit der Rückkehr ins Heimatland näher geprüft, so dass der
Sachverhalt nur ungenügend festgestellt worden sei.
2.4
2.4.1 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kommt es nach der
konstanten Rechtsprechung weder auf die Motive der Landesabwesenheit noch auf
die Absichten des Betroffenen an (Urteile 2C_397/2011 vom 10. Oktober 2011 E.
3.2.2; 2C_980/2010 vom 21. Juni 2011 E. 2.1; 2C_853/2010 vom 22. März 2011 E.
5.1; je mit Hinweisen), so dass namentlich auch eine Inhaftierung zum Erlöschen
der Niederlassungsbewilligung führt (Urteile 2A.633/2006 vom 26. Januar 2007 E.
3.1; 2A.14/2004 vom 4. Juni 2004 E. 2.1; 2A.308/2001 vom 15. November 2001 E.
3a; je mit Hinweisen). Ebenso widerspricht es jedoch der genannten Praxis, wenn
die Vorinstanz annimmt, nur ein freiwilliges Verlassen der Schweiz sei
genügender Grund für eine Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung. Eine
Inhaftierung im Ausland kann durchaus Anlass für eine Aufrechterhaltung sein,
handelt es sich doch typischerweise um einen zeitlich befristeten
Auslandaufenthalt, der in dieser Hinsicht mit anderen Auslandaufenthalten
vergleichbar ist, die ihrer Natur nach nur vorübergehend sind, wie z.B. die
Absolvierung des Militärdienstes, eine Weiterbildung oder die Ausübung einer
Tätigkeit im Auftrag des schweizerischen Arbeitgebers (Urteile 2A.633/2006 vom
26. Januar 2007 E. 3.1; 2A.308/2001 vom 15. November 2001 E. 4e). Entgegen der
Vorinstanz kommt es damit nicht entscheidend darauf an, ob der (zeitlich
befristete) Auslandaufenthalt freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Dies zeigt
sich im Übrigen auch darin, dass die Weisungen des BFM mit der Absolvierung des
Militärdienstes ausdrücklich einen Grund nennen, bei dem der befristete
Auslandaufenthalt regelmässig in Erfüllung einer Dienstpflicht erfolgt (Ziff.
3.4.4 der Weisungen des BFM zum Ausländerbereich, Aufenthaltsregelung [Stand:
30. September 2011; http://www.bfm.admin.ch]). Dass dem Auslandaufenthalt
(möglicherweise) ein strafbares Verhalten zu Grunde liegt, wird insofern
berücksichtigt, als die Niederlassungsbewilligung nicht zu verlängern ist, wenn
sie widerrufen werden könnte (Art. 63 AuG). Dabei genügt es nicht, dass ein
Widerrufsgrund vorliegt, sondern der Widerruf muss im konkreten Fall auch
verhältnismässig sein (Art. 96 AuG; Urteile 2A.633/2006 vom 26. Januar 2007 E.
3.1; 2A.308/2001 vom 15. November 2001 E. 4e; jeweils mit Hinweisen; ZÜND/
ARQUINT HILL, in: Uebersax et al. [Hrsg.], Ausländerrecht, 2. Aufl. 2009, N.
8.10 S. 318 f.).
2.4.2 Diese Rechtsprechung hat die Vorinstanz nicht genügend beachtet und damit
ihren Entscheid rechtsfehlerhaft getroffen. Besonders ins Gewicht fällt, dass
die vorinstanzlichen Erwägungen sehr knapp gehalten sind und die Umstände des
Einzelfalls ausser Acht lassen. So wird mit der dauerhaften und erheblichen
Sozialhilfeabhängigkeit des Beschwerdeführers ein Widerrufsgrund (Art. 63 Abs.
1 lit. c AuG) genannt, bei dem Zweifel bestehen, ob er überhaupt anwendbar ist
(vgl. insb. Art. 63 Abs. 2 AuG). Darüber hinaus verzichtet die Vorinstanz
gänzlich auf eine Interessenabwägung. Die gegen den Beschwerdeführer erhobenen
Vorwürfe (Verdacht auf Terrorismusfinanzierung) wiegen schwer. Entsprechend
wichtig ist eine sorgfältige Abklärung der Sach- und Rechtslage. Da im
angefochtenen Urteil die der Interessenabwägung zu Grunde liegenden Tatsachen
nicht festgestellt worden sind, erlaubt es der Sachverhalt in der vorliegenden
Form nicht, die sich stellenden Rechtsfragen abschliessend zu beantworten. Aus
diesem Grund ist die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und anschliessender
Neuentscheidung an die erste Instanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG;
Urteil 2C_821/2011 vom 22. Juni 2012 E. 1, nicht publ. in BGE 138 II 229). Die
Rückweisung an die erstinstanzliche Verwaltungsbehörde ist vorliegend
sachgerecht, da diese über einen erheblichen Entscheidungsspielraum verfügt
(Urteil 1D_11/2007 vom 27. Februar 2008 E. 6, nicht publ. in BGE 134 I 56).

3.
Dem unterliegenden Kanton Solothurn sind für das vorliegende Verfahren keine
Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Er muss den obsiegenden
Beschwerdeführer für dieses jedoch angemessen entschädigen (Art. 68 Abs. 2
BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren gegenstandslos. Das Verwaltungsgericht hat dem
Ausgang des vorliegenden Verfahrens entsprechend die kantonale Kosten- und
Entschädigungsfrage neu zu regeln (vgl. Art. 107 Abs. 2 i.V.m. Art. 67 und 68
Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen, und der
angefochtene Entscheid wird aufgehoben. Die Sache wird zur Ergänzung des
Sachverhalts und anschliessenden Neuentscheidung an das Departement des Innern
des Kantons Solothurn zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Solothurn hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos
abgeschrieben.

5.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn
zurückgewiesen.

6.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. November 2012

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Der Gerichtsschreiber: Egli