Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.339/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_339/2012

Urteil vom 16. Januar 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiber Haag.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Nicole Gierer Zelezen,

gegen

Y.________, Beamter der Kantonspolizei St. Gallen,
handelnd durch lic. iur. Marc Hofer, Kantonspolizei St. Gallen,

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach,
Grynaustrasse 3, 8730 Uznach.

Gegenstand
Ermächtigungsverfahren,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 15. Mai 2012 der Anklagekammer des Kantons
St. Gallen.

Sachverhalt:

A.
Der Beamte der Kantonspolizei St. Gallen Y.________ forderte X.________ am 12.
März 2012 in A.________ vor dem Restaurant B.________ auf sich auszuweisen,
nachdem er gesehen hatte, dass sie einen Personenwagen ohne korrekt angelegten
Sicherheitsgurt lenkte. X.________ kam der Aufforderung nicht nach, obwohl der
Beamte ihr erklärt hatte, dass es sich um eine Verkehrskontrolle handle. Als
sie sich entfernen wollte, hielt der Polizeibeamte sie mit einer Hand am
Oberarm- und Schulterbereich fest, worauf sie um sich trat und auf den
Polizisten einschlug. Y.________ führte sie daher mit einem Streckhebel zu
Boden und hielt sie mit beiden Armen auf dem Boden fest, bis der Polizeibeamte
Z.________ bei der Kontrollstelle eintraf. Als sie sich etwas beruhigt hatte,
liess Y.________ X.________ ohne Fesselung wieder aufstehen, worauf sie
schliesslich ihren Fahrzeug- und Führerausweis vorwies. Auf ihren Wunsch hin
brachten die beiden Polizeibeamten sie anschliessend ins Spital Lindt, wo sie
ambulant behandelt wurde.
Bei ihrer polizeilichen Einvernahme vom 13. März 2012 verlangte X.________ die
Bestrafung von Y.________ wegen Köperverletzung und Tätlichkeiten. Die
Staatsanwaltschaft St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach, leitete die Strafsache
am 18. April 2012 an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen zur Durchführung
eines Ermächtigungsverfahrens weiter. Die Anklagekammer entschied am 15. Mai
2012, dass kein Strafverfahren eröffnet wird.

B.
Mit Beschwerde an das Bundesgericht vom 5. Juli 2012 beantragt X.________, der
Entscheid der Anklagekammer sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft sei
anzuweisen, gegen Y.________ ein Strafverfahren zu eröffnen. Eventuell sei das
Verfahren zu neuer Beurteilung an die Anklagekammer zurückzuweisen. Die
Beschwerdeführerin macht insbesondere geltend, das Verhalten des Polizisten sei
nicht verhältnismässig gewesen. Sie legt dazu einen Arztbericht vom 3. Juli
2012 vor, der bestätigt, dass X.________ seit dem Vorfall unter Schmerzen
leidet.
Die Staatsanwaltschaft und die Anklagekammer verzichten auf eine
Vernehmlassung. Y.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. In weiteren
Eingaben halten die Parteien an ihren Auffassungen und Anträgen fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 17 Abs. 2 lit. b Satz 1 des Einführungsgesetzes des Kantons St.
Gallen vom 3. August 2010 zur Schweizerischen Straf- und
Jugendstrafprozessordnung (SGS 962.1; im Folgenden: EG-StPO) entscheidet die
Anklagekammer über die Eröffnung des Strafverfahrens gegen Behördenmitglieder
oder Mitarbeitende des Kantons und der Gemeinden wegen strafbarer Handlungen,
die deren Amtsführung betreffen, soweit nicht der Kantonsrat zuständig ist. Im
vorliegenden Fall entschied die Anklagekammer, es sei kein Strafverfahren zu
eröffnen. Angesichts der Wortwahl in Art. 17 EG-StPO und im angefochtenen
Entscheid ist klarzustellen, dass vorliegend erst die Ermächtigung zur
Strafverfolgung in Frage steht. Der förmliche Entscheid über die Eröffnung oder
die Nichtanhandnahme obliegt kraft ausdrücklicher bundesrechtlicher Regelung
der Staatsanwaltschaft (Art. 309 und 310 StPO; BGE 137 IV 269 E. 2.3 S. 277;
Urteil des Bundesgerichts 1C_158/2012 vom 13. Juni 2012 E. 1.2).

1.2 Gegen den angefochtenen Entscheid über die Verweigerung der Ermächtigung
zur Strafuntersuchung steht nicht die Beschwerde in Strafsachen, sondern
diejenige in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (BGE 137 IV 269 E.
1.3.1 S. 272). Der Beamte der Kantonspolizei gehört nicht den obersten
kantonalen Vollziehungs- und Gerichtsbehörden an, weshalb der Ausschlussgrund
von Art. 83 lit. e BGG nicht greift (vgl. BGE 137 IV 269 E. 1.3.2 S. 272 f.).
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist somit
grundsätzlich zulässig.

1.3 Nach Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen
hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a), durch den
angefochtenen Entscheid besonders berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges
Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat (lit. c). Dafür genügt ein
tatsächliches Interesse. Ein rechtlich geschütztes Interesse wie gemäss Art. 81
BGG bei der Beschwerde in Strafsachen braucht es für die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht. Die Beschwerdeführerin hat am
Verfahren vor der Anklagekammer teilgenommen. Sie hat durch das Verhalten, das
Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs bildet, einen Eingriff in ihre
körperliche Integrität erlitten und bezeichnet sich als Opfer einer
Körperverletzung. Die Beschwerdelegitimation ist zu bejahen.

