Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.618/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_618/2012

Urteil vom 29. April 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern, Schermenweg 5,
Postfach, 3001 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Ulrich Rubeli.

Gegenstand
Entzug des Führerausweises für Motorfahrzeuge,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 22. August 2012 der Rekurskommission des
Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom
9. Februar 2012 wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln durch unbegründetes
brüskes Bremsen (Schikanestopp), Nötigung und Tätlichkeiten in Anwendung von
Art. 126 Abs. 1, Art. 181 und Art. 49 Abs. 1 StGB sowie von Art. 90 Ziff. 2 SVG
zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen. Sie hielt für erwiesen, dass er am
frühen Morgen des 11. Dezember 2010 mit seinem Personenwagen auf der
Hauptstrasse in Richtung Wynau fuhr, in Murgenthal einen unsicher fahrenden
Personenwagen überholte, ihn im Sinn eines "Schikanestopps" ausbremste, nachdem
am überholten Wagen mehrmals das Volllicht an- und wieder ausgeschaltet worden
war und sich nach der Auffahrtskollision auf eine verbale und tätliche
Auseinandersetzung mit den weiteren Unfallbeteiligten einliess. Der Strafbefehl
blieb unangefochten.
Am 5. April 2012 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons
Bern X.________ den Führerausweis wegen schwerer Widerhandlung gegen die
Verkehrsregeln im Sinn von Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG für
drei Monate.
Am 22. August 2012 hiess die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen
gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern die Beschwerde von X.________
gegen diese Verfügung des Strassenverkehrsamts gut, hob sie auf und verfügte,
dass gegen ihn keine Massnahme ausgesprochen werde. Zudem sprach sie X.________
mit Präsidialverfügung vom 7. November 2012 eine Entschädigung für Parteikosten
und Auslagen von insgesamt Fr. 2'639.20 zu.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das
Strassenverkehrsamt des Kantons Bern, die Entscheide der Rekurskommission vom
22. August und vom 7. November 2012 aufzuheben.

C.
Die Rekurskommission beantragt in ihrer Vernehmlassung unter Verweis auf die
angefochtenen Entscheide, die Beschwerde abzuweisen. X.________ stellt den
gleichen Antrag. Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragt, die Beschwerde
gutzuheissen.
Die Rekurskommission und das Strassenverkehrsamt halten an ihren Standpunkten
fest.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über einen
Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben
(Art. 83 BGG). Das kantonale Strassenverkehrsamt ist zur Beschwerde befugt
(Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. a SVG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.
2.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts entspricht eine grobe
Verkehrsregelverletzung im Sinn von Art. 90 Ziff. 2 SVG einer schweren
Widerhandlung gegen die Verkehrsregeln im Sinn von Art. 16c SVG, nach welcher
der Führerausweis für mindestens drei Monate zu entziehen ist (BGE 132 II 234
E. 3 S. 237; Urteile 1C_424/2012 vom 15. Januar 2013 E. 2.1; 1C_47/2012 vom 17.
April 2012 E. 3.1). Der vom Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt
ausgesprochene Ausweisentzug für die Dauer von drei Monaten entspricht
dementsprechend der strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers wegen
grober Verkehrsregelverletzung. Die Rekurskommission geht im angefochtenen
Entscheid indessen davon aus, dass der dem Strafbefehl zugrunde liegende
Sachverhalt nicht erwiesen sei, dass vielmehr "klare Anhaltspunkte" dafür
bestünden, "dass die dem Strafbefehl zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen
unrichtig bzw. ungenügend erhärtet sind" und dem Beschwerdeführer "kein
Schikanestopp nachgewiesen werden kann" (angefochtener Entscheid E. 3 S. 6).

2.2 Ein Strafurteil vermag die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu
binden. Allerdings gebietet der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung,
widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden, weshalb die
Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahme von den tatsächlichen
Feststellungen des Strafrichters nur abweichen darf, wenn sie Tatsachen
feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt
waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn der Strafrichter bei der
Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt,
namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat. In der
rechtlichen Würdigung des Sachverhalts - namentlich auch des Verschuldens - ist
die Verwaltungsbehörde demgegenüber frei, ausser die rechtliche Qualifikation
hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser
kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II
447 E. 3.1; 127 II 302 nicht publ. E. 3a; 124 II 103 E. 1c/aa und bb).

2.3 Die Rekurskommission hat weder Tatsachen festgestellt, die der
Staatsanwaltschaft beim Erlass des Strafbefehls gegen den Beschwerdeführer
unbekannt waren, noch eigene Beweise erhoben, und die Staatsanwaltschaft hat
bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt alle massgeblichen Rechtsfragen
abgeklärt. Für die Rekurskommission bestand somit nach der Rechtsprechung (oben
E. 2.2) kein Spielraum, von den Sachverhaltsfeststellungen des Strafbefehls
abzuweichen.
Es trifft im Übrigen nicht zu, dass klare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass
die Tatsachenfeststellungen der Staatsanwaltschaft offensichtlich falsch sind.
Die von ihr dem Strafbefehl zugrunde gelegte Version des Tatablaufs - der
Beschwerdeführer habe das Fahrzeug vor ihm überholt, anschliessend ohne durch
die Verkehrssituation gebotenen Anlass brüsk gebremst und dadurch eine
Auffahrkollision verursacht - lässt sich jedenfalls mit den polizeilichen
Ermittlungen vereinbaren und wurde vom Beschwerdeführer, indem er den
Strafbefehl unangefochten liess, gleichsam anerkannt. Nachdem der
Beschwerdeführer vom Strassenverkehrsamt zudem zweimal ausdrücklich darauf
hingewiesen worden war, dass strafrechtliche Schuldsprüche für das
Administrativverfahren verbindlich seien und eine Verurteilung nach Art. 90
Ziff. 2 SVG in der Regel einen Führerausweisentzug von mindestens 3 Monaten
nach sich zögen, muss er sich die Rechtskraft des Strafbefehls auch nach Treu
und Glauben entgegenhalten lassen. Die Rekurskommission hat unter diesen
Umständen den bundesrechtlichen Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung
verletzt, indem sie sich über die Sachverhaltsfeststellungen des
rechtskräftigen Strafbefehls hinwegsetzte und aufgrund einer eigenen
Beweiswürdigung zum Schluss kam, dem Beschwerdeführer sei kein "Schikanestopp"
nachzuweisen. Die Rüge ist begründet.

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben, womit die Entzugsverfügung des Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamts vom 5. April 2012 wieder auflebt bzw. ihre Gültigkeit behält.
Die Sache ist zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen an die
Rekurskommission zurückzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdegegner die Kosten (Art.
66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid der
Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern vom
22. August 2012 sowie deren Präsidialverfügung vom 7. November 2012 aufgehoben
und die Verfügung des Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamts des Kantons Bern
vom 5. April 2012 bestätigt. Die Sache wird an die Vorinstanz zur Neuregelung
der Kosten- und Entschädigungsfolgen zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Bern für
Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern und dem Bundesamt
für Strassen, Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. April 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi

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