Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.191/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_191/2012

Urteil vom 21. August 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Kummer,
Beschwerdeführer,

gegen

Departement des Innern des Kantons Solothurn, Ambassadorenhof, 4500 Solothurn,
handelnd durch die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons Solothurn,
Administrativmassnahmen, Gurzelenstrasse 3, 4512 Bellach.

Gegenstand
Führerausweisentzug,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom
27. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Strafbefehl vom 30. Juni 2011 sprach die Staatsanwaltschaft des Kantons
Solothurn X.________ der einfachen Verkehrsregelverletzung durch
Vortrittsrechtsmissachtung (Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 VRV, Art.
36 Abs. 2 SSV, Art. 27 Abs. 1 SVG) und der groben Verkehrsregelverletzung durch
brüskes Bremsen (Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 12 Abs. 2 VRV, Art. 26 Abs. 1
und Art. 37 Abs. 1 SVG) schuldig. Sie hielt für erwiesen, dass X.________ am 3.
August 2010, um ca. 07:30 Uhr, am Steuer eines Personenwages bei der Kreuzung
Schöneggstrasse/Hofweg in Grenchen dem vortrittsberechtigten Motorradfahrer
A.________ den Vortritt abschnitt, anschliessend in der Schmelzistrasse
grundlos brüsk bremste und dadurch den hinter ihm fahrenden A.________
ernsthaft gefährdete. Die Staatsanwaltschaft verurteilte ihn wegen dieses
Vorfalls und weiterer, hier nicht interessierender gemeinrechtlicher Delikte,
zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen à Fr. 130.-- und einer Busse
von Fr. 600.--. Der Strafbefehl blieb unangefochten.

B.
Am 30. August 2011 entzog das Departement des Innern, vertreten durch die
Motorfahrzeugkontrolle, X.________ den Führerausweis auf unbestimmte Zeit,
mindestens aber für zwei Jahre. X.________ erhob gegen diesen Sicherungsentzug
Beschwerde beim Obergericht des Kantons Solothurn.

C.
Am 11. Oktober 2011 wies die Beschwerdekammer des Obergerichts ein von
X.________ eingereichtes Gesuch zur Wiederherstellung der Frist zur Anfechtung
des Strafbefehls ab. Der Entscheid ist in Rechtskraft erwachsen.

D.
Am 27. Februar 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn die
Beschwerde von X.________ gegen den Sicherungsentzug ab, soweit des darauf
eintrat.

E.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________,
diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung unter Anwendung von Art. 16a SVG oder eventuell Art. 16b SVG an
das Departement des Innern zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er, der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

F.
Am 5. Juni 2012 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

G.
Die Motorfahrzeugkontrolle und das Verwaltungsgericht beantragen, die
Beschwerde abzuweisen und verzichten auf weitere Vernehmlassung. Das Bundesamt
für Strassen beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über einen
Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben
(Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Bundesrecht, was
zulässig ist (Art. 95 lit. a, Art. 97 Abs. 1 BGG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die Beschwerde einzutreten
ist.

2.
2.1 Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und schweren
Widerhandlung (Art. 16a-c SVG). Gemäss Art. 16a SVG begeht eine leichte
Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für
die Sicherheit anderer hervorruft und ihn dabei nur ein leichtes Verschulden
trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare Person wird verwarnt, wenn in den
vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht entzogen war und keine andere
Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3). Gemäss Art. 16b SVG begeht eine
mittelschwere Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit.
a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für
mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a). Leichte und mittelschwere
Widerhandlungen werden von Art. 90 Ziff. 1 SVG als einfache
Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II 138 E. 2.4 S. 143). Gemäss Art.
16c SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe Verletzung von
Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft
oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren Widerhandlung, welche
einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG
entspricht (BGE 132 II 234 E. 3 S. 237), wird der Führerausweis für mindestens
drei Monate entzogen (Abs. 2 lit. a). Eine Unterschreitung der gesetzlichen
Mindestentzugsdauern ist ausgeschlossen (Art. 16 Abs. 3 SVG).

