Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.28/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_28/2012

Urteil vom 25. Mai 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Merkli,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Manfred Dähler,

gegen

Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen, Abteilung
Administrativmassnahmen, Moosbruggstrasse 11, 9001 St. Gallen.

Gegenstand
Verwarnung zu ausländischem Führerausweis,

Beschwerde gegen das Urteil vom 15. Dezember 2011 des Verwaltungsgerichts des
Kantons St. Gallen.

Sachverhalt:

A.
X.________ war am Nachmittag des 15. Februar 2009 am Steuer eines
Personenwagens zwischen Bad Ragaz und Pfäfers mit rund 30 km/h unterwegs. In
einer Rechtskurve bremste er auf der schneebedeckten und vereisten Fahrbahn
leicht ab. Dabei schlitterte er auf die Gegenfahrbahn, wo er mit einem
entgegenkommenden Personenwagen kollidierte.
Der über einen deutschen Führerausweis verfügende X.________ wurde vom
Untersuchungsamt Uznach am 7. April 2009 wegen Verletzung von Verkehrsregeln im
Sinn von Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 32 Abs. 1 SVG und Art. 4 Abs. 1 VRV
mit Fr. 700.-- gebüsst.

B.
Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen eröffnete am
1. Mai 2009 ein Administrativverfahren gegen X.________ und entzog ihm am 23.
Juni 2009 den Führerausweis für einen Monat. Nachdem das Verwaltungsgericht
diesen Entscheid am 16. Dezember 2010 aufgehoben hatte, verwarnte das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt X.________ am 4. April 2011.
Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen wies den Rekurs von
X.________ gegen diese Verwarnung am 15. August 2011 ab.
Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen wies die Beschwerde von
X.________ gegen diesen Rekursentscheid am 15. Dezember 2011 ab, soweit es
darauf eintrat.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________
diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und von einer Verwarnung
abzusehen.

D.
Das Verwaltungsgericht beantragt in seiner Vernehmlassung, die Beschwerde
abzuweisen. Denselben Antrag stellt das Bundesamt für Strassen (ASTRA).
X.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über eine
Administrativmassnahme im Strassenverkehr. Dagegen steht die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein
Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer rügt die
Verletzung von Bundesrecht, was zulässig ist (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1
BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, die Durchführung eines
Straf- und eines Administrativverfahrens verletze den Grundsatz "ne bis in
idem". Mangels einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage sei es unzulässig,
einen über einen ausländischen Führerausweis verfügenden Automobilisten zu
verwarnen. Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt sehe zudem in langjähriger
Praxis davon ab, Ausländer mit ausländischem Führerausweis zu verwarnen, womit
es mit dem Rechtsgleichheitsgebot nicht zu vereinbaren sei, diese Massnahme
gegen ihn als Schweizer mit ausländischem Führerausweis zu verhängen. Die
Angelegenheit sei im Übrigen ohnehin verjährt, sodass der angefochtene
Entscheid bereits aus diesem Grund aufgehoben werden müsse.

2.1 Der in der Replik vorgebrachte Einwand, die Sache sei nach Art. 109 StGB
verjährt, da seit dem Unfall vom 15. Februar 2009 mehr als drei Jahre vergangen
seien, geht schon deswegen fehl, weil die strafrechtlichen Verjährungsfristen
auf das hier zur Diskussion stehende Verwaltungsverfahren von vornherein nicht
anwendbar sind. Der Beschwerdeführer übersieht zudem, dass die Verjährung nach
der erstinstanzlichen Bussenverfügung vom 7. April 2009 ohnehin nicht mehr
hätte eintreten können (Art. 97 Abs. 3 i.V.m. 104 StGB).

2.2 Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf S. 17 des Geschäftsberichts
2010 des Bundesgerichts geltend, es sei mit Art. 4 Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7
zur EMRK (SR 0.101.07) nicht vereinbar, gegen ihn wegen des gleichen Vorfalls
sowohl eine straf- als auch eine administrativrechtliche Sanktion zu verhängen.
Das Bundesgericht hat die Trennung des Straf- vom Verwaltungsverfahren in
ständiger Praxis geschützt, auch wenn dies unter dem Gesichtspunkt des auch
völkerrechtlich verankerten Grundsatzes "ne bis in idem" kontrovers diskutiert
werden kann, weil der Betroffene regelmässig sowohl die strafrechtliche als
auch die administrative Sanktion als Strafe wahrnimmt und sich "doppelt
bestraft" vorkommen mag. Das Bundesgericht hat den Gesetzgeber im erwähnten
Geschäftsbericht auf diese Problematik hingewiesen. In BGE 137 I 363 E. 2 ist
es nun allerdings aufgrund einer vertieften Auseinandersetzung mit der Lehre
und der Praxis der Organe der Menschenrechtskonvention - insbesondere mit dem
Fall Zolotukhin gegen Russland, Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte vom
10. Februar 2009 - zum Ergebnis gekommen, dass der Grundsatz "ne bis in idem"
durch die Kumulierung von straf- und verwaltungsrechtlicher Sanktion jedenfalls
bei Verkehrsregelverletzungen nicht verletzt wird. Die Rüge ist unbegründet.

