Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.324/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_324/2012

Urteil vom 26. September 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Stutz,

gegen

Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau, Postfach, 5001 Aarau 1,
Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse
12, 5001 Aarau.

Gegenstand
Entzug des Führerausweises.

Beschwerde gegen das Urteil vom 2. Mai 2012 des Verwaltungsgerichts des Kantons
Aargau, 1. Kammer.

Sachverhalt:

A.
X.________ fuhr am 11. November 2009, um ca. 11:20 Uhr, am Steuer eines
Lastwagens von Mülligen in Richtung Birrhard. Als er bei der Verzweigung
Birrstrasse/Ortsverbindungsstrasse nach links abbog, kollidierte er mit dem aus
seiner Sicht von links entgegenkommenden, geradeaus fahrenden, von Y.________
gelenkten Sattelschlepper. Beide Lenker wurden leicht verletzt, und beide
Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt.
Mit Strafbefehl vom 13. September 2010 bestrafte das Bezirksamt Brugg
X.________ wegen Missachtens des Vortritts beim Linksabbiegen (Art. 36 Abs. 3
i.V.m. Art. 90 Ziff. 1 SVG) sowie geringfügiger Verstösse gegen die
Chauffeurverordnung (ARV 1 vom 19. Juni 1995, SR 822.221) zu einer Busse von
Fr. 700.--. Der Strafbefehl blieb unangefochten.

B.
Am 3. März 2011 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau X.________
den Führerausweis wegen mittelschwerer Widerhandlung gegen die
Strassenverkehrsvorschriften in Anwendung von Art. 16b SVG für 4 Monate.
Am 26. Juli 2012 wies das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons
Aargau die Beschwerde von X.________ gegen den Führerausweisentzug ab.
Am 2. Mai 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde
von X.________ gegen diesen Departementalentscheid ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________,
das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur Durchführung
einer Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen, eventuell das Urteil des
Verwaltungsgerichts aufzuheben und ihm den Ausweis für maximal zwei Monate zu
entziehen, subeventuell eine Staffelung des Entzugs anzuordnen und
subsubeventuell das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur
Vervollständigung der Beweislage an die Vorinstanz zurückzuschicken. Ausserdem
ersucht er, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

D.
Das Strassenverkehrsamt, das Departement und das Verwaltungsgericht verzichten
auf Vernehmlassung.

E.
Am 19. Juli 2012 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

F.
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über eine
Administrativmassnahme im Strassenverkehr. Dagegen steht die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein
Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer rügt die
Verletzung von Bundesrecht, was zulässig ist (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1
BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.
In formeller Hinsicht rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines von Art.
6 Ziff. 1 EMRK garantierten Anspruchs auf Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung.

2.1 Der Beschwerdeführer stellte in seiner Beschwerde ans Verwaltungsgericht
vom 21. November 2011 ausdrücklich den Antrag auf Durchführung einer
"Parteianhörung in Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK"
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde S. 2 Antrag 3). In der Beschwerdebegründung
führte er dazu aus, dass er diesen Antrag stelle für den Fall, dass nicht
ohnehin eine Beweisverhandlung mit Parteianhörung angeordnet würde, damit sich
das Verwaltungsgericht ein Bild von ihm machen und er sich auch persönlich zur
Sachlage äussern könne (Verwaltungsgerichtsbeschwerde S. 10 Ziff. II.5). Indem
das Verwaltungsgericht das Verfahren entgegen seinem Antrag schriftlich
erledigt habe, habe es seinen konventionsmässigen Anspruch auf eine öffentliche
Verhandlung verletzt.
Das Verwaltungsgericht hat dazu ausgeführt (angefochtener Entscheid E. II. 1 S.
4 f.), hinter dem Begehren des Beschwerdeführers stecke primär der Wunsch nach
Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Beweiszwecken; die
Publikumsöffentlichkeit im Sinn von Art. 6 Ziff. 1 EMRK werde von ihm nicht
angesprochen. Unter diesen Umständen liege es in seinem Ermessen, eine
Beweisverhandlung durchzuführen oder nicht. Das sei vorliegend unnötig, da der
Sachverhalt unbestritten sei.

2.2 Nach konstanter Rechtsprechung ist der Entzug des Führerausweises zu
Warnzwecken ein Entscheid über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen
Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK mit der Folge, dass der Betroffene
Anspruch auf eine öffentliche mündliche Verhandlung hat (BGE 133 II 331 E. 4.2
S. 336; 121 II 22 und 219 E. 2a; Urteil 6A.48/2002 vom 9. Oktober 2002, E.
7.4.2). Auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung kann zwar
ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden, doch muss ein Verzicht
eindeutig und unmissverständlich erfolgen. Ein Verzicht wird insbesondere
angenommen, wenn in einem gerichtlichen Verfahren, das in der Regel schriftlich
geführt wird, kein Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung
gestellt wird (BGE 134 I 229 E. 4.3; 127 I 44 E. 2e/aa S. 48; Urteil 1C_457/
2009 vom 23. Juni 2006 E. 3.1, in ZBl 112/2011 S. 333).

2.3 Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantiert u.a. den Anspruch auf eine öffentliche
Verhandlung. Wer unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Bestimmung eine
Parteianhörung verlangt, will damit offenkundig von seinem konventionsmässigen
Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung Gebrauch machen, anders kann dieser
Antrag nach Treu und Glauben kaum verstanden werden. Auf keinen Fall jedoch
kann er als unzweideutiger Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung ausgelegt
werden. Damit lag aber seitens des Beschwerdeführers jedenfalls kein
eindeutiger Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung vor. Das
Verwaltungsgericht hat somit den von Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantierten Anspruch
des Beschwerdeführers auf eine öffentliche Verhandlung verletzt, indem es das
Verfahren ohne Weiterungen schriftlich erledigte. Die Rüge ist offensichtlich
begründet.

3.
Damit ist die Beschwerde bereits aus diesem formellen Grund gutzuheissen, ohne
dass sie materiell zu beurteilen wäre. Der angefochtene Entscheid ist
aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid nach Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang
des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG).
Hingegen hat der Kanton Aargau dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und
2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 2. Mai 2012 aufgehoben und die Sache
zu neuem Entscheid nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt, dem
Departement Volkswirtschaft und Inneres und dem Verwaltungsgericht des Kantons
Aargau, 1. Kammer, sowie dem Bundesamt für Strassen Sekretariat
Administrativmassnahmen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. September 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi