Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.379/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_379/2012

Urteil vom 11. September 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung,
Beschwerdeführer,

gegen

X.________,
zzt. im Kanton Zürich, in Auslieferungshaft,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwältin Astrid David Müller.

Gegenstand
Auslieferung an Italien; Garantieerklärung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesstrafgerichts, Beschwerdekammer, vom
3. August 2012.

Sachverhalt:

A.
Die italienischen Behörden ersuchten am 15. April 2011 die Schweiz und andere
an das Schengener Informationssystem angeschlossene Staaten um vorläufige
Inhaftnahme von X.________ zwecks Auslieferung an Italien.

Am 2. August 2011 wurde X.________ in Zürich festgenommen. Anschliessend
versetzte ihn das Bundesamt für Justiz (im Folgenden: Bundesamt) in
Auslieferungshaft.

Am 16. September 2011 ersuchte die italienische Botschaft in Bern formell um
die Auslieferung von X.________ zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von
drei Jahren wegen Raubes.

Am 30. Januar 2012 bewilligte das Bundesamt die Auslieferung.

B.
Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesstrafgericht
(Beschwerdekammer) am 3. August 2012 ab. Es ordnete Folgendes an:

"Die Auslieferung von X.________ an Italien erfolgt unter der Bedingung, dass
die ersuchende Behörde vorab eine ausreichende Garantieerklärung abgibt, wonach
die unangemessene Dauer des Verfahrens durch kompensatorische Massnahmen
berücksichtigt wird" (Dispositiv Ziffer 3).

C.
Das Bundesamt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der Entscheid des Bundesstrafgerichts sei aufzuheben. Wie das
Bundesamt in der Begründung der Beschwerde (S. 4) präzisiert, richtet sich
diese einzig gegen Ziffer 3 des Dispositivs des angefochtenen Entscheids.

D.
Das Bundesstrafgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

X.________ hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, auf die Beschwerde sei
nicht einzutreten; eventualiter sei sie abzuweisen. Er hält dafür, es fehle an
der Eintretensvoraussetzung des besonders bedeutenden Falles nach Art. 84 BGG.

Das Bundesamt hat auf eine Stellungnahme hierzu verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 84 BGG ist gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der
internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die Beschwerde nur zulässig, wenn er
unter anderem eine Auslieferung betrifft und es sich um einen besonders
bedeutenden Fall handelt (Abs. 1). Ein besonders bedeutender Fall liegt
insbesondere vor, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass elementare
Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind oder das Verfahren im Ausland schwere
Mängel aufweist (Abs. 2).

Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im
Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (BGE 134 IV 156 E. 1.3.1
S. 160 mit Hinweisen). Ein besonders bedeutender Fall ist mit Zurückhaltung
anzunehmen (BGE 136 IV 139 E. 2.4 S. 144 mit Hinweis).

Ein besonders bedeutender Fall kann auch bei einer Auslieferung nur
ausnahmsweise angenommen werden. In der Regel stellen sich insoweit keine
Rechtsfragen, die der Klärung durch das Bundesgericht bedürfen, und kommt den
Fällen auch sonst wie keine besondere Tragweite zu (BGE 134 IV 156 E. 1.3.4 S.
161).

Bei der Beantwortung der Frage, ob ein besonders bedeutender Fall gegeben ist,
steht dem Bundesgericht ein weiter Ermessensspielraum zu (BGE 134 IV 156 E.
1.3.1 S. 160 mit Hinweis).

Gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG ist in der Begründung der Rechtsschrift in gedrängter
Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt. Ist eine
Beschwerde nur unter der Voraussetzung zulässig, dass ein besonders bedeutender
Fall nach Artikel 84 vorliegt, so ist auszuführen, warum diese Voraussetzung
erfüllt ist.

Erachtet das Bundesgericht eine Beschwerde auf dem Gebiet der internationalen
Rechtshilfe in Strafsachen als unzulässig, so fällt es gemäss Art. 107 Abs. 3
BGG - abgesehen von einem hier nicht gegebenen Ausnahmefall - den
Nichteintretensentscheid innert 15 Tagen seit Abschluss eines allfälligen
Schriftenwechsels.

Nach Art. 109 BGG entscheidet die Abteilung in Dreierbesetzung über
Nichteintreten auf Beschwerden, bei denen kein besonders bedeutender Fall
vorliegt (Abs. 1). Der Entscheid wird summarisch begründet. Es kann ganz oder
teilweise auf den angefochtenen Entscheid verwiesen werden (Abs. 3).
1.2
1.2.1 Es geht hier um eine Auslieferung und damit ein Sachgebiet, bei dem die
Beschwerde nach Art. 84 Abs. 1 BGG insoweit möglich ist. Es stellt sich die
Frage, ob ein besonders bedeutender Fall gegeben sei.
1.2.2 Der Beschwerdegegner beging den ihm vorgeworfenen Raub am 3. Oktober
1995. Am 4. April 1997 erging in Italien das erstinstanzliche Strafurteil, am
11. März 2004 - also rund 7 Jahre später - das zweitinstanzliche. Am 25.
September 2009, also mehr als weitere 5 Jahre später, trat die Corte di
Cassazione auf die vom Beschwerdegegner gegen das zweitinstanzliche Urteil
erhobene Beschwerde nicht ein.

Mit Zwischenentscheid vom 26. April 2012 wies die Vorinstanz das Bundesamt an,
die italienischen Behörden einzuladen, sich dazu zu äussern, wie sie der
überlangen Verfahrensdauer Rechnung zu tragen gedächten. Die Vorinstanz
sistierte das Beschwerdeverfahren bis zum Eingang des entsprechenden Berichts.

Mit dem angefochtenen Entscheid hob die Vorinstanz die Sistierung auf. Sie
erwog (S. 6 E. 2.3), die ersuchende Behörde mache geltend, der Beschwerdegegner
habe durch seine Abwesenheit an den Prozessen die lange Verfahrensdauer selbst
verschuldet. Die Vorinstanz bemerkt, dieses Argument bringe die ersuchende
Behörde zum ersten Mal vor und sie führe nicht weiter aus, inwiefern sich die
Abwesenheit auf die Verfahrensdauer hätte auswirken können. Die ersuchende
Behörde erkläre ausdrücklich, dass die Verfahrensdauer bei der Strafzumessung
nicht berücksichtigt worden sei. Daher äussere sie sich auch nicht dazu, wie
sie der Verfahrensdauer Rechnung zu tragen gedenke. Implizit lehne sie daher
auch jegliche Kompensation im Sinne der Legge Pinto ab (wonach auf Antrag
Entschädigungen für materielle und immaterielle Schäden, welche die Betroffenen
durch eine überlange Verfahrensdauer erlitten haben, gewährt werden). Die
ergänzenden Ausführungen der ersuchenden Behörde enthielten keine stichhaltigen
Begründungen bezüglich der Verfahrensdauer im Sinne der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und könnten die Zweifel nicht
ausräumen, dass eine Verletzung des in Art. 6 EMRK gewährleisteten
Beschleunigungsgebots vorliege. Daher sei von Art. 80p IRSG Gebrauch zu machen
und die Rechtshilfe an die Auflage zu knüpfen, wonach Italien explizit eine
Garantieerklärung abzugeben habe, die unangemessene Dauer des Verfahrens durch
kompensatorische Massnahmen zu berücksichtigen. Das Bundesamt habe somit die
italienischen Behörden einzuladen, innert angemessener Frist eine entsprechende
Garantieerklärung abzugeben. Alsdann habe es zu prüfen, ob die Antwort des
ersuchenden Staates den verlangten Auflagen genügt (Art. 80p Abs. 3 IRSG).
Diese Verfügung könne mit Beschwerde beim Bundesstrafgericht angefochten werden
(Art. 80p Abs. 4 IRSG).
1.2.3 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung prüft die Schweiz die
Auslieferungsvoraussetzungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom
13. Dezember 1957 (EAUe, SR 0.353.1) auch im Lichte ihrer grundrechtlichen
völkerrechtlichen Verpflichtungen. Bei heiklen Konstellationen bestehen die
schweizerischen Behörden beim ersuchenden Staat regelmässig auf förmlichen
Garantieerklärungen bezüglich der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Der
ersuchende Staat kann in einem konkreten Einzelfall zur Einhaltung bestimmter
Garantien als Bedingung für eine Auslieferung ausdrücklich verpflichtet werden.
Das gilt auch bei Anwendbarkeit des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (
BGE 134 IV 156 E. 6.3 f. S. 164 f. mit Hinweisen), und zwar auch dann, wenn es
um die Auslieferung zum Vollzug eines vollstreckbaren Strafurteils geht (Urteil
1A.234/1997 vom 22. Oktober 1997 E. 2). Die Möglichkeit der Gewährung von
Rechtshilfe unter Auflagen sieht Art. 80p IRSG ausdrücklich vor. Diese
Bestimmung ist auch bei einer Auslieferung anwendbar (BGE 134 IV 146 E. 6.10 S.
171 mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was es rechtfertigen könnte, auf diese
Rechtsprechung zurückzukommen. Der angefochtene Entscheid steht damit in
Einklang und er beruht mit Art. 80p IRSG auf einer gesetzlichen Grundlage. Die
Zeitspannen zwischen den Urteilen im italienischen Verfahren erscheinen als
ausserordentlich lange. Die italienischen Behörden haben dafür, was der
Beschwerdeführer nicht substanziiert in Frage stellt, keine plausible Erklärung
gegeben. Wenn die Vorinstanz unter diesen Umständen vom ersuchenden Staat die
erwähnte Garantieerklärung verlangt hat, ist das nachvollziehbar. Es geht um
einen Entscheid im Einzelfall ("cas d'espèce"). Rechtliche Grundsatzfragen
stellen sich nicht. Inwiefern der angefochtene Entscheid, wie der
Beschwerdeführer behauptet, widersprüchlich sein soll, führt dieser nicht näher
aus und ist nicht ersichtlich.
Angesichts dessen besteht für das Bundesgericht - im Lichte der auch bei
Auslieferungen restriktiven Praxis (oben E. 1.1) - kein Anlass, den
vorliegenden Fall als besonders bedeutend einzustufen. Der Beschwerdegegner
legt das (Vernehmlassung S. 3 ff.) zutreffend dar.

Die Beschwerde ist danach unzulässig.

2.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Die Eidgenossenschaft hat der Vertreterin des Beschwerdegegners für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und
2 BGG). Der mit Rechnung vom 30. August 2012 geltend gemachte Betrag von Fr.
1'375.90 (inkl. Mehrwertsteuer) ist angemessen und zuzusprechen. Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Eidgenossenschaft (Bundesamt für Justiz) hat der Vertreterin des
Beschwerdegegners, Rechtsanwältin Astrid David Müller, eine Entschädigung von
Fr. 1'375.90 zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. September 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Härri