1.4 In der Begründung einer Beschwerde ist in gedrängter Form darzulegen,
inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG). Die
Bestimmungen von Art. 95 ff. BGG nennen die vor Bundesgericht zulässigen
Beschwerdegründe. Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten besteht eine
qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53, 65
E. 1.3.1 S. 68 mit Hinweisen). Es obliegt der Beschwerdeführerin namentlich
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid gegen die angerufenen
Grundrechte verstossen soll. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert
erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Auf die Beschwerde kann nur
insoweit eingetreten werden, als die Eingabe den genannten
Begründungsanforderungen entspricht.

1.5 Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
Auf die Beschwerde ist unter Vorbehalt der Ausführungen in E. 1.4 hiervor
einzutreten.

2.
2.1 Nach Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO können die Kantone vorsehen, dass die
Strafverfolgung der Mitglieder ihrer Vollziehungs- und Gerichtsbehörden wegen
im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung einer nicht
richterlichen Behörde abhängt. Diese Bestimmung bietet den Kantonen die
Möglichkeit, die Strafverfolgung sämtlicher Mitglieder ihrer Vollziehungs- und
Gerichtsbehörden von einer Ermächtigung abhängig zu machen. Als
Vollziehungsbehörden gelten alle Organisationen, die öffentliche Aufgaben
wahrnehmen. Der beschuldigte Polizeibeamte ist Mitglied einer
Vollziehungsbehörde (BGE 137 IV 269 E. 2.1 S. 275).

2.2 Die Vorinstanz führt im angefochtenen Entscheid aus, der Polizist sei
gestützt auf Art. 10 SVG berechtigt gewesen, die Fahrzeuglenkerin anzuhalten
und ihre Personalien festzustellen. Indem sich die Beschwerdeführerin nicht
ausgewiesen habe und sich entfernen wollte, habe sie sich klaren polizeilichen
Anweisungen widersetzt. Die Polizei sei berechtigt, eine Person, die sich einer
An- oder Festhaltung widersetzen wolle, unter Anwendung der erforderlichen
Gewalt zu fixieren. Da die Beschwerdeführerin sich mit Schlägen und Fusstritten
der Anhaltung durch den Polizisten habe entziehen wollen, sei nicht zu
beanstanden, dass der Polizeibeamte X.________ mit einem Armstreckhebel zu
Boden geführt und sie dort festgehalten habe, bis sie sich beruhigt habe. Sie
habe die Gewaltanwendung mit ihrem renitenten Verhalten selbst verschuldet. Das
Vorgehen des Polizisten sei durch seine Amts- und Berufspflicht gedeckt und
damit straflos (Art. 14 StGB). Beim körperlichen Einsatz gegen die
Beschwerdeführerin seien keine konkreten Anhaltspunkte für eine im
strafrechtlichen Sinn relevante unverhältnismässige Gewaltanwendung gegeben.

2.3 Die Beschwerdeführerin hält der Argumentation der Anklagekammer im
Wesentlichen entgegen, diese habe die Verhältnismässigkeit der Gewaltanwendung
nicht konkret geprüft. Aus dem angefochtenen Entscheid gehe nicht hervor,
weshalb eine derart massive Gewaltanwendung gegenüber einer 57-jährigen Frau
bei einer einfachen Verkehrskontrolle erfolgen musste. Eine wirksame und
vertiefte Untersuchung der Vorwürfe der Beschwerdeführerin habe nicht
stattgefunden. Das Verfahren sei nicht fair gewesen und die Beweise seien stark
einseitig zulasten der Beschwerdeführerin gewertet worden. Unbeachtet sei die
Tatsache geblieben, dass sämtliche Polizeirapporte von Arbeitskollegen des
beschuldigten Polizisten aufgenommen worden seien, weshalb deren Objektivität
zumindest in Frage gestellt werden müsse. Zudem habe die Beschwerdeführerin
noch heute mit den Folgen der Verletzungen zu kämpfen, die ihr bei der
Gewaltanwendung zugefügt worden seien.

2.4 Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin weist mit
ihrer Kritik an den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen auf
verschiedene Umstände hin, die aus ihrer Sicht zu einer anderen Beurteilung der
Verhältnismässigkeit des polizeilichen Handelns führen sollten. Indessen ist
nicht ersichtlich, dass sich der angefochtene Entscheid auf einen qualifiziert
unrichtig festgestellten Sachverhalt abstützt oder den
Sachverhaltsfeststellungen eine Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG
zugrunde liegt. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, sie habe eine
Fraktur des rechten Handgelenks erlitten, so stimmt diese Behauptung nicht mit
dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung im Spital Linth überein, welche am 12.
März 2012 unmittelbar im Anschluss an den Vorfall durchgeführt wurde. Auch die
weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin sind, soweit sie überhaupt den
Begründungsanforderungen (E. 1.4 hiervor) entsprechen, nicht geeignet, die
Feststellungen der Vorinstanz und deren rechtliche Würdigung als
bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen. Insbesondere wird der Vorwurf, der
polizeiliche Einsatz sei unverhältnismässig gewesen, vor dem Hintergrund des
renitenten Verhaltens der Beschwerdeführerin zu Unrecht erhoben.

3.
Es ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist, soweit darauf eingetreten
werden kann. Bei diesem Ausgang sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Antrag auf Gerichtskosten zu
verzichten kann nicht entsprochen werden, da keine Umstände ersichtlich sind,
die für einen Verzicht sprechen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem nicht anwaltlich
vertretenen Polizisten ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, Y.________, der Staatsanwaltschaft,
Untersuchungsamt Uznach, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Januar 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Haag