Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.257/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_257/2012

Urteil vom 4. September 2012
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann, Kneubühler,
Gerichtsschreiberin Genner.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Walter Fellmann,

gegen

Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Luzern,
Hirschengraben 16, Postfach, 6002 Luzern.

Gegenstand
Disziplinaranzeige,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern, 2. Abteilung,
vom 7. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
Am 26. April 2010 gelangte Rechtsanwalt Y.________ mit einer Anzeige an die
Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Luzern
(nachfolgend: Aufsichtsbehörde) und machte geltend, Rechtsanwältin X.________
habe ihre Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufstätigkeit im Sinn
von Art. 12 lit. a des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit
der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, BGFA; SR 935.61) verletzt. Sie habe
in einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht die Gegenseite, die A.________ AG,
vertreten. Er, Y.________, habe in diesem Verfahren Z.________ als Zeugin
aufgerufen. X.________ als Gegenanwältin habe die angerufene Zeugin mit
Schreiben vom 26. Februar 2010 kontaktiert, Bezug auf das hängige Verfahren
genommen und die Zeugin darauf aufmerksam gemacht, dass sie auch nach
Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Wahrung des Geschäftsgeheimnisses der
Arbeitgeberin und damit zur Verschwiegenheit verpflichtet sei. Sie habe die
angerufene Zeugin weiter aufgefordert, von den Aussagen über firmeninterne
Kenntnisse, die sie während ihrer Anstellung bei der A.________ AG erlangt
habe, umgehend Abstand zu nehmen und habe ihr andernfalls mit rechtlichen
Schritten gedroht. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2010 zog Rechtsanwalt
Y.________ seine Anzeige zurück.

B.
Mit Entscheid vom 13. Juli 2011 disziplinierte die Aufsichtsbehörde X.________
mit einem Verweis. Zur Begründung führte sie aus, X.________ habe mit dem
Schreiben vom 26. Februar 2010 an Z.________ in unzulässiger Weise Einfluss auf
die Zeugin nehmen wollen und damit ihre Pflichten zur sorgfältigen und
gewissenhaften Berufsausübung gemäss Art. 12 lit. a BGFA verletzt.
Die gegen diesen Entscheid von X.________ erhobene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Luzern
(nachfolgend: Obergericht) mit Urteil vom 7. Februar 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 19. März 2012
beantragt X.________ die Aufhebung des Urteils des Obergerichts und die
Einstellung des Disziplinarverfahrens mangels Vorliegens einer
Berufspflichtverletzung.
Das Obergericht und die Aufsichtsbehörde beantragen die Abweisung der
Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Justiz verzichtet
auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Das Anwaltsgesetz, welches neben den Berufspflichten (Art. 12 f. BGFA)
insbesondere auch das Disziplinarrecht (Art. 17 ff. BGFA) abschliessend regelt,
ist Teil des Bundesverwaltungsrechts. Damit unterliegt das angefochtene Urteil,
bei dem es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Endentscheid handelt (vgl.
Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG), der Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 lit. a BGG). Da keiner der
Ausschlussgründe von Art. 83 BGG Anwendung findet, ist dieses Rechtsmittel
zulässig (vgl. Urteil 2C_344/2007 vom 22. Mai 2008 E. 1).

1.2 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid verletze Bundesrecht
- inklusive Bundesverfassungsrecht -, Völkerrecht sowie kantonale
verfassungsmässige Rechte (Art. 95 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil
den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1
BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt bzw. vom Bundesgericht
von Amtes wegen berichtigt oder ergänzt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 97 Abs. 1 BGG bzw. Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine entsprechende Rüge, welche
rechtsgenüglich substanziiert vorzubringen ist (Art. 42 Abs. 2 BGG; vgl. BGE
133 II 249 E. 1.4.3 S. 254), setzt zudem voraus, dass die Behebung des Mangels
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
Die Beschwerdeführerin rügt eine aktenwidrige Sachverhaltsfeststellung des
Obergerichts. Dieses habe zu Unrecht festgestellt, sie habe für ihr Schreiben
an Z.________ keinen sachlichen Grund gehabt und einen solchen auch nicht
geltend gemacht.
Die Beschwerdeführerin legt dar, sie habe in ihrer Beschwerde an das
Obergericht sehr wohl einen Grund angegeben für ihre Intervention bei
Z.________. Dies ist zutreffend; eine andere Frage aber ist - und so kann das
angefochtene Urteil verstanden werden -, ob die Intervention auch sachlich
gerechtfertigt war. Diese Frage bildet Gegenstand der nachfolgenden rechtlichen
Würdigung.

