Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.253/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_253/2012

Urteil vom 29. August 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Bereich Administrativmassnahmen,
Postfach, 8090 Zürich.

Gegenstand
Führerausweisentzug,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 1.
Abteilung, Einzelrichter, vom 19. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Nach dem Rapport der Stadtpolizei Zürich vom 20. Oktober 2009 spielte sich am
29. September 2009, um ca. 08:15 Uhr, Folgendes ab:

X.________ bog am Steuer seines Personenwagens aus der Tiefgarage des Gebäudes
B.________ auf die Seefeldstrasse ein, wobei er wegen Bauarbeiten ca. 20 m dem
Trottoir entlang fahren musste, bis er auf die Fahrbahn der Seefeldstrasse
wechseln konnte. Danach habe er massiv beschleunigt und sei mit quietschenden
Reifen um Arbeiter und einen Strassengraben herumgekurvt. Kurz danach habe er
am Rotlicht bei der Verzeigung Höschgasse anhalten müssen. Als ihn die Arbeiter
wegen seiner Fahrweise zur Rede stellen wollten, habe er sich bedroht gefühlt
und habe, nach dem Wechsel der Ampel auf "Grün", wiederum massiv beschleunigt
("Kavaliersstart") und dabei dem sich auf dem Fussgängerstreifen befindenden
A.________ den Vortritt abgeschnitten.

Gestützt auf diesen Sachverhalt verurteilte das Stadtrichteramt der Stadt
Zürich X.________ am 15. Januar 2010

"wegen Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die Strassenverhältnisse als
Lenker des Personenwagens Porsche ZH xxxxxx, auf der Seefeldstrasse in Zürich
8, Fahrtrichtung Zollikerstrasse, wo Bauarbeiter auf der Baustelle beschäftigt
waren;

ferner wegen Nichtgewährens des Vortritts gegenüber einem Passanten auf dem
Fussgängerstreifen, unmittelbar nach dem Abbiegen bei der Lichtsignalanlage
Höhe Verzweigung Seefeldstrasse/Höschgasse in Zürich 8;

zudem wegen Verursachens von vermeidbarem Lärm, indem der Verzeigte auf der
Seefeldstrasse an der genannten Kreuzung sein Fahrzeug dermassen beschleunigte,
dass die Reifen quietschten, am 29. September 2009, um 08.15 Uhr;"

in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 400.--. Der
Strafbefehl blieb unangefochten.

B.
Am 16. September 2010 teilte das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich
X.________ mit, dass es wegen des Vorfalls vom 29. September 2009 ein
Administrativverfahren einleite.

Am 1. November 2010 entzog das Strassenverkehrsamt X.________ den Führerausweis
wegen mittelschwerer Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften im
Sinn von Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG und Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG für einen
Monat.

Am 4. November 2011 wies die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich den Rekurs
von X.________ gegen den Führerausweisentzug ab.

Am 19. März 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde
von X.________ gegen diesen Rekursentscheid ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________,
das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben, oder es eventuell aufzuheben und
die Sache zur Feststellung des Sachverhalts und neuer Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuschicken oder ihn subeventuell zu verwarnen. Ausserdem
ersucht er, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen.

D.
Am 6. Juni 2012 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

E.
Das Strassenverkehrsamt, das Verwaltungsgericht und das Bundesamt für Strassen
(ASTRA) beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über einen
Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben
(Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Bundesrecht, was
zulässig ist (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1 BGG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die Beschwerde einzutreten
ist.

2.
2.1 Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und schweren
Widerhandlung (Art. 16a-c SVG). Gemäss Art. 16a SVG begeht eine leichte
Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für
die Sicherheit anderer hervorruft und ihn dabei nur ein leichtes Verschulden
trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare Person wird verwarnt, wenn in den
vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht entzogen war und keine andere
Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3). Gemäss Art. 16b SVG begeht eine
mittelschwere Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit.
a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für
mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a). Leichte und mittelschwere
Widerhandlungen werden von Art. 90 Ziff. 1 SVG als einfache
Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II 138 E. 2.4 S. 143). Eine
Unterschreitung der gesetzlichen Mindestentzugsdauern ist ausgeschlossen (Art.
16 Abs. 3 SVG).

