Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.62/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_62/2012

Urteil vom 18. April 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiber Steinmann.

Verfahrensbeteiligte
R.________, Beschwerdeführer,

gegen

Stadtrat von Zürich, Stadthausquai 17, Postfach,
8022 Zürich.

Gegenstand
Stimmrechtsbeschwerde,

Beschwerde gegen das Urteil vom 27. Dezember 2011 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zürich,
4. Abteilung, 4. Kammer.

Sachverhalt:

A.
Die Stimmberechtigten der Stadt Zürich stimmten am 4. September 2011 über die
Volksinitiative "Zur Förderung des öV, Fuss- und Veloverkehrs in der Stadt
Zürich" (sog. Städte-Initiative) und einen entsprechenden Gegenvorschlag des
Gemeinderates ab. Beide Vorlagen wurden angenommen; in der Stichfrage obsiegte
die Volksinitiative knapp. Die Abstimmungsergebnisse wurden im städtischen
Amtsblatt vom 7. September 2011 publiziert.
Am 12. September 2011 erhob R.________ beim Bezirksrat Zürich Stimmrechtsrekurs
und beantragte die Ungültigerklärung der Abstimmung und deren Wiederholung. Zur
Begründung führte er im Wesentlichen an, die Abstimmungszeitung des Stadtrates
sei irreführend gewesen.
Der Bezirksrat trat mit Beschluss vom 17. November 2011 auf den
Stimmrechtsrekurs nicht ein, weil er in Bezug auf die Zustellung der
Abstimmungszeitung die 5-tägige Frist nicht eingehalten und daher verspätet
sei.
R.________ gelangte an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. Dieses wies
dessen Beschwerde mit Entscheid vom 27. Dezember 2011 in Bestätigung des
vorinstanzlichen Entscheids ab.

B.
Gegen diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts hat R.________ beim
Bundesgericht am 31. Januar 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten erhoben. Er beantragt zur Hauptsache die Aufhebung des
"Nichteintretensentscheids" des Verwaltungsgerichts.
Die Stadt Zürich beantragt mit ihrer Vernehmlassung die Abweisung der
Beschwerde. Das Verwaltungsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Der
Beschwerdeführer hat auf eine erneute Stellungnahme verzichtet.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts betrifft eine
Stimmrechtsangelegenheit im Sinne von Art. 82 lit. c BGG; dazu zählen auch
Entscheide, mit denen ein Nichteintreten auf eine Stimmrechtsbeschwerde verfügt
oder bestätigt wird (vgl. GEROLD STEINMANN, Basler BGG-Kommentar, 2. Auflage
2011, Art. 82 N. 85, mit Hinweisen). Das angefochtene Urteil stammt von einer
letzten kantonalen Instanz gemäss Art. 88 Abs. 1 lit. a BGG. Der
Beschwerdeführer war anlässlich der Volksabstimmung vom 4. September 2011
unbestrittenermassen stimmberechtigt und ist daher nach Art. 89 Abs. 3 BGG zur
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten legitimiert. Auf die
rechtzeitig erhobene Beschwerde ist einzutreten.
Mit der Stimmrechtsbeschwerde können gemäss Art. 95 BGG namentlich Verletzungen
von Bundesverfassungsrecht (lit. a) und von kantonalem Recht über die
politischen Rechte (lit. d) gerügt werden. Das Bundesgericht überprüft die
Anwendung der entsprechenden Bestimmungen mit freier Kognition.

2.
Der Beschwerdeführer rügt, dass vor dem Hintergrund des richtig verstandenen
Streitgegenstandes auf seinen Stimmrechtsrekurs hätte eingetreten werden
müssen. Er macht sinngemäss geltend, der angefochtene Entscheid verletze ihn in
seinen politischen Rechten.
Anfechtungsobjekt bildet im vorliegenden Verfahren der Entscheid des
Verwaltungsgerichts, mit dem das Nichteintreten durch den Bezirksrat auf den
Stimmrechtsrekurs des Beschwerdeführers bestätigt worden ist. Unterschiedlicher
Auffassung sind der Beschwerdeführer und die Behörden über den
Streitgegenstand: Letztere erachten als massgeblichen Streitgegenstand die als
Vorbereitungshandlung qualifizierte Abstimmungszeitung, Ersterer erblickt die
Informationslage im Zeitpunkt der Abstimmung und damit das Abstimmungsergebnis
als entscheidenden Streitgegenstand.

3.
Nach § 19 Abs. 1 lit. c des zürcherischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG;
Gesetzessammlung 175.2) können Handlungen staatlicher Organe, welche die
politische Stimmberechtigung oder Volkswahlen und -abstimmungen betreffen, mit
Rekurs angefochten werden. Die Frist hierfür beträgt nach § 22 Abs. 1 Satz 2
VRG fünf Tage.
Zu den behördlichen Handlungen im Sinne dieser Bestimmungen gehören beliebige
Vorbereitungshandlungen zu Volkswahlen oder Volksabstimmungen. Entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers können diese Vorbereitungshandlungen
unterschiedlicher Natur sein. Gemäss ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichts zählen dazu Rechtsakte und Entscheide wie auch Realakte (vgl.
die Übersicht bei STEINMANN, a.a.O., Art. 82 N. 85 ff.). Insbesondere bilden
amtliche Erläuterungen zu Volksabstimmungen taugliche Streitgegenstände von
Stimmrechtsbeschwerden (vgl. betreffend den Kanton Zürich BGE 136 I 389).
Demnach hätte gegen die Abstimmungszeitung mit der Rüge, der Stadtrat habe
seine Pflicht zu objektiver Information verletzt, über den Zweck und die
Tragweite der Vorlage falsch orientiert und damit die Stimmberechtigten
irregeführt, Stimmrechtsrekurs geführt werden können.
Die Frist hierfür beträgt nach der genannten Bestimmung fünf Tage. Allgemein
sind Mängel hinsichtlich von Vorbereitungshandlungen im Vorfeld von Wahlen und
Abstimmungen sofort und vor Durchführung des Urnengangs zu rügen. Nach der
Rechtsprechung besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, den
gerügten Mangel vor dem Urnengang zu beheben, um die Wahl- Abstimmungsfreiheit
zu wahren und eine nachträgliche Wiederholung des Urnengangs zu vermeiden (BGE
121 I 1 E. 3b S. 5). Zudem ist es mit dem auch im Verfahrensrecht geltenden
Grundsatz von Treu und Glauben nicht vereinbar, einen Mangel vorerst
widerspruchslos hinzunehmen und die Abstimmung erst hinterher anzufechten, wenn
deren Ergebnis nicht den gehegten Erwartungen entspricht (BGE 110 Ia 176 E. 2a
S. 180). Das Bundesgericht hat entsprechende kurze Anfechtungsfristen
gebilligt, allerdings gefordert, dass an die Erkennbarkeit der beanstandeten
Mängel und die Substanziierung der Beschwerden keine allzu hohen Anforderungen
gestellt werden (BGE 121 I 1 E. 3b und 4 S. 5; Urteil 1P.141/ 1994 vom 26. Mai
1995 E. 2b, in: ZBl 97/1996 S. 233; vgl. ferner BGE 136 I 376, nicht publ. E.
3.1, mit weitern Hinweisen).
Die fragliche Abstimmungszeitung ist dem Beschwerdeführer unbestrittenermassen
am 13. August 2011 zugestellt worden und hätte demnach in der Folge angefochten
werden müssen. In der beim Bundesgericht erhobenen Beschwerde gibt er an, zu
diesem Zeitpunkt ein paar Tage in Südfrankreich geweilt zu haben, ohne zu
präzisieren, wann er nach Hause gekommen ist und und wann er von der
Abstimmungszeitung hat Kenntnis nehmen können. Dieses Vorbringen ist eine neue
Tatsache im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG, auf die im bundesgerichtlichen
Verfahren nicht eingegangen werden kann; denn der Beschwerdeführer hatte in der
kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts Derartiges geltend gemacht.
Darüber hinaus vermag er keine Umstände darzulegen, weshalb ihm ein sofortiger
Rekurs vor Durchführung der Abstimmung im Sinne der genannten Rechtsprechung
nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen wäre. Wenn er die Abstimmungszeitung
erst unmittelbar vor der Abstimmung studiert hat, wie er sinngemäss geltend
macht, hat er dies vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung selbst zu
verantworten.
Bei dieser Sachlage ist das Verwaltungsgericht somit zu Recht davon
ausgegangen, dass der beim Bezirksrat erhobene Rekurs verspätet war, soweit der
Beschwerdeführer die Abstimmungszeitung in Frage stellte. In diesem Punkte
erweist sich die vorliegende Beschwerde als unbegründet.

4.
Es ist weiter zu prüfen, ob der Beschwerdeführer auch noch gegen die
Durchführung der Abstimmung und die Publikation des Abstimmungsresultats hätte
Stimmrekurs einlegen können, wie er im vorliegenden Verfahren geltend macht.
Die Durchführung der Abstimmung und die Veröffentlichung der Resultate können
bei gegebener Konstellation durchaus Ausgangspunkt für einen Stimmrechtsrekurs
sein. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festhält, kann nach der Abstimmung
Beschwerde erhoben werden, soweit Mängel anlässlich der oder unmittelbar vor
der Durchführung der Abstimmung oder wenn Unregelmässigkeiten bei der
Auszählung der Stimmen geltend gemacht werden. Es geht dabei um Fehler, die vor
der Abstimmung gar nicht geltend gemacht werden konnten und daher im Nachhinein
sollen vorgebracht werden können. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
steht dem Rechtssuchenden allerdings in Bezug auf den Zeitpunkt der
Geltendmachung kein Wahlrecht zu. Soweit sich dieser auf Mängel im Vorfeld des
Urnengangs beruft, ist der Stimmrechtsrekurs im Vorfeld zu erheben und erweist
sich eine gegen die Abstimmung gerichtete Beschwerde als verspätet (vgl. BGE
110 Ia 176 E. 2a S. 179 f.).
Im vorliegenden Fall bringt der Beschwerdeführer allerdings vor, sein
Stimmrechtsrekurs richte sich gegen "die unvollständige und in ihrer Gesamtheit
irreführende Informationserstattung des Stadtrates im Vorfeld der Abstimmung".
Über die Abstimmungszeitung hinaus betreffe er "auch die weitere
Informationsberichterstattung des Stadtrates im Vorfeld zur Abstimmung,
namentlich seine Unterlassungen." Mit diesen Vorbringen räumt der
Beschwerdeführer einerseits ein, dass die beanstandete Irreführung der
Stimmberechtigten durch den Stadtrat zur Hauptsache von der Abstimmungszeitung
ausging. Diese hätte, wie oben dargelegt, mit Stimmrechtsrekurs vor der
Abstimmung angefochten werden müssen. Andererseits nennt der Beschwerdeführer
keine darüber hinausgehenden Handlungen des Stadtrates, die die
Stimmberechtigten zusätzlich zur Abstimmungszeitung irregeführt hätten und die
nicht vor der Abstimmung hätten geltend gemacht werden können. Er vermag auch
keine Gegebenheiten zu nennen, die den Stadtrat - etwa als Reaktion auf
unzutreffende private Abstimmungspropaganda (vgl. Urteil 1C_472/2010 vom 20.
Januar 2011, in: ZBl 112/2011 S. 375) - zu einer entsprechenden
Medienmitteilung hätten veranlassen müssen.
An diesen Überlegungen vermag auch die Berufung auf das Urteil des
Bundesgerichts vom 20. Dezember 2011 i.S. Kiener Nellen (1C_176/2011, zur
amtlichen Publikation bestimmt) nichts zu ändern. In dieser Sache stand nicht
eine kantonale, sondern eine eidgenössische Stimmrechtssache in Frage. Diese
weist die Besonderheit auf, dass die Abstimmungserläuterungen des Bundesrates
nicht direkt angefochten werden können; zulässig war es in der besondern
Konstellation, die Informationslage im Vorfeld der zur Diskussion stehenden
Abstimmung in allgemeiner Weise zum Gegenstand des Verfahrens zu machen (E. 7).
Im Gegensatz dazu hätte im vorliegenden Fall die Abstimmungszeitung tatsächlich
zum Gegenstand eines Stimmrechtsrekurses gemacht werden können, desgleichen
darüber hinausreichende konkrete Äusserungen des Stadtrates.
Bei dieser Sachlage hat das Verwaltungsgericht den Bezirksratsentscheid auch
insoweit zu Recht bestätigt, als der Beschwerdeführer seinen Stimmrechtsrekurs
gegen die Abstimmung gerichtet verstanden haben wollte.

5.
Demnach ist der angefochtene Entscheid in formeller Hinsicht nicht zu
beanstanden. Damit erübrigt sich, vor dem Hintergrund der Abstimmungsfreiheit
materiell auf die Abstimmungszeitung einzugehen. Die Beschwerde ist daher
abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die bundesgerichtlichen
Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Stadtrat von Zürich und dem
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 4. Abteilung, 4. Kammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 18. April 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Steinmann