Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.31/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_31/2012

Urteil vom 15. März 2012
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Karlen,
Bundesrichterin Aubry Girardin,
Gerichtsschreiber Hugi Yar.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Surber,

gegen

Migrationsamt des Kantons St. Gallen,
St. Leonhard-Strasse 40, 9001 St. Gallen,
Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen, Moosbruggstrasse 11,
9001 St. Gallen.

Gegenstand
Familiennachzugsgesuch; unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung,

Beschwerde gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 29. November 2011.

Sachverhalt:

A.
X.________ (geb. 1984) stammt aus Eritrea. Das Bundesamt für Migration hiess am
27. August 2008 sein Asylgesuch vom 22. Dezember 2006 gut und anerkannte ihn
als Flüchtling, worauf ihm im Kanton St. Gallen eine Aufenthaltsbewilligung
erteilt wurde.

B.
Am 30. Januar 2010 heiratete X.________ im Sudan seine Landsfrau Y.________. Am
29. Juni 2011 wies das Migrationsamt St. Gallen sein Gesuch ab, diese in die
Schweiz nachziehen zu können: X.________ verfüge aufgrund seines bis Ende
September 2011 befristeten Arbeitsverhältnisses über kein existenzsicherndes
Einkommen, was Voraussetzung für den Familiennachzug bilden würde. Das
Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen bestätigte diese
Verfügung auf Rekurs hin am 8. November 2011. X.________ gelangte hiergegen an
das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, welches am 29. November 2011
sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wegen
Aussichtslosigkeit der Eingabe abwies.

C.
X.________ beantragt vor Bundesgericht, den entsprechenden Entscheid aufzuheben
und ihm "im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht die unentgeltliche
Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zu gewähren". Die Vorinstanz sei mit
Blick auf seinen Status als anerkannter Flüchtling zu Unrecht davon
ausgegangen, die Beschwerde gegen die Verweigerung des Nachzugs seiner Gattin
sei aussichtslos.
Das Verwaltungsgericht sowie das Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons
St. Gallen beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide ausgeschlossen, welche
Bewilligungen betreffen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht
einen Anspruch einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Für das Eintreten
genügt, wenn die ausländische Person in vertretbarer Weise dartut, dass
potenziell ein Anspruch auf die von ihr beantragte Bewilligung besteht; ob die
jeweiligen Voraussetzungen tatsächlich gegeben sind, bildet praxisgemäss
Gegenstand der materiellen Beurteilung (BGE 136 II 177 E. 1.1 S. 179 f., 497 E.
3.3 S. 500 f.). Prozessuale Entscheide sind nach dem Grundsatz der Einheit des
Verfahrens mit dem gleichen Rechtsmittel anzufechten wie der Entscheid in der
Sache selber. Der Beschwerdeführer verfügt in der Schweiz über eine
asylrechtlich gefestigte Aufenthaltsbewilligung (Art. 60 Abs. 1 AsylG [SR
142.31]); die Beziehungen zu seiner Gattin sind intakt und werden im Rahmen des
durch die räumliche Distanz Möglichen gelebt. Der Beschwerdeführer und seine
Ehefrau können deshalb grundsätzlich gestützt auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 Abs.
1 BV einen Anspruch auf die beantragte Bewilligung bzw. den Familiennachzug
geltend machen (vgl. BGE 130 II 281 E. 3.1 S. 285 f.; 126 II 335 E. 2a und 2b/
cc S. 341 f. [zur vorläufigen Aufnahme]; 122 II 1 ff.). Die
verfahrensrechtliche Vorfrage über die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung (bzw. die damit verbundene Pflicht, einen
Kostenvorschuss leisten zu müssen) ist dem Bundesgericht deshalb mit Beschwerde
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zu unterbreiten (vgl. das Urteil
2C_230/ 2009 vom 2. Juli 2009 E. 1.2).

1.2 Die Verfügung über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung stellt einen Zwischenentscheid dar. Als solcher kann sie
selbständig angefochten werden, falls sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirkt (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Nach der Praxis ist dies der
Fall, wenn - wie hier - im angefochtenen Entscheid nicht nur die unentgeltliche
Rechtspflege verweigert, sondern zugleich die Anhandnahme des Rechtsmittels von
der Bezahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht wird (Urteil 4A_100/2009
vom 15. September 2009 E. 1.3, nicht publ. in BGE 135 III 603 ff.; BGE 128 V
199 E. 2b S. 202 mit Hinweisen; 126 I 207 E. 2a S. 210). Auch die Verweigerung
der unentgeltlichen Verbeiständung bewirkt einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil, da der Betroffene, der sich wegen seiner Bedürftigkeit keinen Anwalt
leisten kann, bei der prozessualen Durchsetzung seiner Rechte benachteiligt ist
(vgl. das Urteil 2C_230/2009 vom 2. Juli 2009 E. 1.3). Auf die frist- und
formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte
notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand. Als aussichtslos gelten nach der Rechtsprechung
Prozessbegehren, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer
erscheinen als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können. Dies ist nicht der Fall, wenn sich die
Gewinnaussichten und Verlustgefahren in etwa die Waage halten oder jene sich
nur als wenig geringer erweisen als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die
über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung ebenfalls zu
einem Prozess entschliessen würde; eine Partei soll ein Verfahren, das sie auf
eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können,
weil es sie nichts kostet. Wie es sich damit verhält, prüft das Bundesgericht
in rechtlicher Hinsicht mit freier Kognition. Ob im Einzelfall genügende
Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich nach den Verhältnissen zur Zeit, zu
der das Gesuch gestellt wurde (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f. mit Hinweisen).

2.2 Das Verwaltungsgericht hat das Gesuch des Beschwerdeführers als
aussichtslos eingeschätzt, da er mit seinem (Netto-)Einkommen von derzeit knapp
Fr. 2'100.-- sein Existenzminimum nicht decken könne und er auch in Zukunft
nicht in der Lage sein werde, längerfristig den Unterhalt für sich und seine
Ehefrau zu bestreiten. Die entsprechende Begründung überzeugt nicht: Der
Beschwerdeführer hat gestützt auf Art. 60 AsylG Anspruch auf die Erteilung
einer Aufenthaltsbewilligung (Abs. 1) bzw. nach fünfjährigem rechtmässigem
Aufenthalt - längerfristige Freiheitsstrafen bzw. erhebliche oder wiederholte
Verstösse gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorbehalten - auf die
Niederlassungsbewilligung (Abs. 2; vgl. BGE 127 II 177 E. 2a, 3b und 3c). Er
bemüht sich seit Jahren darum, mit seiner früheren Lebenspartnerin bzw. seiner
heutigen Gattin, die ihrerseits aus Eritrea geflohen ist und sich in einem
Flüchtlingslager im Sudan aufhält, zusammenleben zu können. Zwar kann die
zuständige Ausländerbehörde - wie das Sicherheits- und Justizdepartement zu
Recht festgestellt hat - eine Aufenthaltsbewilligung widerrufen oder auf deren
Erteilung verzichten, wenn der Ausländer oder eine Person, für die er zu sorgen
hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist bzw. im Fall eines Familiennachzugs die
Gefahr einer Sozialhilfeabhängigkeit besteht (Art. 62 lit. e AuG), doch
erscheint zweifelhaft, ob und inwiefern diese Bestimmung auch auf anerkannte
Flüchtlinge angewendet werden kann (vgl. altrechtlich BGE 127 II 177 E. 3b; zur
Rechtsstellung von Flüchtlingen: SCHWEIZERISCHE FLÜCHTLINGSHILFE, Handbuch zum
Asyl- und Wegweisungsverfahren, 2009, S. 301 f.; WALTER STÖCKLI, Asyl, in:
Uebersax/Rudin/ Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], Ausländerrecht, 2008, Rz. 11.46 f.).
Im Übrigen setzt Art. 62 lit. e AuG eine konkrete Gefahr der
Fürsorgeabhängigkeit voraus; blosse finanzielle Bedenken genügen nicht (vgl.
zum analogen altrechtlichen Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG:
BGE 119 Ib 81 E. 2d S. 87; 125 II 633 E. 3c S. 641). Für die Beurteilung der
Gefahr der Sozialhilfeabhängigkeit ist von den aktuellen Verhältnissen
auszugehen; die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung ist aber auf längere
Sicht abzuwägen. Weiter darf nicht einfach auf das Einkommen des hier
anwesenden Familienangehörigen abgestellt werden, sondern es sind die
finanziellen Möglichkeiten aller Familienmitglieder über eine längere Sicht in
die Beurteilung mit einzubeziehen (vgl. BGE 122 II 1 E. 3c S. 8). Das Einkommen
des Angehörigen, der an die Lebenshaltungskosten der Familie beitragen soll,
ist daran zu messen, ob und in welchem Umfang es tatsächlich realisierbar ist.
In diesem Sinne müssen die Erwerbsmöglichkeiten und das damit verbundene
Einkommen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf mehr als nur kurze Frist
hin gesichert erscheinen (vgl. BGE 122 II 1 E. 3c S. 8/9; Urteil 2C_452/2008
vom 13. Februar 2009 E. 2).

2.3 Der Beschwerdeführer erzielt bei einem Arbeitspensum von 60 Prozent ein
Nettoeinkommen von Fr. 2'080.90. Punktuell war es ihm möglich, zu 100 Prozent
zu arbeiten; in diesem Fall kam er auf einen Lohn von Fr. 3'468.20. Die
kantonalen Behörden gingen bei einem Familiennachzug von einem künftigen Bedarf
von Fr. 3´308.95 (bei 100 %-iger Arbeit) bzw. Fr. 3'208.95 (bei 60%-iger
Arbeit) aus. In der aktuellen Situation besteht nach ihrer Einschätzung
(abzüglich des Toleranzbetrags von Fr. 150.00) somit ein Manko von Fr. 978.05.
Bei dieser Ausgangslage kann im Hinblick auf die spezifische Situation des
Beschwerdeführers als anerkannter Flüchtling nicht ohne eine vertieftere
Prüfung und sorgfältige Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK
gesagt werden, dass bei einem Nachzug ein das private Interesse, die Ehe in der
Schweiz leben zu können, überwiegendes öffentliches Interesse daran besteht,
die Zusammenführung der Gatten wegen einer hinreichend wahrscheinlichen,
fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit zu verweigern. Der
Beschwerdeführer arbeitet in der Schweiz und bemüht sich darum, seinen
Beschäftigungsgrad zu erhöhen; seine Gattin wird gegebenenfalls - nach einer
Eingewöhnungsphase - ihrerseits ebenfalls zu den Kosten des Haushalts beitragen
können (Urteil 2C_847/2009 vom 21. Juli 2010 E. 3.2); zumindest sind diese
Möglichkeiten noch näher zu klären. Der Beschwerdeführer hat schliesslich weder
offene Zahlungsverpflichtungen, noch musste er je betrieben werden. Er hat sich
- soweit ersichtlich - immer darum bemüht, möglichst selbst für sich
aufzukommen.

2.4 Unter diesen Umständen verletzt es Art. 29 Abs. 3 BV, wenn die Vorinstanz
ihm für ihr Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wegen
Aussichtslosigkeit seines Begehrens verweigert. Der Fall ist in rechtlicher wie
tatsächlicher Hinsicht nicht zum Vornherein eindeutig; die Verlustgefahren
überwiegen die Gewinnaussichten nicht derart klar, dass die Eingabe des
Beschwerdeführers als zum Vornherein aussichtslos zu gelten hätte. Auch eine
Partei mit genügenden finanziellen Mitteln würde sich mit Blick auf das
betroffene Rechtsgut (eheliches Familienleben) dafür entscheiden, die
entsprechende Verwaltungsverfügung richterlich überprüfen zu lassen. Die
Verbeiständung erscheint zur Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers
ihrerseits notwendig.

3.
3.1 Die Beschwerde erweist sich somit als begründet und ist deshalb
gutzuheissen. Die angefochtene Verfügung wird aufgehoben und die Sache zu neuem
Entscheid über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung an
das Verwaltungsgericht zurückgewiesen.

3.2 Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind keine Kosten zu erheben (Art.
66 Abs. 4 BGG). Der Kanton St. Gallen muss den anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführer für dessen Aufwand vor dem Bundesgericht angemessen
entschädigen (vgl. Art. 68 Abs. 2 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Vizepräsidenten des
Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. November 2011 aufgehoben und
die Sache zu neuem Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2´000.-- zu entschädigen.

2.3 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als
gegenstandslos abgeschrieben.

3.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Verwaltungsgericht des
Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. März 2012
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Der Gerichtsschreiber: Hugi Yar