Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.1150/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_1150/2012

Urteil vom 7. Dezember 2012
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Donzallaz, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Hugi Yar.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Leiser,

gegen

Amt für Migration und Integration
des Kantons Aargau, Sektion Asyl,
Bahnhofstrasse 88, 5000 Aarau.

Gegenstand
Ausschaffungshaft/Haftüberprüfung,

Beschwerde gegen das Urteil des Rekursgerichts
im Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 9. November 2012.

Erwägungen:

1.
1.1 X.________ (geb. 1993) stammt nach eigenen Angaben aus Guinea-Bissau. Das
Bundesamt für Migration trat am 8. Februar 2012 im Dublin-Verfahren auf sein
Asylgesuch nicht ein, wies ihn auf den Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist nach
Italien weg und beauftragte den Kanton Aargau, die Wegweisung zu vollziehen. Am
2. April 2012 wurde X.________ nach Mailand verbracht.

1.2 Am 30. April 2012 reiste X.________ erneut illegal in die Schweiz ein. Auf
das Gesuch der Schweiz vom 15. Mai 2012 um (erneute) Wiederaufnahme von
X.________ reagierten die italienischen Behörden nicht, worauf das Bundesamt
für Migration (BFM) die Verfristung seiner Anfrage anzeigte und dem Amt für
Migration und Integration des Kantons Aargau tags darauf mitteilte, dass für
X.________ ein Rückflug nach Italien gebucht werden könne.

1.3 X.________ trat am 30. Oktober 2012 den für ihn reservierten Flug nicht an,
sondern tauchte unter. Trotz wiederholter Ersuchen des Amtes für Migration und
Integration des Kantons Aargau sah das Bundesamt davon ab, eine erneute
Dublin-Wegweisung zu erlassen, worauf das kantonale Amt am 7. November 2012
X.________ seinerseits aus der Schweiz wegwies und ihn in Ausschaffungshaft
nahm. Es konnte für ihn ein Rückflug nach Italien für den 7. Dezember 2012
gebucht werden.

1.4 Der Präsident des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau
prüfte die Ausschaffungshaft am 9. November 2012 und bestätigte sie bis zum 5.
Februar 2013. Hiergegen gelangte X.________ am 20. November 2012 mit dem Antrag
an das Bundesgericht, den Haftgenehmigungsentscheid aufzuheben und ihn umgehend
aus der Ausschaffungshaft zu entlassen.

1.5 Den Einspracheentscheid des kantonalen Amts für Migration und Integration
vom 22. November 2012 bezüglich der Wegweisung focht X.________ am 23. November
2012 beim Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau an. Dessen
Präsident legte der Eingabe am 26. November 2012 aufschiebende Wirkung bei und
hielt das Amt für Migration und Integration an, "bis zum rechtskräftigen
Entscheid über die Zulässigkeit der Wegweisungsverfügung oder einem anders
lautenden Entscheid, auf sämtliche Vollzugshandlungen zu verzichten".

1.6 Das Bundesamt für Migration weist in seiner Vernehmlassung vom 3. Dezember
2012 daraufhin, dass es seit dem 20. April 2012 die Praxis verfolge, keine
neuen Asylgesuche von Personen entgegen zu nehmen, die innert kurzer Zeit nach
erfolgter Überstellung in den zuständigen Dublin-Staat wieder in die Schweiz
einreisten und Eingaben nur dann als Wiedererwägungsgesuch zu behandeln, falls
tatsächlich entsprechende Gründe geltend gemacht würden; andernfalls bleibe der
sog. Dublin-Rückkehrer nach wie vor gestützt auf die frühere, rechtskräftige
Wegweisungsverfügung ausreisepflichtig. Das Bundesamt habe im vorliegenden Fall
mangels entsprechender Elemente eine erneute Beurteilung verweigern und dem
Betroffenen die Überstellungsdetails für den erneuten Vollzug der
ursprünglichen Wegweisungsverfügung in einem blossen Schreiben mitteilen
dürfen. X.________ hat am 5. Dezember 2012 an seinen Anträgen und Ausführungen
festgehalten. Entgegen den Vorbringen des Bundesamts, sei dieses für den
Überstellungsentscheid zuständig.

