Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.37/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 1/2}
1C_37/2012

Urteil vom 10. Mai 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiber Mattle.

Verfahrensbeteiligte
Kreis Oberengadin, Beschwerdeführer, handelnd durch den Kreisvorstand,
vertreten durch Rechtsanwalt
Stefan Metzger,

gegen

Initiativkomitee WOHNEN IM OBERENGADIN,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ungültigerklärung einer Initiative,

Beschwerde gegen das Urteil vom 15. November 2011 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Graubünden,
1. Kammer als Verfassungsgericht.

Sachverhalt:

A.
Im Februar 2011 wurde im Kreis Oberengadin die Initiative "Wohnen im Engadin"
eingereicht. Nach der Initiative soll das Regionalplanungsgesetz des Kreises
Oberengadin durch einen neuen Artikel 3bis "Erstwohnungsanteil" ergänzt werden:
"1. Der Kreisrat erlässt einen Richtplan zur Regelung des Erstwohnungsanteils
im Oberengadin oder erweitert den Regionalen Richtplan Zweitwohnungsbau um
einen entsprechenden Artikel.
2. In allen Bauzonen beträgt der Erstwohnungsanteil pro Grundstück bzw. pro
Überbauung mindestens die Hälfte der für Wohnzwecke bestimmten
Bruttogeschossfläche (BFG). Diese Erstwohnungsanteilspflicht wird bei
altrechtlichen Wohnungen durch Ersatzbau, Wiederaufbau und Erweiterung sowie
durch Umnutzung ausgelöst.
3. Die Erstwohnungsanteilspflicht ist real zu erfüllen und gilt zeitlich
unbeschränkt. Eine Abgeltung zur Entbindung der Nutzungspflicht ist nicht
möglich."

B.
Im Wesentlichen mit der Begründung, sie verstosse gegen übergeordnetes Recht,
beantragte der Kreisvorstand dem Kreisrat, die Initiative sei für ungültig zu
erklären. Der Kreisrat folgte diesem Antrag am 28. April 2011. Eine von den
einzelnen Mitgliedern des Initiativkomitees gegen die Ungültigerklärung der
Initiative erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden am 15. November 2011 gut. Es hob die Ungültigerklärung auf und wies
den Kreis Oberengadin an, die Initiative in den Gemeinden zur Abstimmung zu
bringen.

C.
Gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil hat der Kreis Oberengadin, vertreten
durch den Kreisvorstand Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Er beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Der Kreis Oberengadin sei anzuweisen,
den Stimmberechtigten nur den ersten Absatz des von den Initianten
vorgeschlagenen Artikels 3bis "Erstwohnungsanteil" zur Abstimmung zu
unterbreiten. Eventualiter sei die Angelegenheit an den Kreisrat zur weiteren
Behandlung im Sinne der Erwägungen zurückzuweisen. Subeventualiter sei die
Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen
zurückzuweisen.

D.
Die Vorinstanz verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid und
beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werde. Der
Beschwerdegegner beantragt ebenfalls, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit
darauf eingetreten werde.

E.
Mit Eingabe vom 13. März 2012 hält der Beschwerdeführer an der Beschwerde fest.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt er, es sei beim Schweizerischen
Bundesrat eine Vernehmlassung zur Frage einzuholen, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang die Initiative "Wohnen im Engadin" nach der Annahme der
eidgenössischen Volksinitiative "Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen"
noch zur Abstimmung gebracht werden dürfe.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und
Bürgerinnen sowie betreffend Volkswahlen und Abstimmungen nach Art. 82 lit. c
BGG kann die Verletzung von politischen Rechten geltend gemacht werden. Unter
anderem kann geltend gemacht werden, eine Volksinitiative sei zu Unrecht für
ungültig erklärt und einer Abstimmung durch die Stimmberechtigten entzogen
worden. Ebenso kann gerügt werden, eine Volksinitiative werde zu Unrecht für
gültig erklärt und den Stimmberechtigten zur Abstimmung unterbreitet (vgl. BGE
128 I 190 E. 1.3 S. 194; Urteil 1C_92/2010 vom 6. Juli 2010 E. 1.2, in: ZBl 112
/2011 S. 262; Urteil 1P.541/2006 vom 28. März 2007 E. 2.1, nicht publiziert in:
BGE 133 I 110). In kantonalen und kommunalen Angelegenheiten ist die
Stimmrechtsbeschwerde zulässig gegen Akte letzter kantonaler Instanzen (Art. 88
Abs. 1 und 2 BGG).
Mit dem angefochtenen Urteil hob das Verwaltungsgericht die Ungültigerklärung
der Initiative "Wohnen im Engadin" durch den Kreisrat auf und wies den Kreis
an, die Initiative zur Abstimmung zu bringen. Der Beschwerdeführer rügt, die
Initiative sei zu Unrecht für gültig erklärt worden. Beim angefochtenen
Entscheid handelt es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid, gegen
den die Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte nach dem Gesagten
grundsätzlich offen steht.

2.
Das Beschwerderecht in Stimmrechtssachen steht gemäss Art. 89 Abs. 3 BGG jeder
Person zu, die in der betreffenden Angelegenheit stimmberechtigt ist. Der Kreis
Oberengadin ist wie Gemeinden und andere öffentlich-rechtliche Körperschaften
nicht Träger politischer Rechte und daher nach Art. 89 Abs. 3 BGG nicht zur
Beschwerde legitimiert (vgl. BGE 136 I 404 E. 1.1.1 S. 406; 134 I 172 E. 1.3.1
f. S. 175 mit Hinweisen). Weil Art. 89 Abs. 3 BGG die Legitimation zur
Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte ans Bundesgericht in
spezifischer Weise und erschöpfend umschreibt (BGE 134 I 172 E. 1.3.3 S. 176
mit Hinweisen), kann sich der Kreis Oberengadin auch nicht mit Erfolg auf die
allgemeine (primär auf den Schutz Privater zugeschnittene)
Beschwerdelegitimation von Art. 89 Abs. 1 BGG berufen.

3.
Nach Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG sind Gemeinden und andere öffentlich-rechtliche
Körperschaften zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
berechtigt, wenn sie die Verletzung von Garantien rügen, die ihnen die Kantons-
oder Bundesverfassung gewährt. Hierbei handelt es sich um eine besondere
Berechtigung zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten im Sinne
von Art. 82 lit. a BGG für Gemeinwesen, die nicht allein mit der Begründung
ausgeschlossen werden darf, die Beschwerde betreffe die politischen Rechte (BGE
136 I 404 E. 1.1.1 S. 406). Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG ist insbesondere
anwendbar auf öffentlich-rechtliche Körperschaften, die eine Verletzung ihrer
von der Kantons- oder Bundesverfassung garantierten Autonomie rügen.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe den Kreisrat
kantonsverfassungswidrig angewiesen, die Initiative vollständig den
Stimmberechtigten zu unterbreiten. Damit habe sie ihn einer verfassungsmässig
ihm zustehenden Kompetenz beraubt. Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die
Gemeindeautonomie nach Massgabe des kantonalen Rechts. Auf kantonaler Ebene
erklärt Art. 65 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Graubünden vom 18. Mai bzw.
24. September 2003 (KV GR) die Gemeinden für autonom im Umfang des kantonalen
Rechts. Eine entsprechende Bestimmung, die auch den Kreisen (vgl. Art. 68 ff.
KV GR) ausdrücklich Autonomie einräumen würde, ist der Kantonsverfassung
dagegen nicht zu entnehmen. Der Beschwerdeführer legt zudem nicht dar,
inwiefern ihm das kantonale Recht bei der Beurteilung der Gültigkeit von
Volksinitiativen Autonomie einräumen sollte. Zwar bringt er vor, er sei gemäss
Kantonsverfassung für die regionale Richtplanung zuständig. Gegenstand der
vorliegenden Beschwerde ist indessen nicht ein Richtplan oder ein die
Richtplanung betreffender Erlass, sondern der vorinstanzliche Entscheid, mit
dem die Ungültigerklärung einer Initiative aufgehoben worden ist.
Soweit der Beschwerdeführer rügen wollte, das angefochtene Urteil verletze
Garantien, die ihm die Kantons- oder Bundesverfassung bei der Beurteilung der
Gültigkeit von Volksinitiativen auf Kreisebene gewährleiste, begründet er dies
im Hinblick auf Art. 106 Abs. 2 BGG nicht in genügender Weise (vgl. auch BGE
134 I 172 E. 1.3.4 S. 176).

4.
Für das Einholen einer Stellungnahme des Bundesrats zur Frage, ob und
gegebenenfalls in welchem Umfang die Initiative "Wohnen im Engadin" zur
Abstimmung gebracht werden dürfe, besteht kein Anlass, weshalb darauf zu
verzichten ist. Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Es
sind keine Gerichtskosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 4 BGG). Der nicht
anwaltlich vertretene Beschwerdegegner hat keinen Anspruch auf eine
Parteientschädigung (vgl. Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden, 1. Kammer als Verfassungsgericht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Mai 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Mattle