3.
In der Hauptsache bestreitet die Beschwerdeführerin, durch die direkte
Kontaktaufnahme mit Z.________ gegen die Berufsregeln verstossen zu haben. Im
Wesentlichen macht sie geltend, sie habe Z.________ als Zeugin gar nicht
beeinflusst.

3.1 Anwälte sind gemäss Art. 12 lit. a BGFA verpflichtet, ihren Beruf
sorgfältig und gewissenhaft auszuüben. Hierzu gehört auch, dass der Anwalt
grundsätzlich jegliches Verhalten unterlässt, das die Gefahr einer
Beeinflussung von Zeugen zur Folge haben könnte. Die selbständige
Kontaktaufnahme mit einer Person, die als Zeuge in Betracht kommt, erscheint
unter diesem Gesichtspunkt als problematisch, da mit einem solchen Vorgehen
stets eine zumindest abstrakte Gefahr einer Beeinflussung verbunden ist (BGE
136 II 551 E. 3.2.1 S. 554 mit Hinweisen auf die Literatur).

3.2 Die Beschwerdeführerin führt aus, unter Beeinflussung sei nach dem üblichen
Sprachgebrauch eine Einwirkung zu verstehen, die dazu führen soll, dass der
Beeinflusste sich so verhält, wie der Einflussnehmer beabsichtigt, jedenfalls
aber nicht so, wie er es aus freien Stücken täte. Dem ist zuzustimmen. Die
Beschwerdeführerin schliesst jedoch daraus, bei der Zeugenbeeinflussung gehe es
einzig um den Versuch, den Zeugen in seiner eigenen Einschätzung im Sinne des
Einflussnehmers zu manipulieren oder zu steuern. Das Verbot der Kontaktaufnahme
mit einem Zeugen solle demnach sicherstellen, dass der Anwalt den Zeugen
hinsichtlich seiner Wahrnehmungen nicht beeinflusse. Dies ist zweifellos ein
Aspekt des Verbots der Kontaktaufnahme mit einem Zeugen. Der Zweck dieses
Verbots beschränkt sich aber keineswegs darauf. Vielmehr geht es generell
darum, die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch das Gericht
sicherzustellen. Diese kann, wie die Vorinstanzen zu Recht dargelegt haben,
auch dadurch tangiert werden, dass ein Zeuge dahingehend beeinflusst wird, vor
Gericht falsch oder gar nicht auszusagen.

3.3 Die Vorinstanz hält im angefochtenen Urteil fest, nach Auffassung der
Aufsichtsbehörde sei das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 26. Februar 2010
an Z.________ geeignet gewesen, das Aussageverhalten der Zeugin im Prozess vor
dem Arbeitsgericht zu beeinflussen; die Zeugin werde klar und unter Androhung
rechtlicher Schritte aufgefordert, keine Aussagen vor Gericht zu machen. Die
Vorinstanz kam in ihrer eigenen Würdigung zum Schluss, der unmissverständliche
Hinweis im genannten Schreiben auf die umfassende Geheimhaltungspflicht in
Bezug auf Löhne und Lohnbezüge sei durchaus geeignet, die mögliche Zeugin in
ihrem Aussageverhalten zu beeinflussen. Dies umso mehr, als sich die A.________
AG als Prozesspartei die Einleitung von rechtlichen Schritten vorbehalten habe,
sollte Z.________ Aussagen über firmeninterne Kenntnisse machen.

3.4 Den Ausführungen der Vorinstanz ist zuzustimmen. Zwar macht die
Beschwerdeführerin geltend, es liege auf der Hand, dass die A.________ AG an
der vorgenommenen Demarche tatsächlich ein vitales Interesse gehabt habe, dürfe
doch ein Arbeitgeber nicht einfach tatenlos zusehen, wie ein (ehemaliger)
Mitarbeiter Dritten gegenüber Angaben über vertrauliche Daten wie Löhne und
Lohnbezüge mache. Er müsse ihn vielmehr mit Nachdruck an seinen fortbestehenden
Geheimhaltungswillen erinnern, um seine Geheimhaltungsansprüche nötigenfalls
(zum Schutz der Persönlichkeit der von den Indiskretionen betroffenen
Arbeitnehmer) auch gerichtlich durchsetzen zu können. Dies mag zutreffen. Die
Beschwerdeführerin übersieht jedoch, dass ihr Schreiben entsprechend den
vorinstanzlichen Feststellungen durchaus geeignet war, dessen Adressatin
Z.________ in Zweifel darüber zu versetzen, ob sie als Zeugin aussagen dürfe
oder ob sie bei derartigen Aussagen mit rechtlichen Schritten seitens der
vormaligen Arbeitgeberin werde rechnen müssen. Daran ändert entgegen der
Meinung der Beschwerdeführerin nichts, dass im fraglichen Brief Z.________
bloss in undifferenzierter Form auf die Geheimhaltungspflicht hingewiesen wurde
und sie nicht etwa aufgefordert wurde, keine Aussage vor Gericht zu machen.
Selbst wenn die Feststellung der Aufsichtsbehörde, wonach die Zeugin
aufgefordert worden sei, keine Aussagen vor Gericht zu machen, zu weit ginge,
sind die möglichen Wirkungen des fraglichen Schreibens auf die Zeugin, wie sie
von der Vorinstanz umschrieben wurden, massgebend. Auch wenn die
Beschwerdeführerin andere Motive für das fragliche Schreiben gehabt haben mag,
war es daher geeignet, das Aussageverhalten der Zeugin zu beeinflussen. Es
wurde deshalb von der Vorinstanz zu Recht als unzulässiger Versuch der
Zeugenbeeinflussung qualifiziert.
Daran vermag auch der Hinweis der Beschwerdeführerin auf die prozessuale
Rechtslage nichts zu ändern. Massgebend ist nicht, dass allein das Gericht
darüber zu entscheiden gehabt hätte, ob Z.________ als Zeugin aussagen müsse,
und ob das Gericht sie darüber aufgeklärt hätte, wenn sie sich auf ihre
arbeitsvertragliche Geheimhaltungspflicht berufen hätte. Relevant ist einzig,
dass das fragliche Schreiben geeignet war, Druck auf die angerufene Zeugin
auszuüben und deren Aussageverhalten zu beeinflussen. Die Beschwerdeführerin
legt im Übrigen nicht dar, dass sie dieser Gefahr durch eine geeignete
Formulierung des fraglichen Schreibens zu begegnen versuchte.

3.5 Nach dem Ausgeführten steht fest, dass die Beschwerdeführerin mit dem
fragliche Schreiben an Z.________ sich so verhielt, dass die Gefahr einer
Zeugenbeeinflussung nicht ausgeschlossen werden konnte und dass sie keinerlei
Vorkehrungen traf, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Es ist daher nicht zu
beanstanden, wenn die Vorinstanz das Vorgehen der Beschwerdeführerin als
Verstoss gegen die anwaltliche Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften
Berufsausübung im Sinn von Art. 12 lit. a BGFA wertete.
Nicht Verfahrensgegenstand ist die Frage, inwiefern ein Schreiben, wie es von
der Beschwerdeführerin verfasst wurde, im Rahmen der Prozessvorschriften
unzulässig gewesen wäre, falls es die A.________ AG selbst geschrieben hätte.
Aus dieser Frage lässt sich zudem entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin
nichts ableiten in Bezug auf die vorliegend zur Diskussion stehende, sich aus
Art. 12 lit. a BGFA ergebende Verpflichtung des Anwalts, jegliches Verhalten zu
unterlassen, das die Gefahr einer Beeinflussung von Zeugen zur Folge haben
könnte. Auf die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeführerin ist daher
nicht weiter einzugehen.

4.
Gemäss den vorstehenden Erwägungen erweist sich die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als unbegründet und ist abzuweisen.
Diesem Verfahrensausgang entsprechend sind die Kosten des bundesgerichtlichen
Verfahrens der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine
Parteientschädigung ist nicht auszurichten (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Obergericht des Kantons
Luzern, 2. Abteilung, und dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. September 2012
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Die Gerichtsschreiberin: Genner