2.
2.1 Wurde ein erstinstanzlicher Weg- oder Ausweisungsentscheid eröffnet, kann
die zuständige Behörde die betroffene ausländische Person zur Sicherstellung
des Vollzugs dieser Massnahme in Ausschaffungshaft nehmen, wenn ihr bisheriges
Verhalten darauf schliessen lässt, dass sie sich behördlichen Anordnungen
widersetzt (Art. 76 Abs. 3 AuG [SR 142.20]), bzw. konkrete Anzeichen befürchten
lassen, dass sie sich der Ausschaffung entziehen will (Art. 76 Abs. 4 AuG). Der
Wegweisungsentscheid muss dabei nicht bereits rechtskräftig sein; es genügt,
dass sein Vollzug noch nicht möglich, jedoch absehbar erscheint. Der Vollzug
der Weg- oder Ausweisung darf sich nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen
Gründen als undurchführbar erweisen (vgl. Art. 80 Abs. 6 lit. a AuG) und muss
mit dem nötigen Nachdruck verfolgt werden (Art. 76 Abs. 4 AuG:
"Beschleunigungsgebot"). Die ausländerrechtliche Festhaltung hat überdies als
Ganzes verhältnismässig zu sein (vgl. Art. 5 Abs. 4 BV sowie das Urteil des
EGMR Jusic gegen Schweiz vom 2. Dezember 2010 [Nr. 4691/06], §§ 67 ff.,
insbesondere § 73; THOMAS HUGI YAR, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, in:
Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], Ausländerrecht, 2. Aufl. 2009, N.
10.114 ff.).