2.2 Ein Strafurteil vermag die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu
binden. Allerdings gebietet der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung,
widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden, weshalb die
Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahme von den tatsächlichen
Feststellungen des Strafrichters nur abweichen darf, wenn sie Tatsachen
feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt
waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn der Strafrichter bei der
Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt,
namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat. In der
rechtlichen Würdigung des Sachverhalts - namentlich auch des Verschuldens - ist
die Verwaltungsbehörde demgegenüber frei, ausser die rechtliche Qualifikation
hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser
kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II
447 E. 3.1; 127 II 302 nicht publ. E. 3a; 124 II 103 E. 1c/aa und bb).

3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs. Das
Verwaltungsgericht sei davon ausgegangen, dass ihm die Sicherheitsdirektion die
Rekursvernehmlassung des Strassenverkehrsamts vom 7. Januar 2011 nicht
zugestellt und dadurch sein rechtliches Gehör verletzt habe. Es sei jedoch zu
Unrecht zur Auffassung gelangt, diese Gehörsverletzung sei im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren geheilt worden.

3.1 Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt in der Regel ohne
Weiteres zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 137 I 195 E. 2.2 mit
Hinweisen). Wiegt die Verletzung indessen nicht besonders schwer, so kann sie
im Verfahren vor einer Rechtsmittelinstanz mit freier Kognition hinsichtlich
Sachverhalt und Rechtslage ausnahmsweise geheilt werden, soweit die Rückweisung
zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu einer unnötigen
Verfahrensverzögerung führen würde, die mit dem Interesse der betroffenen
Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären
(BGE a.a.O. E. 2.3.2 S. 197 f. mit Hinweisen).

3.2 Das Verwaltungsgericht führt im angefochtenen Entscheid (E. 2 S. 4) aus,
die Gehörsverletzung wiege nicht schwer, da die betreffende
Rekursvernehmlassung des Strassenverkehrsamts im Vergleich zu seiner
Entzugsverfügung lediglich zwei ergänzende Bemerkungen bzw. Wiederholungen
enthalte. Nachdem es diese dem Beschwerdeführer zur nachträglichen
Stellungnahme zugestellt habe, könne sie als geheilt betrachtet werden, da es
in dieser keine Ermessensfragen aufwerfenden Streitsache über die gleiche
Kognition verfüge wie die Vorinstanz.

3.3 In seiner umstrittenen Rekursvernehmlassung brachte das Strassenverkehrsamt
keine neuen wesentlichen Gesichtspunkte ein, die geeignet gewesen wären, das
Verfahren massgebend zu beeinflussen. Auch wenn die apodiktische Feststellung
des Verwaltungsgerichts, im vorliegenden Verfahren würden sich keine
Ermessensfragen stellen - bei deren Beantwortung seine Kognition nach den §§ 20
und 50 des Zürcher Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 24. Mai 1959 enger wäre
als diejenige der Sicherheitsdirektion, was eine Heilung ausschlösse -, in
dieser absoluten Form nicht zutreffen mag, so beziehen sich die beiden
Bemerkungen in der umstrittenen Rekursvernehmlassung jedenfalls auf
Sachverhalts- und Rechts-, nicht aber auf Ermessensfragen. Es ist weder
dargetan noch ersichtlich, dass dem Beschwerdeführer aus dem Umstand, dass er
sich erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Rekursvernehmlassung des
Strassenverkehrsamts äussern konnte, ein Nachteil erwachsen wäre. Das
Verwaltungsgericht konnte somit die Gehörsverletzung der Sicherheitsdirektion
ohne Verfassungsverletzung heilen.

4.
Der Beschwerdeführer wirft dem Verwaltungsgericht vor, den Sachverhalt
unrichtig festgestellt haben. Es sei davon ausgegangen, dem Stadtrichter sei
bekannt gewesen, dass er sich von den auf ihn zustürmenden Bauarbeitern bedroht
gefühlt und sich dem drohenden Angriff durch einen Blitzstart entzogen habe,
auch wenn der Strafverfügung vom 15. Januar 2010 dazu nichts zu entnehmen sei.
Da die Strafverfügung keine Begründung enthalte, lasse sich gerade nicht
beurteilen, ob der Stadtrichter das Vorliegen einer Notstandssituation bzw.
einer Putativnotstandssituation geprüft habe.

Der Einwand ist unbegründet. Dem Stadtrichter war nach der
Sachverhaltsdarstellung im Polizeirapport (vorn A. S. 2) durchaus bekannt, dass
sich der Beschwerdeführer in der zweiten Phase des Vorfalls, in der er nach dem
Wechsel der Ampel von "Rot" auf "Grün" stark beschleunigte und den Vortritt
eines Fussgängers missachtete, bedroht gefühlt haben will. Er schloss indessen
offensichtlich aus, dass sich der Beschwerdeführer in einer Notstandssituation
befand oder irrtümlich davon ausging, sich in einer solchen zu befinden. Das
ergibt sich klarerweise daraus, dass sich die Strafverfügung nicht auf die
einschlägigen Bestimmungen über den Notstand - Art. 17 f. StGB - stützt. Zudem
wäre auch die Höhe der Busse mit der Annahme von Notstand kaum vereinbar. Indem
der Beschwerdeführer die Strafverfügung in Rechtskraft erwachsen liess, hat er
somit auch akzeptiert, sich nicht in einer Notstandssituation befunden zu
haben. Darauf kann er im Verwaltungsverfahren nicht mehr zurückkommen und
behaupten, bei einer willkürfreien Feststellung des Sachverhalts müsste ihm
zugebilligt werden, sich in einer echten oder irrtümlich in einer
vermeintlichen Notstandssituation befunden zu haben.

5.
Der Beschwerdeführer rügt, das Verwaltungsgericht habe Bundesrecht verletzt,
indem es von einer mittelschweren anstatt einer leichten Widerhandlung gegen
die Strassenverkehrsvorschriften ausgegangen sei. Ein Augenschein hätte
gezeigt, dass die Ampel für den Fussgänger auf "Rot" gestanden habe, als er
losgefahren sei. Damit habe er diesen nicht ernsthaft gefährdet, und es sei nur
von einer leichten Verkehrsregelverletzung auszugehen. Selbst wenn der
Fussgänger die Strasse bei "Grün" betreten hätte, wäre aber höchstens von einer
leichten Gefährdung auszugehen, da der Abstand zwischen ihm und seinem Fahrzeug
2 m betragen habe. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, an seiner
Beurteilung des Vorfalls als mittelschwere Verletzung der Verkehrsvorschriften
würde sich auch bei Annahme eines Putativnotstands nichts ändern, seien falsch.
Bei Annahme von Putativnotstand sei der Täter nach seiner Vorstellung zu
beurteilen, was nicht nur zur Reduktion des Verschuldens, sondern zur
Rechtfertigung der zur Diskussion stehenden Rechtsverletzung und damit Verzicht
auf einen Entzug führen müsste.

Der Stadtrichter ist aufgrund des Polizeirapports davon ausgegangen, dass die
Lichtsignalanlage für den Beschwerdeführer und A.________ gleichzeitig auf
"Grün" schaltete, dass indessen der nach links abbiegende Beschwerdeführer
wegen des gelb blinkenden Warnlichts gegenüber dem die Fahrbahn auf dem
Fussgängerstreifen überquerenden Fussgänger vortrittsbelastet war und diesem
den Vortritt abschnitt. Der Beschwerdeführer hat die entsprechende Verurteilung
(Art. 33 Abs. 1 und 2 SVG, Art. 6 Abs. 1 [recte: Abs. 2] VRV) akzeptiert und
kann nun im Verwaltungsverfahren nicht mit Erfolg vorbringen, er sei
vortrittsberechtigt gewesen, weil der Fussgänger den Fussgängerstreifen bei
"Rot" betreten habe. Keiner weiteren Ausführungen bedarf, dass derjenige, der
als vortrittsbelasteter Automobilist einen Fussgängerstreifen überfährt, ohne
sich zu vergewissern, ob sich Fussgänger bereits darauf befinden oder Anstalten
machen, ihn zu betreten, eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder
in Kauf nimmt. Das Verwaltungsgericht hat den Vorfall daher zu Recht als
mittelschwere Widerhandlung im Sinn von Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG eingestuft.

Es kann daher offen bleiben, ob die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum
Putativnotstand zutreffen, da nach dem Gesagten (vorn E. 4) davon auszugehen
ist, dass ein solcher nicht vorlag.

Ist somit das Verwaltungsgericht zu Recht von einer mittelschweren
Widerhandlung ausgegangen, beträgt die gesetzliche Mindestentzugsdauer 1 Monat.

6.
Die Beschwerde ist unbegründet und damit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons
Zürich, Bereich Administrativmassnahmen, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichter, und dem Bundesamt für Strassen,
Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. August 2012

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Störi