Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.348/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_348/2012

Urteil vom 8. Mai 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Mario Weber,

gegen

Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, Generalsekretariat,
Ringstrasse 19,
8510 Frauenfeld.

Gegenstand
Opferhilfe; Übernahme der Anwaltskosten,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 16. Mai 2012 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau.

Sachverhalt:

A.
X.________ begab sich am Abend des 19. September 2009 in Bern in den Ausgang
und lernte Y.________ kennen. In einer Wohnung kam es zwischen ihnen zu
sexuellen Handlungen.
X.________ zeigte in der Folge Y.________ wegen Schändung an. Es wurde ein
Strafverfahren eröffnet.
Am 7. Januar 2011 ersuchte X.________ das Departement für Justiz und Sicherheit
des Kantons Thurgau (im Folgenden: Departement) gestützt auf das
Opferhilfegesetz um subsidiäre Gutsprache für ihre Anwaltskosten im
Strafverfahren.
Mit Verfügung vom 8. Februar 2011 erteilte das Departement die Gutsprache. Es
wies darauf hin, diese habe den Sinn einer Ausfallgarantie. Sie werde erst
aktuell, wenn sich herausstellen sollte, dass die Anwaltskosten nicht von
anderer Seite (haftpflichtiger Täter bzw. sein Versicherer, unentgeltliche
Rechtspflege) vergütet werden müssten und uneinbringlich seien. Für die
anwaltliche Vertretung im hängigen Strafverfahren werde somit die
unentgeltliche Rechtspflege zu beantragen sein. Über den allfällig zu
leistenden Betrag werde zu gegebener Zeit aufgrund einer detaillierten
Kostennote zu befinden sein. Das Departement gehe dabei von einem maximalen
Stundenansatz von Fr. 200.-- aus. Im Weiteren erklärte es sich bereit zur
Übernahme der Wegkosten von X.________ zum Anwalt. Zu gegebener Zeit benötige
es eine detaillierte Kostenrechnung.
Am 22. Februar 2011 ersuchte X.________ im Strafverfahren um unentgeltliche
Rechtspflege. Mit Verfügung vom 16. März 2011 wies der Präsident des
Regionalgerichts Bern-Mittelland das Gesuch mangels Bedürftigkeit ab.
Am 9. November 2011 sprach das Regionalgericht Y.________ vom Vorwurf der
Schändung frei. Das Urteil erwuchs in Rechtskraft.

B.
Am 14. Februar 2012 ersuchte X.________ das Departement unter Hinweis auf
dessen Verfügung vom 8. Februar 2011 um die Übernahme ihrer Anwaltskosten im
Strafverfahren von insgesamt Fr. 5'949.95.
Am 23. Februar 2012 wies das Departement das Gesuch ab.
Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau am 16. Mai 2012 ab (Dispositiv Ziff. 1). Verfahrenskosten erhob
es keine (Ziff. 2).

C.
X.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag, die Entscheide des Departements vom 23.
Februar 2012 und des Verwaltungsgerichts seien aufzuheben. Der Kanton sei zu
verpflichten, den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin an deren Stelle mit
Fr. 5'949.95 für seine Bemühungen als Opfervertreter im Strafverfahren zu
entschädigen. Eventualiter sei die Angelegenheit an das Departement zur
Berechnung eines allfälligen Anteils der Beschwerdeführerin an den
Anwaltskosten zurückzuweisen. Das Verwaltungsgericht habe die
Beschwerdeführerin für das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren
angemessen zu entschädigen.

D.
Das Verwaltungsgericht und das Departement beantragen je unter Hinweis auf die
von ihnen gefällten Entscheide die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Justiz hat sich vernehmen lassen. Es beantragt die
Gutheissung der Beschwerde.
X.________ hat sich den Ausführungen des Bundesamtes angeschlossen.

Erwägungen:

1.
1.1 Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 82 lit. a BGG die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegeben (Urteil 1C_420/
2010 vom 25. Januar 2011 E. 1 mit Hinweis, nicht publ. in BGE 137 II 122).
Eine Ausnahme nach Art. 83 BGG besteht nicht.
Bei der Opferhilfe geht es nicht um Staatshaftung (BGE 132 II 117 E. 2.2.4 S.
121; 125 II 554 E. 2a S. 556; je mit Hinweisen). Die Streitwertgrenze gemäss
Art. 85 Abs. 1 lit. a BGG ist somit nicht anwendbar (Urteil 1C_45/2007 vom 30.
November 2007 E. 2.2, nicht publ. in BGE 134 II 33).
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist daher
nach Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG zulässig.

Die Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt.

Das vorinstanzliche Urteil stellt einen nach Art. 90 BGG anfechtbaren
Endentscheid dar.

Da auch die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich einzutreten.

Gemäss Art. 113 BGG scheidet die subsidiäre Verfassungsbeschwerde damit aus.

1.2 Nicht eingetreten werden kann auf den Antrag, auch der Entscheid des
Departements sei aufzuheben. Aufgrund des Devolutiveffekts ist der
verwaltungsgerichtliche Entscheid an dessen Stelle getreten. Der Entscheid des
Departements ist somit nicht mehr Anfechtungsgegenstand (vgl. BGE 129 II 438 E.
1 S. 441; Urteil 1A.12/2004 vom 30. September 2004 E. 1.3, in: ZBl 106/2005 S.
43; je mit Hinweisen).

2.
2.1 Die Vorinstanz erwägt im Wesentlichen, nach dem Urteil des Regionalgerichts
könne die Beschwerdeführerin nicht mehr als Opfer im Sinne des Bundesgesetzes
vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz,
OHG; SR 312.5) bezeichnet werden, da das Erfordernis der Straftat nach Art. 1
OHG nicht (mehr) erfüllt sei. Das Opferhilfegesetz bezwecke zwar die möglichst
umgehende und umfassende Hilfe an Opfer von Straftaten. Es könne aber nicht
sein, dass jemand die Opferstellung behalte, obwohl der Beschuldigte
freigesprochen worden sei. Würde auf das Erfordernis der Straftat verzichtet,
könnte jeder Strafanzeige erstatten und sich auf Kosten der Opferhilfe
anwaltlich vertreten lassen. Selbst bei einer ungerechtfertigten Anzeige wären
die Kosten dann vom Staat zu übernehmen. Einen Anspruch gestützt auf das
Opferhilfegesetz könne die Beschwerdeführerin daher nicht geltend machen.
Ebenso wenig stehe ihr nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ein Anspruch auf
Ersatz der Anwaltskosten zu. Auf die subsidiäre Kostengutsprache des
Departements vom 8. Februar 2011 könne sie sich nicht berufen. Zwar sei diese
nicht ganz eindeutig formuliert, doch hätte dem Vertreter der
Beschwerdeführerin als Anwalt klar sein müssen, dass bei fehlender Straftat
auch die Voraussetzungen zur Leistung von Opferhilfe entfielen.

2.2 Die Beschwerdeführerin wendet ein, der angefochtene Entscheid verletze Art.
1 und 13 OHG; ebenso ihren Anspruch auf Vertrauensschutz nach Art. 9 BV.

2.3 Gemäss Art. 1 OHG hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer
körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt
worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe;
Abs. 1). Der Anspruch besteht unabhängig davon, ob der Täter oder die Täterin:
a. ermittelt worden ist; b. sich schuldhaft verhalten hat; c. vorsätzlich oder
fahrlässig gehandelt hat (Abs. 3).

Nach Art. 2 OHG umfasst die Opferhilfe: a. Beratung und Soforthilfe; b.
längerfristige Hilfe der Beratungsstellen; c. Kostenbeiträge für längerfristige
Hilfe Dritter; d. Entschädigung; e. Genugtuung; f. Befreiung von
Verfahrenskosten.

Besondere Rechte stehen dem Opfer auch im Strafverfahren zu (Art. 117 StPO).

Gemäss Art. 4 OHG werden Leistungen der Opferhilfe nur endgültig gewährt, wenn
der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder
Institution keine oder keine genügende Leistung erbringt (Abs. 1). Wer
Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter (...) beansprucht, muss
glaubhaft machen, dass die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt sind (...)
(Abs. 2).
Nach Art. 13 OHG leisten die Beratungsstellen dem Opfer und seinen Angehörigen
sofort Hilfe für die dringendsten Bedürfnisse, die als Folge der Straftat
entstehen (Soforthilfe; Abs. 1). Sie leisten dem Opfer und dessen Angehörigen
soweit nötig zusätzliche Hilfe, bis sich der gesundheitliche Zustand der
betroffenen Person stabilisiert hat und bis die übrigen Folgen der Straftat
möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind (längerfristige Hilfe; Abs. 2). Die
Beratungsstellen können die Soforthilfe und die längerfristige Hilfe durch
Dritte erbringen lassen (Abs. 3).
Gemäss Art. 14 Abs. 1 Satz 1 OHG umfassen die Leistungen insbesondere die
angemessene juristische Hilfe in der Schweiz, die als Folge der Straftat
notwendig geworden ist.

Im vorliegenden Fall geht es um längerfristige juristische Hilfe durch einen
Dritten nach Art. 13 Abs. 2 f. i.V.m. Art. 14 Abs. 1 OHG.

2.4 Nach der Rechtsprechung sind die Anforderungen an den Nachweis einer die
Opferstellung begründenden Straftat je nach dem Zeitpunkt sowie nach Art und
Umfang der beanspruchten Hilfe unterschiedlich hoch. Während die Zusprechung
einer Genugtuung oder einer Entschädigung den Nachweis der Opferstellung und
damit auch einer tatbestandsmässigen und rechtswidrigen Straftat voraussetzt,
genügt es für die Wahrnehmung der Rechte des Opfers im Strafverfahren, dass
eine die Opferstellung begründende Straftat ernsthaft in Betracht fällt.
Gleiches gilt für die Soforthilfen. Damit diese ihren Zweck erfüllen können,
müssen sie rasch gewährt werden, bevor endgültig feststeht, ob ein
tatbestandsmässiges und rechtswidriges Verhalten des Täters zu bejahen ist oder
nicht. Dagegen kann die Gewährung von Langzeithilfe unter Umständen von den
ersten Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens abhängig gemacht werden. Kommt die
Beratungsstelle im Verlaufe der Betreuung einer Person zum Schluss, dass das
Opferhilfegesetz im konkreten Fall - entgegen ihrer ersten Einschätzung - nicht
anwendbar ist, sieht sie von weiteren Hilfeleistungen ab. Dagegen kann die
bereits geleistete Hilfe grundsätzlich nicht zurückgefordert werden, es sei
denn, der Gesuchsteller habe sich rechtsmissbräuchlich, unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen, als Opfer ausgegeben (BGE 125 II 265 E. 2c/aa S. 270 mit
Hinweisen).
Dieselben Massstäbe müssen auch angelegt werden, wenn erst nach Abschluss des
Strafverfahrens über die Übernahme der Kosten einer bereits geleisteten
Beratungshilfe entschieden wird. Auch hier darf nicht einfach auf den Ausgang
des Straf- bzw. Ermittlungsverfahrens abgestellt werden, sondern es muss
berücksichtigt werden, ob im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Beratungshilfe
vom Vorliegen einer Straftat auszugehen war. Ist dies zu bejahen, besteht
grundsätzlich ein Anspruch auf unentgeltliche Beratungshilfe, auch wenn sich
zwischenzeitlich ergeben hat, dass keine tatbestandsmässige und rechtswidrige
Straftat vorliegt (BGE 125 II 265 E. 2c/bb S. 270 f. mit Hinweis; bestätigt in
BGE 134 II 33 E. 5.4 S. 37).
Diese Rechtsprechung erging zum alten Opferhilfegesetz vom 4. Oktober 1991. Sie
behält auch unter der Herrschaft des neuen Opferhilfegesetzes vom 23. März 2007
ihre Gültigkeit (vgl. Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des
Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten, BBl 2005 7203; DOMINIK
ZEHNTNER, in: Kommentar zum Opferhilfegesetz, 3. Aufl. 2009, N. 43 f. zu Art. 1
OHG).

2.5 Der angefochtene Entscheid steht mit der Rechtsprechung in Widerspruch.
Massgeblich ist danach, ob im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der längerfristigen
Hilfe die Voraussetzungen dafür erfüllt waren. Dies stellt die Vorinstanz nicht
in Frage. Das Departement gewährte am 8. Februar 2011 die subsidiäre
Kostengutsprache und ging somit in der Sache davon aus, eine Straftat gegen die
sexuelle Integrität der Beschwerdeführerin komme in Betracht, was unter den
gegebenen Umständen ohne Weiteres nachvollziehbar ist. Der Anspruch auf
längerfristige Hilfe war somit gegeben. Dass es nachträglich zu einem
Freispruch kam, ändert daran nichts.

2.6 Auf die Rechtsprechung zurückzukommen besteht kein Anlass.

Das Departement hat am 8. Februar 2011 die subsidiäre Gutsprache für die Kosten
der anwaltlichen Vertretung der Beschwerdeführerin im Strafverfahren gestützt
auf Art. 13 Abs. 2 und 3 OHG erteilt. Es sprach von einer Ausfallgarantie und
machte die Übernahme der Anwaltskosten einzig davon abhängig, dass sie von
anderer Seite nicht vergütet werden. Diese Bedingung ist eingetreten. Der
Beschuldigte musste aufgrund des Freispruchs die Anwaltskosten der
Beschwerdeführerin nicht tragen und deren Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
wurde abgewiesen. Das Departement wies die Beschwerdeführerin in der Verfügung
vom 8. Februar 2011 darauf hin, sie werde zu gegebener Zeit eine detaillierte
Kostennote einzureichen haben. Überdies nannte es bereits den maximalen
Stundenansatz von Fr. 200.--. Auf die Darlegungen des Departements in der
Verfügung vom 8. Februar 2011 durfte sich die Beschwerdeführerin nach Treu und
Glauben (Art. 9 BV) verlassen. Sie durfte davon ausgehen, dass sie nötigenfalls
Anspruch auf Opferhilfe haben werde und sich damit ihr Kostenrisiko vermindere.