2.2 Das Verfahren vor dem Haftrichter dient nicht der Überprüfung des
Wegweisungsentscheids oder von anderen den Ausländer zur Ausreise
verpflichtenden Verfügungen. Der Haftrichter hat sich grundsätzlich nur zu
vergewissern, ob (überhaupt) ein Weg- oder Ausweisungsentscheid vorliegt;
dessen Rechtmässigkeit bildet nicht Gegenstand seines Verfahrens.
Diesbezügliche Einwände sind im Asyl-, Bewilligungs- oder Wegweisungsverfahren
selber durch die jeweils zuständigen Behörden zu prüfen, nicht
(erstinstanzlich) durch den Haftrichter (vgl. die Urteile 2C_304/2012 vom 1.
Mai 2012 E. 2.1 und 2C_455/2009 vom 5. August 2009 E. 2.3). Die betroffene
Person muss sich in diesen Punkten nötigenfalls mit einem Wiedererwägungsgesuch
an das Bundesamt oder die zuständige kantonale Ausländerbehörde wenden und
hernach den entsprechenden Rechtsweg beschreiten (vgl. BGE 125 II 217 E. 2;
TARKAN GÖKSU, in: Caroni/Gächter/ Thurnherr [Hrsg.], Bundesgesetz über die
Ausländerinnen und Ausländer [AuG], 2010, N. 14 zu Art. 80; ANDREAS ZÜND, in:
Spescha/Thür/ Zünd/Bolzli, Migrationsrecht, 3. Aufl. 2012, N. 6 f. zu Art. 80
AuG [e contrario]; HUGI YAR, a.a.O., N. 10.28). Nur wenn der
Wegweisungsentscheid offensichtlich unzulässig erscheint, darf bzw. muss die
Haftgenehmigung verweigert werden, da der Vollzug einer in diesem Sinn
rechtswidrigen Anordnung nicht mit einer ausländerrechtlichen Zwangsmassnahme
sichergestellt werden kann (BGE 128 II 193 E. 2.2.2 S. 198 mit Hinweisen; 121
II 59 E. 2c; 130 II 56 E. 2 S. 58).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer bestreitet zu Recht nicht, dass ein Haftgrund vorliegt
und der Vollzug seiner Ausschaffung absehbar ist: Er reiste am 30. April 2012
illegal in die Schweiz ein, nachdem das Bundesamt für Migration auf sein
Asylgesuch am 8. Februar 2012 nicht eingetreten war und ihn gestützt auf die
Dublin-Regeln nach Italien weggewiesen hatte. Vor dem Antritt des für ihn
organisierten Rückflugs nach Italien vom 30. Oktober 2012 tauchte er unter. Ein
neuer Rückflug war für den 7. Dezember 2012 geplant, scheiterte jedoch an der
vom Präsidenten des Rekursgerichts des Kantons Aargau angeordneten
aufschiebenden Wirkung im Beschwerdeverfahren gegen die Wegweisung; aufgrund
des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers (illegale Einreise und
Weigerung, nach Italien zurückzukehren) ist davon auszugehen, dass er sich ohne
Haft den Behörden für die Rückführung nicht zur Verfügung halten wird.
3.2
3.2.1 Der Beschwerdeführer kritisiert einzig, dass kein gültiger
Wegweisungsentscheid vorliege. Nach Art. 64a AuG habe das Bundesamt für
Migration die Wegweisungsverfügung gegen Personen zu erlassen, die sich illegal
in der Schweiz aufhielten, falls sich - wie hier - aufgrund der Verordnung EG
Nr. 343/2003 (Dublin-II-Verordnung) ein anderer Staat, der durch eines der
Dublin-Assoziierungsabkommen gebunden sei, für die Durchführung des
Asylverfahrens als zuständig erweise. Das kantonale Amt für Migration und
Integration habe ihn unter diesen Umständen nicht seinerseits gestützt auf Art.
64 AuG wegweisen dürfen.
3.2.2 Sein Einwand überzeugt nicht: Mögen allenfalls auch Hinweise dafür
bestehen, dass die Wegweisung des Bundesamts für Migration vom 8. Februar 2012
mit seiner früheren Verbringung nach Italien dahingefallen sein könnte bzw.
konsumiert wurde (HUGI YAR, a.a.O., N. 10.86 mit Hinweisen auf die
Rechtsprechung) und diesbezüglich möglicherweise erneut zu verfügen gewesen
wäre (vgl. DANIA TREMP, in: Caroni/Gächter/Thurnherr, SHK Ausländergesetz,
2010, N. 18 zu Art. 64a AuG; MARC SPESCHA, in: Spescha/Thür/Zünd/Bolzli,
Migrationsrecht, 3. Aufl. 2012, N. 3 zu Art. 64a AuG), fiel die allgemeine
Verfügungskompetenz der kantonalen Behörden im Rahmen von Art. 64 Abs. 1 lit. a
und b AuG (ordentliche Wegweisung bei fehlender Bewilligung bzw. fehlenden
Einreisevoraussetzungen) durch die Dublin-Problematik doch nicht klar und
offensichtlich dahin. Entweder ist die Auffassung des Bundesamts richtig, dass
in Fällen wie dem vorliegenden keine weitere Dublin-Wegweisungsverfügung
erforderlich ist und die ursprüngliche Wegweisung in den Dublin-Staat ohne
Wiedererwägungsgründe fortwirkt, oder jene der kantonalen Behörde, dass in
dieser Situation eine weitere kantonale Wegweisungsverfügung aufgrund von Art.
64 AuG ergehen darf, die ihrerseits wiederum mit einer Zwangsmassnahme
gesichert werden kann. So oder anders besteht vorliegend eine Wegweisung, deren
Vollzug mit der umstrittenen ausländerrechtlichen Festhaltung sichergestellt
werden darf. Die materielle Richtigkeit des Wegweisungsentscheids nach Italien
stellt der Beschwerdeführer denn auch nicht infrage.
3.2.3 Wer tatsächlich für die Wegweisungsanordnung zuständig ist, sollte in
Fällen wie dem vorliegenden eine (weitere) solche nötig sein, bildet nicht
Frage des Haft-, sondern des Wegweisungs- bzw. des entsprechenden, inzwischen
hängigen Rechtsmittelverfahrens. Der Haftrichter war von Bundesrechts wegen
nicht gehalten, die Genehmigung der Festhaltung zu verweigern, nachdem ein
Wegweisungsentscheid durch eine zumindest potenziell zuständige
ausländerrechtliche Behörde vorlag (vgl. WIEDERKEHR/RICHLI, Praxis des
allgemeinen Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2012, N. 2560 mit Hinweisen auf die
Rechtsprechung); es kann - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers -
nicht gesagt werden, es liege offensichtlich kein sicherungsfähiger
Verwaltungsakt vor bzw. das Handeln des kantonalen Amtes (Wegweisung gestützt
auf Art. 64 AuG) sei geradezu nichtig.

4.
4.1 Der angefochtene Entscheid verletzt weder nationales noch internationales
Recht. Die Beschwerde ist unter ergänzendem Hinweis auf die Begründung im
angefochtenen Entscheid im Verfahren nach Art. 109 BGG abzuweisen.

4.2 Dem Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung kann nicht entsprochen werden: Aufgrund der im
Haftprüfungsverfahren beschränkten Kognition bezüglich der Wegweisungsfrage
(vgl. das Urteil 2C_749/2012 vom 28. August 2012 E. 2.1 mit Hinweisen) hatte
die vorliegende Eingabe keine ernsthaften Aussichten auf Erfolg (Art. 64 Abs. 1
BGG). Es kann dennoch davon abgesehen werden, für das vorliegende Verfahren
Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 BGG). Parteientschädigungen sind nicht
geschuldet (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
abgewiesen.

2.2 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Rekursgericht im
Ausländerrecht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Migration schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 7. Dezember 2012
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Der Gerichtsschreiber: Hugi Yar