2.2 Die mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG stellt
einen Auffangtatbestand dar. Sie liegt vor, wenn nicht alle privilegierenden
Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG und nicht
alle qualifizierenden Elemente einer schweren Widerhandlung nach Art. 16c Abs.
1 lit. a SVG gegeben sind (Urteil 6A.16/2006 vom 6. April 2006 E. 2.1.1, in:
JdT 2006 I S. 442; Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des
Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999 4487). Die Annahme einer schweren
Widerhandlung setzt kumulativ eine qualifizierte objektive Gefährdung und ein
qualifiziertes Verschulden voraus. Ist die Gefährdung gering, aber das
Verschulden hoch, oder umgekehrt die Gefährdung hoch und das Verschulden
gering, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor (Botschaft a.a.O. 4489;
CÉDRIC MIZEL, Die Grundtatbestände der neuen Warnungsentzüge des SVG und ihre
Beziehung zum Strafrecht, in ZStrR 124/2006, S. 31 ff., insbesondere S. 63 f.).

2.3 Ein Strafurteil vermag die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu
binden. Allerdings gebietet der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung,
widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden, weshalb die
Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahme von den tatsächlichen
Feststellungen des Strafrichters nur abweichen darf, wenn sie Tatsachen
feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt
waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn der Strafrichter bei der
Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt,
namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat. In der
rechtlichen Würdigung des Sachverhalts - namentlich auch des Verschuldens - ist
die Verwaltungsbehörde demgegenüber frei, ausser die rechtliche Qualifikation
hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser
kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II
447 E. 3.1; 127 II 302 nicht publ. E. 3a; 124 II 103 E. 1c/aa und bb).

3.
Der Beschwerdeführer bestreitet, den Motorradfahrer durch brüskes Bremsen in
Gefahr gebracht zu haben. Er habe vielmehr die Bremse bloss angetippt, um den
Motorradfahrer hinter ihm auf den ungenügenden Abstand aufmerksam zumachen.
Selbst dieser habe ausgesagt, er habe sich nicht ausbremsen lassen, sondern den
Beschwerdeführer einfach überholt. Es sei damit sachverhalts- und rechtswidrig,
ihm wegen eines "Schikanestopps" eine schwere Widerhandlung im Sinn von Art.
16c SVG anzulasten.

Auszugehen ist davon, dass das umstrittene Bremsmanöver im Strafverfahren als
grobe Verkehrsregelverletzung beurteilt wurde. Eine Verurteilung nach Art. 90
Ziff. 2 SVG setzt in objektiver Hinsicht voraus, dass der Täter eine wichtige
Verkehrsvorschrift in grober Weise missachtete und die Verkehrssicherheit
ernstlich gefährdete. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses
oder sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten (BGE 131 IV 133 E. 3.2 mit
Hinweisen). Der Beschwerdeführer hat die strafrechtliche Verurteilung
akzeptiert und damit in tatsächlicher Hinsicht den Vorwurf, durch ein krass
verkehrswidriges Verhalten die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet zu haben.
Er kann daher im Verwaltungsverfahren nach Treu und Glauben nicht mit Erfolg
behaupten, die Bremse nur angetippt und den Motorradfahrer hinter ihm nicht
gefährdet zu haben. Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers hat im
Übrigen der Motorradfahrer klar ausgesagt, er sei durch das umstrittene
Bremsmanöver gefährdet worden (Konfrontationseinvernahme vom 19. Januar 2011,
Zeile 99 f. S. 4 [Beleg 7 der Beschwerdebeilage]). Das Verwaltungsgericht hat
den Vorfall damit zu Recht entsprechend der strafrechtlichen Beurteilung als
schwere Widerhandlung im Sinn von Art. 16c SVG beurteilt.

4.
Nach einer schweren Widerhandlung ist der Führerausweis auf unbestimmte Zeit,
mindestens aber für 2 Jahre, zu entziehen, wenn in den vorangegangenen zehn
Jahren der Ausweis zweimal wegen schweren Widerhandlungen entzogen war (Art.
16c Abs. 2 lit. d). Das ist der Fall. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht,
dass ihm der Ausweis wegen schweren Widerhandlungen am 23. Februar 2006 für
sechs Monate und am 20. Oktober 2006 für 14 Monate entzogen worden war. Da eine
Unterschreitung der gesetzlichen Entzugsdauer unzulässig ist, ist der gegen den
Beschwerdeführer verhängte Sicherungsentzug nicht zu beanstanden.

5.
Die Beschwerde erweist sich somit als offensichtlich unbegründet und ist
abzuweisen. Damit wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Departement des Innern des Kantons
Solothurn, dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Strassen Sekretariat Administrativmassnahmen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. August 2012

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Störi