Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.599/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_599/2012

Urteil vom 15. März 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Merkli,
Karlen,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
handelnd durch Klausfranz Rüst-Hehli,
Beschwerdeführerin,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach.

Gegenstand
Ermächtigungsverfahren,

Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 31.
Oktober 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Eingabe vom 17. September 2012 an die Polizeistation Wattwil liess
X.________ durch Klausfranz Rüst-Hehli Strafanzeige wegen Amtsanmassung gemäss
Art. 287 StGB gegen Y.________, Gemeindepräsident von Lichtensteig und
Geschäftsstellenleiter der Vereinigung der St. Galler Gemeindepräsidentinnen
und Gemeindepräsidenten (VSGP) erstatten. Darin wird ihm insbesondere
vorgeworfen, er habe ohne rechtliche Befugnis verlangt, die Familie von
X.________ müsse von ihrer Aufenthaltsgemeinde Gossau weg in eine andere
Gemeinde des Kantons St. Gallen ziehen, um dort Sozial- bzw. Nothilfe beziehen
zu können.
Das Untersuchungsamt Uznach leitete die Strafanzeige an die Anklagekammer des
Kantons St. Gallen zur Durchführung eines Ermächtigungsverfahrens weiter.
Die Anklagekammer erteilte am 12. November 2012 keine Ermächtigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens gegen Y.________ mit der Begründung, es
liege kein Tatverdacht gegen ihn vor.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________,
es sei festzustellen, dass die Anklagekammer für die Ermächtigung zur
Durchführung des Strafverfahrens unzuständig sei, der angefochtene Entscheid
sei ersatzlos aufzuheben und die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, über die
Eröffnung eines Strafverfahrens zu befinden. Eventuell sei die Angelegenheit an
die Vorinstanz zur weiteren Abklärung des Sachverhalts zurückzuweisen.
Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Die Anklagekammer verzichtet auf Vernehmlassung. Y.________ beantragt, die
Beschwerde abzuweisen, X.________ die Verfahrenskosten aufzuerlegen und ihren
Rechtsvertreter zu verurteilen, ihm eine Entschädigung von Fr. 500.-- zu
bezahlen.
In ihren verschiedenen Eingaben hält X.________ an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1.
Nach Art. 17 Abs. 2 lit. b des Einführungsgesetzes zur Schweizerischen Straf-
und Jugendstrafprozessordnung des Kantons St. Gallen vom 3. August 2010
(EGzStPO) entscheidet die Anklagekammer über die Eröffnung des Strafverfahrens
gegen Behördenmitglieder oder Mitarbeitende des Kantons und der Gemeinden wegen
strafbarer Handlungen, die deren Amtsführung betreffen, soweit nicht der
Kantonsrat zuständig ist. Ausgenommen sind Widerhandlungen gegen die
Vorschriften über den Strassenverkehr. Mit dem angefochtenen Entscheid hat es
die Anklagekammer abgelehnt, die Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung des
Beschwerdegegners zu ermächtigen. Damit fehlt es an einer Prozessvoraussetzung
für die Durchführung des Strafverfahrens, womit das Verfahren abgeschlossen
ist. Angefochten ist damit ein Endentscheid (Art. 90 BGG), gegen den nach der
Rechtsprechung die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
zulässig ist (BGE 137 IV 269 E. 1.3.1). Die Beschwerdeführerin, die am
kantonalen Verfahren als Partei beteiligt war und deren Strafanzeige nicht mehr
weiterverfolgt werden kann, ist befugt, sie zu erheben (Art. 89 Abs. 1 BGG).

2.
Eine Amtsanmassung im Sinn von Art. 287 StGB begeht, wer sich "in
rechtswidriger Absicht die Ausübung eines Amtes oder militärische Befehlsgewalt
anmasst".

2.1 Nach der unbestrittenen Darstellung der Anklagekammer im angefochtenen
Entscheid war der Beschwerdegegner Gemeindepräsident von Lichtensteig und als
solcher, wie alle seine Amtskolleginnen und -kollegen im Kanton St. Gallen,
Mitglied der VSGP; überdies war er Geschäftsführer dieses Vereins. Da sich in
der Stadt St. Gallen überdurchschnittlich viele Asylbewerber aufhielten, auf
deren Gesuch nicht eingetreten worden war, wirkte die Geschäftsstelle des
Vereins daran mit, diese sogenannten NEE-Fälle zur Gewährung der Nothilfe
besser auf die einzelnen Gemeinden zu verteilen. In diesem Zusammenhang teilte
der Stadtpräsident von Gossau der Beschwerdeführerin mit, nach Absprache mit
der VSGP bzw. der dieser offenbar angegliederten, ebenfalls vom
Beschwerdegegner geführten Koordinationsstelle der St. Galler Gemeinden für
Migrationsfragen (KOMI), werde ihr der ihr zustehende verfassungsrechtliche
Anspruch auf Nothilfe in der Unterkunft Seeben/Nesslau gewährt. Die
Anklagekammer hat die Ermächtigung zur Verfolgung des Beschwerdegegners nicht
erteilt, weil sie keinerlei Anhaltspunkte dafür fand, dass er in strafrechtlich
relevanter Weise Einfluss auf diese Entscheidung genommen haben könnte.

2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Vorwurf strafbaren Verhaltens
beziehe sich auf die Tätigkeit des Beschwerdegegners als Geschäftsführer eines
privatrechtlichen Vereins; seine Strafverfolgung dürfe dementsprechend nicht
von einer Ermächtigung der Anklagekammer abhängig gemacht werden.
Der Beschwerdegegner war in seiner Funktion als Gemeindepräsident Mitglied der
VSGP; seine Tätigkeit als deren Geschäftsführer steht somit in einem engen
Zusammenhang mit seiner Amtsführung als Mitglied dieser Behörde. Es ist daher
jedenfalls vertretbar, die von der Beschwerdeführerin als strafbar gerügte
Tätigkeit des Beschwerdegegners für die VSGP als Handlungen im Sinn von Art. 17
Abs. 2 lit. b EGzStPO einzustufen, die seine Amtsführung als Gemeindepräsident
betreffen. Es ist damit nicht zu beanstanden, dass die Anklagekammer das
Ermächtigungsgesuch beurteilte. Der Einwand, sie sei dafür nicht zuständig
gewesen, ist unbegründet.

2.3 Gegenstand des Verfahrens ist in materieller Hinsicht einzig, ob die
Anklagekammer die Ermächtigung zur Strafverfolgung des Beschwerdegegners zu
Recht verweigert hat. Die Kritik der Beschwerdeführerin an der Tätigkeit der
St. Galler Migrations- und Sozialhilfebehörden, die einen grossen Teil der
Beschwerdeschrift beansprucht, geht an der Sache vorbei.
Die Beschwerdeführerin wirft dem Beschwerdegegner im Wesentlichen vor, er habe
ohne jede rechtliche Befugnis verlangt, dass sie und ihre Familie in eine
andere Gemeinde zu ziehen hätten, da sie nur dort Nothilfe erhalten würden. Es
ist nicht ersichtlich, inwiefern dieses Verhalten den Tatbestand von Art. 287
StGB erfüllen könnte. Dem Beschwerdegegner wird gar nicht vorgehalten, er sei
bei seiner Tätigkeit nicht als Geschäftsführer der VSGP, sondern irreführend
als Vertreter einer für die Behandlung der Angelegenheit zuständigen und
gegenüber der Gemeinde Gossau weisungsbefugten Behörde aufgetreten und habe
sich auf diese Weise ihm nicht zustehende Amtsgewalt angemasst. Es besteht
gegenüber dem Beschwerdegegner kein Anfangsverdacht, welcher die Eröffnung
einer Strafuntersuchung wegen Amtsanmassung rechtfertigen könnte. Die
Anklagekammer hat unter diesen Umständen kein Bundesrecht verletzt, wenn sie
die Ermächtigung zur Verfolgung des Beschwerdegegners nicht erteilte. Die Rüge
ist unbegründet.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Unter den vorliegenden Umständen rechtfertigt
sich, auf die Erhebung von Kosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist abzuweisen, da die
Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Dem Vertreter der
Beschwerdeführerin hätte im Übrigen auch bei einer Gutheissung des Gesuchs
keine Parteientschädigung zugestanden, da er nicht über das Rechtsanwaltspatent
verfügt. Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdegegner hat ebenfalls keinen
Anspruch auf eine Parteientschädigung.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Parteikosten gesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
Untersuchungsamt Uznach, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. März 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Störi