Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.353/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_353/2012

Urteil vom 9. November 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Stohner.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Walter A. Stöckli,

gegen

Sicherheitsdirektion Uri, Lehnplatz 22, 6460 Altdorf UR.

Gegenstand
Entzug des Führerausweises,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 1. Juni 2012 des Obergerichts des Kantons
Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung.

Sachverhalt:

A.
Das Landgericht Uri, Strafrechtliche Abteilung, sprach X.________ mit Urteil
vom 7. September 2010 wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
von 80 km/h auf der Autobahn um netto 39 km/h, begangen am 27. Januar 2010, der
groben Verkehrsregelverletzung schuldig. Das Urteil ist in Rechtskraft
erwachsen.

Am 22. November 2011 verfügte das Amt für Strassen- und Schiffsverkehr des
Kantons Uri gegenüber X.________ den Führerausweisentzug für eine Dauer von
zwölf Monaten, gerechnet ab Deponierung des Ausweises. Die gegen diese
Verfügung erhobene Beschwerde von X.________ wies die Sicherheitsdirektion Uri
mit Verfügung vom 1. Februar 2012 ab.

Am 22. Februar 2012 reichte X.________ beim Obergericht des Kantons Uri
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein. Mit Entscheid vom 1. Juni 2012 wies das
Obergericht die Beschwerde ab.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________,
der Entscheid des Obergerichts vom 1. Juni 2012 und die Verfügung des Amtes für
Strassen- und Schiffsverkehr vom 22. November 2011 seien aufzuheben, und von
einem Führerausweisentzug sei abzusehen.

Die Sicherheitsdirektion und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassungen
zur Beschwerde. Das Bundesamt für Strassen, Sekretariat
Administrativmassnahmen, beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Eingaben
wurden dem Beschwerdeführer zur Kenntnisnahme zugestellt.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über einen
Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben
(Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Bundesrecht, was
zulässig ist (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1 BGG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die Beschwerde
grundsätzlich einzutreten ist.

Nicht einzutreten ist jedoch auf den Antrag des Beschwerdeführers, die
Verfügung des Amtes für Strassen- und Schiffsverkehr aufzuheben.
Unterinstanzliche Entscheide sind mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nicht selbstständig anfechtbar. Sie werden mit Blick auf den
Devolutiveffekt durch den Entscheid der letzten kantonalen Instanz ersetzt und
gelten mit der dagegen gerichteten Beschwerde als mitangefochten (vgl. BGE 134
II 142 E. 1.4 S. 144).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf das Urteil des EGMR vom 10.
Februar 2009 im Fall Zolotukhin gegen Russland geltend, es verstosse gegen den
Grundsatz "ne bis in idem", ihm zusätzlich zur strafrechtlichen Verurteilung
vom 7. September 2010 im nachträglichen Administrativverfahren den
Führerausweis zu entziehen. Das System des doppelten Verfahrens bei
Strassenverkehrsdelikten sei unzulässig, und es bedürfe einer Praxisänderung,
denn BGE 137 I 363 überzeuge nicht.

2.2 Niemand darf wegen einer Straftat, für welche er bereits nach dem Gesetz
und dem Strafverfahrensrecht eines Staats rechtskräftig verurteilt oder
freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut
verfolgt oder bestraft werden. Dieser Anspruch, "ne bis in idem", wird
garantiert durch Art. 4 Ziff. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK, abgeschlossen
in Strassburg am 22. November 1984 und in der Schweiz in Kraft getreten am 1.
November 1988 (SR 0.101.07), sowie durch Art. 14 Abs. 7 des Internationalen
Pakts über bürgerliche und politische Rechte, abgeschlossen in New York am 16.
Dezember 1966 und für die Schweiz in Kraft getreten am 18. September 1992
(UNO-Pakt II; SR 0.103.2). Der Grundsatz "ne bis in idem" lässt sich zudem
implizit aus der Bundesverfassung herleiten (BGE 128 II 355 E. 5.1 S. 367; vgl.
auch BGE 125 II 402 E. 1b S. 404). Schliesslich sieht auch Art. 11 Abs. 1 StPO
(SR 312.0) unter dem Randtitel "Verbot der doppelten Strafverfolgung" vor, dass
jemand, der in der Schweiz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden
ist, wegen der gleichen Straftat nicht erneut verfolgt werden darf (vgl. zum
Ganzen BGE 137 I 363 E. 2.1 S. 364 f.).

2.3 Das Schweizerische Recht sieht im Bereich der Ahndung von Verstössen gegen
die Strassenverkehrsregeln ein doppelspuriges Straf- und Verwaltungsverfahren
vor: Das Strafgericht entscheidet über die in den strafrechtlichen Bestimmungen
des SVG (Art. 90 ff. SVG) und im StGB (Art. 34 ff.; 106 und 107 StGB)
vorgesehenen Sanktionen (Busse, Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit oder
Freiheitsentzug), während die zuständige Verwaltungsbehörde über die in den
Art. 16 ff. SVG vorgesehenen Administrativmassnahmen (Verwarnung oder
Führerausweisentzug) befindet.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts verletzt die Parallelität von
Straf- und Verwaltungsverfahren bei Strassenverkehrsdelikten den Grundsatz "ne
bis in idem" nicht (BGE 128 II 133 E. 3b/aa S. 135 f. mit Hinweis). Die
Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" setzt insbesondere voraus, dass dem
Gericht im ersten Verfahren die Möglichkeit zugestanden haben muss, den
Sachverhalt unter allen tatbestandsmässigen Punkten zu würdigen. Dies aber
trifft bei Strassenverkehrsdelikten aufgrund der beschränkten
Beurteilungskompetenz der verschiedenen Behörden nicht zu (BGE 125 II 402 E. 1b
S. 404; vgl. auch sogleich E. 2.4).

2.4 Das Bundesgericht hat in dem vom Beschwerdeführer angeführten BGE 137 I 363
seine bisherige Praxis einer Überprüfung unterzogen und dabei die Frage
geprüft, ob das durch das SVG vorgesehene doppelspurige Straf- und
Administrativverfahren mit Art. 4 Ziff. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK
entsprechend der Auslegung des EGMR im Urteil Zolotukhin gegen Russland vom 10.
Februar 2009 vereinbar ist. Das Bundesgericht hat sich in diesem Entscheid
vertieft mit der Lehre (E. 2.3.1 S. 366 f.) und mit der Rechtsprechung des EGMR
(E. 2.3.3 S. 368) auseinandergesetzt und ist unter Würdigung des Urteils
Zolotukhin zum Ergebnis gekommen, dass der Grundsatz "ne bis in idem" durch die
Kumulierung von straf- und verwaltungsrechtlicher Sanktion bei
Verkehrsregelverletzungen nicht verletzt wird (E. 2.4 S. 369 f.).

Wie das Bundesgericht in BGE 137 I 363 ausgeführt hat, betrifft der Entscheid
Zolotukhin nicht das Strassenverkehrsrecht und äussert sich nicht zum
Nebeneinander von Straf- und Administrativverfahren im Bereich von
Verkehrsregelverletzungen. Diese Materie ist in verschiedener Hinsicht
besonders geartet. Namentlich handelt es sich beim Führerausweisentzug, trotz
seines strafähnlichen Charakters, um eine von der strafrechtlichen Sanktion
unabhängige Verwaltungssanktion mit vorwiegend präventiver und erzieherischer
Funktion. Das durch das SVG vorgesehene dualistische System, in welchem das
Strafgericht keine Kompetenz hat, den Führerausweisentzug anzuordnen, und die
Administrativbehörde nicht befugt ist, die Strafbestimmungen des SVG
anzuwenden, führt dazu, dass nur das Zusammenwirken der beiden Behörden es
ermöglicht, den Sachverhalt unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu
würdigen. Folge ist, dass zwei Behörden mit unterschiedlichen Kompetenzen,
welche nicht über dieselben Sanktionsmöglichkeiten verfügen und
unterschiedliche Zwecke verfolgen, hintereinander denselben Sachverhalt in zwei
verschiedenen Verfahren beurteilen. Diese Konstellation entspricht nicht
derjenigen, die vom EGMR im Fall Zolothukin beanstandet worden ist (BGE 137 I
363 E. 2.4 S. 369 f.; vgl. ferner Urteile 1C_268/2012 vom 31. Oktober 2012 und
1C_28/2012 vom 25. Mai 2012 E. 2.2).

Der Beschwerdeführer bringt in seiner Beschwerde keine Argumente vor, mit
welchen sich das Bundesgericht nicht bereits in BGE 137 I 363
auseinandergesetzt hat. An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten des
bundesgerichtlichen Verfahrens (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Sicherheitsdirektion Uri, dem
Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt
für Strassen, Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. November 2012

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Stohner