2.7 Nach der dargelegten Rechtsprechung kommt die nachträgliche Ablehnung der
Kostenübernahme in einem Fall wie hier in Betracht, wenn sich die
Gesuchstellerin rechtsmissbräuchlich, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen,
als Opfer ausgegeben hat. Dass diese Voraussetzungen erfüllt wären, legt die
Vorinstanz nicht dar und ist nicht ersichtlich. Der Freispruch des
Beschuldigten nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" (Art. 10 Abs.
3 StPO) genügt insoweit nicht. Der Freispruch besagt lediglich, dass das
Gericht keine Klarheit darüber gewinnen konnte, was sich am 19. September 2009
in der Wohnung zwischen der Beschwerdeführerin und dem Beschuldigten genau
abgespielt hat. Die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Gesuchstellung wäre
lediglich in Betracht gekommen, wenn das Gericht den Beschuldigten wegen
erwiesener Unschuld freigesprochen hätte.

2.8 Die Beschwerde ist danach, soweit darauf einzutreten ist, gutzuheissen und
Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids aufzuheben.

Gemäss Art. 6 OHG besteht Anspruch auf Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe
Dritter (...) nur, wenn die anrechenbaren Einnahmen des Opfers (...) das
Vierfache des massgebenden Betrags für den allgemeinen Lebensbedarf nach
Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über die
Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
(ELG) nicht übersteigen (Abs. 1). Die anrechenbaren Einnahmen der
anspruchsberechtigten Person berechnen sich nach Artikel 11 ELG; massgeblich
sind die voraussichtlichen Einnahmen nach der Straftat (Abs. 2).

Nach Art. 16 OHG werden die Kosten für längerfristige Hilfe Dritter wie folgt
gedeckt: a. ganz, wenn im Sinne von Artikel 6 Absätze 1 und 2 die anrechenbaren
Einnahmen der anspruchsberechtigten Person den doppelten massgebenden Betrag
für den allgemeinen Lebensbedarf nicht übersteigen; b. anteilsmässig, wenn im
Sinne von Artikel 6 Absätze 1 und 2 die anrechenbaren Einnahmen der
anspruchsberechtigten Person zwischen dem doppelten und dem vierfachen
massgebenden Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf liegen.

Art. 1 ff. der Verordnung vom 27. Februar 2008 über die Hilfe an Opfer von
Straftaten (OHV; SR 312.51) enthalten dazu weitere Bestimmungen.

Die Sache wird in Anwendung von Art. 107 Abs. 2 Satz 2 BGG an das Departement
zurückgewiesen zur Berechnung, wieweit die Beschwerdeführerin nach Art. 6
i.V.m. Art. 16 OHG und Art. 1 ff. OHV Anspruch auf Kostengutsprache hat.

Der Umstand, dass das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche
Rechtspflege im Strafverfahren abgewiesen worden ist, schliesst einen Anspruch
auf Kostengutsprache nach dem Opferhilfegesetz nicht aus (BGE 133 II 361 E. 5.3
S. 365; 122 II 315 E. 4c/bb S. 324 mit Hinweis; Botschaft vom 9. November 2005
zur Totalrevision des Opferhilfegesetzes, a.a.O., S. 7234; ZEHNTNER, a.a.O., N.
31 zu Art. 14 OHG).

3.
Der unterliegende Kanton trägt keine Kosten (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat
er der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Bei deren Festsetzung
wird dem Umstand erhöhend Rechnung getragen, dass die Vorinstanz die Beschwerde
hätte gutheissen und der Beschwerdeführerin daher eine Entschädigung zusprechen
müssen (§ 80 des Gesetzes vom 23. Februar 1981 des Kantons Thurgau über die
Verwaltungsrechtspflege; RB 170.1). Auf die Rückweisung der Akten an die
Vorinstanz zur neuen Regelung der Entschädigungsfolgen kann daher verzichtet
werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen. Ziffer 1 des
Urteils des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16. Mai 2012 wird
aufgehoben und die Sache an das Departement für Justiz und Sicherheit des
Kantons Thurgau zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Thurgau hat der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von F.
3'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Departement für Justiz und
Sicherheit sowie dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt
für Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Mai 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Härri

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