2.3 Ausländische Führerausweise können nach den gleichen Bestimmungen aberkannt
werden, die für den Entzug des schweizerischen Führerausweises gelten (Art. 45
Abs. 1 Satz 1 der Verkehrszulassungsverordnung, VZV, SR 741.51). Bei diesen
Bestimmungen handelt es sich um die Art. 16 ff. SVG, die selbstredend nicht nur
den Führerausweisentzug als solchen, sondern auch den Verzicht auf eine
Massnahme und die Verwarnung als Vorstufen dazu regeln (Art. 16 Abs. 2, Art.
16a Abs. 3 und 4 SVG). Die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 VZV ergibt damit
keineswegs, dass ein Besitzer eines ausländischen Führerausweises nicht
verwarnt werden könnte. Es kann auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im
angefochtenen Entscheid (S. 8 ff.) verwiesen werden. Es ist auch nicht
ersichtlich, dass dies völkerrechtlich unzulässig wäre, wie der
Beschwerdeführer behauptet. Wenn ein Vertragsstaat nach Art. 42 Abs. 1 des
Übereinkommens über den Strassenverkehr (SR 0.741.0) dem Inhaber eines
ausländischen Führerausweises nach einer Verkehrsregelverletzung das Recht
aberkennen kann, diesen auf seinem Hoheitsgebiet zu verwenden, so ist
schlechterdings nicht einzusehen, weshalb er es in einem leichten Fall nicht
mit einer Verwarnung soll bewenden lassen können. Die Rüge ist unbegründet.

2.4 Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt hat in seinem Amtsbericht vom 11.
Juli 2011 zuhanden der Verwaltungsrekurskommission ausgeführt, Art. 16a SVG
würde auch auf ausländische Lenker angewendet. "Aus Gründen der Praktikabilität
und der Verhältnismässigkeit" kämen entsprechende Massnahmen allerdings nur bei
Lenkern in Betracht, die z.B. durch häufige berufliche Fahrten in der Schweiz
einen Bezug zur Schweiz hätten. Bei Durchreisenden oder Touristen würde dagegen
regelmässig auf das Verfügen von Verwarnungen verzichtet. Da das
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt bei Verwarnungsfällen grundsätzlich nie
abkläre, ob ein solcher Bezug zur Schweiz vorliege, sei es willkürlich und mit
der Rechtsgleichheit nicht zu vereinbaren, ihm gegenüber eine Verwarnung
auszusprechen, nur weil er Schweizer Bürger sei.
Das Verwaltungsgericht hat die Praxis des Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamts, bei (leichten) Verkehrsregelverletzungen von Lenkern mit
ausländischen Führerausweisen aus Gründen der Opportunität von administrativen
Sanktionen abzusehen, zu Recht für unzulässig erklärt (angefochtener Entscheid
E. 4.3 S. 11 f.). Es ist daher davon auszugehen, dass das Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt in Zukunft davon absehen wird, fehlbare Lenker mit
ausländischen Ausweisen aus Opportunitätsgründen in problematischer Weise
rechtsungleich zu behandeln. Damit brauchte das Obergericht entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers keine weiteren tatsächlichen Abklärungen zur
genauen Handhabung dieser nunmehr überholten Praxis zu machen.
Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben bzw. dem Verbot widersprüchlichen
Verhaltens (Art. 9 BV) ergibt sich unter diesen Umständen kein Anlass, die
neue, gesetzeskonforme Praxis nicht bereits auf den Fall des Beschwerdeführers
anzuwenden, die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für ein
solches Vorgehen (BGE 137 I 69 E. 2.5.1; 131 II 627 E. 6.1 S. 636; 129 I 161 E.
4.1) sind nicht ansatzweise erfüllt.

3.
Damit erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer dessen Kosten (Art. 66
Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt und dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen sowie dem
Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Mai 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi