Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.418/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_418/2012

Urteil vom 7. Januar 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiberin Gerber.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

Departement Gesundheit und Soziales des Kantons Aargau, Kantonaler
Sozialdienst, Obere Vorstadt 3, Postfach 2254, 5001 Aarau.

Gegenstand
opferhilferechtliche Genugtuung,

Beschwerde gegen das Urteil vom 4. Juli 2012 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, 1. Kammer.

Sachverhalt:

A.
X.________, geb. 26. Juni 1989, wurde in der Zeit vom 28. Mai 2004 bis 19. Juni
2004 im Aufnahmeheim Safenwil Opfer von sexuellen Übergriffen durch drei
jugendliche Mitbewohner des Heims. Im Jahr 2005 sprach die Jugendanwaltschaft
des Kantons Aargau die Täter der mehrfachen sexuellen Nötigung bzw. der
mehrfachen Gehilfenschaft zur sexuellen Nötigung schuldig. Die Durchsetzung
privatrechtlicher Ansprüche gegenüber den Beschuldigten wurde auf den Zivilweg
verwiesen.

B.
Mit Eingabe vom 16. Juni 2006 meldete X.________ beim Kantonalen Sozialdienst
(KSD), Fachbereich Opferhilfe, vorsorglich ein Gesuch um Entschädigung und
Genugtuung an. Im Februar 2012 ersuchte sie um Ausrichtung einer
opferhilferechtlichen Genugtuung in Höhe von Fr. 20'000.-- nebst Zins von Juni
2004 bis Dezember 2008.
Am 28. Februar 2012 sprach ihr der KSD eine Genugtuung nach Art. 12 Abs. 2 des
Opferhilfegesetzes vom 4. Oktober 1991 (aOHG; AS 1992 2465, 1997 2952, 2002
2997 und 2005 5685) in Höhe von Fr. 13'000.-- zu und wies den Antrag im Übrigen
ab.

C.
Dagegen erhob X.________ am 29. März 2012 Beschwerde an das Verwaltungsgericht
des Kantons Aargau, mit dem Antrag, ihr sei eine Genugtuung von Fr. 20'000.--
auszurichten.
Am 4. Juli 2012 hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde teilweise gut und
wies den KSD an, der Beschwerdeführerin eine Genugtuung in Höhe von Fr.
18'000.-- auszurichten. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit darauf
eingetreten wurde.

D.
Gegen den verwaltungsgerichtlichen Entscheid hat X.________ am 30. August 2012
"Einspruch" an das Bundesgericht erhoben mit dem Antrag, ihr sei eine
Entschädigung von Fr. 30'000.-- zuzusprechen.
Die kantonalen Instanzen und das Bundesamt für Justiz haben auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über eine
opferhilferechtliche Genugtuung. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1
lit. d und Art. 90 BGG). Die Beschwerdeführerin ist als Opfer, dessen
Genugtuungsgesuch teilweise abgewiesen wurde, zur Beschwerde legitimiert (Art.
89 Abs. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist daher grundsätzlich einzutreten.
Allerdings sind neue Begehren vor Bundesgericht unzulässig (Art. 99 Abs. 2
BGG). Soweit die Beschwerdeführerin erstmals eine Genugtuung in Höhe von Fr.
30'000.-- (anstatt bisher Fr. 20'000.--) verlangt, kann darauf nicht
eingetreten werden. Insofern ist im Folgenden lediglich zu prüfen, ob ihr zu
Unrecht weniger als Fr. 20'000.-- zugesprochen wurde.

2.
Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, bei der Festsetzung der
Genugtuung sei zu Unrecht nicht berücksichtigt worden, dass sie bei ihrem
Aufenthalt in Safenwil nicht nur sexuell genötigt, sondern mehrfach
vergewaltigt worden sei.

2.1 In ihrer Beschwerde ans Verwaltungsgericht hatte sie geltend gemacht, der
KSD habe die Zusprechung einer Genugtuungssumme von nur Fr. 13'000 vor allem
damit begründet, dass die Täter nur wegen mehrfacher sexueller Nötigung und
nicht wegen Vergewaltigung verurteilt worden seien. Dies sei zwar formal
korrekt. Zu berücksichtigen sei jedoch, dass sie im damaligen
Jugendstrafverfahren gegen die Täter nicht als Privatklägerin habe auftreten
können. Sie habe erst auf mehrmaliges Drängen ihrer Anwältin überhaupt Einsicht
in die Polizeiakten erhalten und sei entgegen den Gepflogenheiten im
Erwachsenenstrafrecht nicht einmal über das Datum der Gerichtsverhandlung gegen
die Angeschuldigten informiert, geschweige denn zur Verhandlung eingeladen
worden. Auch die Urteile gegen die Täter seien ihr nicht vollständig zugestellt
worden; sie habe lediglich Auszüge aus den Entscheiden erhalten. Sie habe daher
nie Gelegenheit gehabt, sich in rechtlicher Hinsicht zu den von den Tätern
begangenen Straftaten zu äussern oder gegen die Entscheide ein Rechtsmittel
einzulegen.
Den Entscheidauszügen lasse sich nicht entnehmen, weshalb keine Verurteilung
wegen Vergewaltigung erfolgt sei, obwohl erstellt sei, dass es zumindest mit
dem Täter Y.________ mehrmals zum Geschlechtsverkehr gekommen sei, gegen den
Willen der Beschwerdeführerin. Es sei daher nicht einsichtig, weshalb dieser
lediglich wegen mehrfacher sexueller Nötigung und nicht wegen Vergewaltigung
bestraft worden sei. Der Zivilrichter und die Verwaltungsbehörde seien an die
Erkenntnisse der Strafbehörden nicht gebunden. Aus der Tatsache, dass sämtliche
Täter gemäss Art. 189 StGB und nicht gemäss Art. 190 StGB bestraft wurden,
lasse sich deshalb keine Reduktion der beantragten Genugtuung begründen.

2.2 Das Verwaltungsgericht trat auf die Beschwerde in diesem Punkt nicht ein.
Es ging davon aus, soweit sich die Beschwerdeführerin neu und erstmals auf
weitere Straftaten (neben der mehrfachen sexuellen Nötigung) berufe, liege eine
unter prozessualen Gesichtspunkten unzulässige Beschwerdeänderung vor, da die
behaupteten Rechtsfolgen auf einen anderen, ausserhalb des
Verfügungsgegenstands liegenden Sachverhalt abgestützt würden (mit Hinweis auf
AGVE 2001 S. 619 und MICHAEL MERKER, Rechtsmittel, Klage und
Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege, Diss. Zürich 1998, § 38 N. 3 und § 39 N. 13 f. und
28).
Das Verwaltungsgericht ging somit davon aus, es liege eine unzulässige Änderung
des Streitgegenstands vor, soweit in der Beschwerde eine Genugtuung wegen
Vergewaltigung verlangt werde.

2.3 In der Verfügung des KSD wurde jedoch die Frage, ob die Gesuchstellerin
"nur" sexuell genötigt oder auch vergewaltigt worden war, ausdrücklich
behandelt: In Erwägung III.4 wurde ausgeführt, dass aufgrund der Ermittlungen
davon auszugehen sei, dass es zwischen der Gesuchstellerin und Y.________
mindestens zweimal zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Fest stehe auch, dass
die Aufforderungen dazu jeweils von den Jugendlichen und nicht von der
Gesuchstellerin ausgegangen seien. Es müsse weiter davon ausgegangen werden,
dass Y.________ die Gesuchstellerin zumindest teilweise zum Mitmachen genötigt
habe (Oralverkehr). Er habe dabei nicht respektiert, dass die Gesuchstellerin
nicht mehr "weitermachen" wollte. Dennoch erscheine nicht rechtsgenüglich
erstellt, wieweit die Vorfälle gegen den Willen der Gesuchstellerin ausgeführt
worden seien; so habe die Jugendanwaltschaft die Täter nur wegen sexueller
Nötigung (bzw. Gehilfenschaft dazu) verurteilt und nicht wegen Vergewaltigung.

2.4 Aus dem Schreiben der Jugendanwaltschaft vom 3. November 2005 ergibt sich,
dass die Beschwerdeführerin Y.________ beschuldigt hatte, sie im Zeitraum vom
28. Mai bis 19. Juni 2004 insgesamt zweimal vergewaltigt und neunmal zum
Oralverkehr gezwungen zu haben. Sämtliche Handlungen seien ohne bzw. gegen
ihren Willen erfolgt.
Der Beschuldigte gab in seiner ersten polizeilichen Befragung an, einmal
einverständlich Geschlechtsverkehr mit der Beschwerdeführerin gehabt zu haben.
Bei seiner zweiten Einvernahme räumte er ein, im fraglichen Zeitraum zweimal
Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt zu haben. Beim ersten Mal sei sie anfänglich
einverstanden gewesen, habe dann aber plötzlich nicht mehr weitermachen wollen.
Er habe ihr gedroht, sie zu schlagen oder umzubringen, wenn sie nicht
weitermache. Beim zweiten Mal sei dagegen alles mit ihrem Einverständnis
geschehen. Im gesamten Zeitraum sei er von ihr ca. fünfmal oral befriedigt
worden. Auch dabei habe sie jeweils anfänglich freiwillig mitgemacht, habe sich
dann aber zurückziehen wollen, worauf er ihr gedroht habe, ihr das
Zungenpiercing herauszureissen, sie mit den Füssen zu treten oder sie
umzubringen, wenn sie nicht weitermache. Diese Aussage widerrief er später mit
Schreiben an die Jugendanwaltschaft: Alle Handlungen seien im beidseitigen
Einverständnis erfolgt.
Die Jugendanwaltschaft hielt es für erwiesen (u.a. aufgrund der Aussagen des
mitangeklagten Z.________), dass Y.________ die Geschädigte zumindest teilweise
- hinsichtlich des Oralverkehrs - zum Mitmachen genötigt habe. Dagegen
erscheine nicht rechtsgenüglich nachgewiesen, ob der Geschlechtsverkehr bei den
beiden Vorfällen gegen den Willen der Geschädigten ausgeführt worden sei. Zwar
sei die Badezimmertüre verschlossen gewesen, was als Indiz für eine Nötigung
gewertet werden könnte. Andererseits seien sexuelle Kontakte zwischen den
Jugendlichen in der Institution verboten gewesen, weshalb das Verschliessen der
Türe auch eine von beiden gewollte Sicherheitsvorkehrung gewesen sein könnte.
Die Beweislage lasse keinen eindeutigen Schluss in die eine oder andere
Richtung zu.

2.5 Somit stand sowohl im Straf- als auch im Opferhilfeverfahren von Anfang an
der Vorwurf der Vergewaltigung im Raum. Dementsprechend wurde auch in den
Verfügungen des KSD bzgl. Soforthilfe (z.B. vom 21. November 2006) unter
"Angaben zur Straftat" vermerkt: "Sexualstraftaten; Vergewaltigung Art. 190".
Allerdings trifft es zu, dass sich die Beschwerdeführerin bzw. deren
Rechtsvertreterin erstmals in der Beschwerdeschrift vor Verwaltungsgericht
kritisch zu den Entscheiden der Jugendanwaltschaft äusserte und geltend machte,
Y.________ sei zu Unrecht nur wegen sexueller Nötigung verurteilt worden. Im
Gesuch vom Februar 2012 wurde zum Tathergang (S. 3) einzig auf das Schreiben
der Jugendanwaltschaft vom 3. November 2005 verwiesen; in den ergänzenden
Ausführungen (zu den Folgen der Gewalttat) ist von "sexuellen Übergriffen" die
Rede, ohne diese näher zu umschreiben.
Entscheidend ist jedoch, dass das KSD (trotz der fehlenden Angaben im Gesuch)
den Vorwurf der Vergewaltigung kannte und wusste, dass es im Aufnahmeheim
Safenwil, im fraglichen Zeitraum, zweimal zum Geschlechtsverkehr zwischen der
Geschädigten und einem der drei Täter gekommen war, deren Freiwilligkeit
umstritten war. Unter diesen Umständen gehörte die Prüfung einer allfälligen
Vergewaltigung zum massgeblichen Sachverhalt, der von der Opferhilfebehörde von
Amtes wegen abzuklären war (Art. 16 Abs. 2 aOHG; Art. 29 Abs. 2 OHG vom 23.
März 2007 [SR 312.5]). Der KSD hat sich denn auch in seiner Verfügung zur
Vergewaltigung geäussert, die er jedoch nicht für genügend erstellt erachtete.
Unter diesen Umständen gehörte die Genugtuung wegen Vergewaltigung zum
Streitgegenstand in erster und zweiter Instanz und war somit vom
Verwaltungsgericht frei zu prüfen (Art. 17 aOHG; Art. 29 Abs. 2 OHG).

3.
Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der
Sache an das Verwaltungsgericht. Dieses wird prüfen müssen, ob von einer
(einmaligen oder mehrfachen) Vergewaltigung auszugehen ist und inwiefern sich
dies auf die Genugtuungsforderung der Geschädigten auswirkt.
Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG) und keine
Parteientschädigungen zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 1. Kammer, vom 4.Juli
2012, aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen
an das Verwaltungsgericht zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben und keine Parteientschädigungen zugesprochen.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Departement Gesundheit und
Soziales des Kantons Aargau, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1.
Kammer, und dem Bundesamt für Justiz, Direktionsbereich Öffentliches Recht,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Januar 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Die Gerichtsschreiberin: Gerber