Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.171/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_171/2012

Urteil vom 13. Juni 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Merkli,
Gerichtsschreiberin Scherrer Reber.

Verfahrensbeteiligte
X.________ GmbH, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Marc Weber,

gegen

1. Y.________, vertreten durch Rechtsanwalt
Benno Lindegger,
2. Schweizerische Bundesbahnen SBB,
Immobilien, Recht und Beschaffung,
Beschwerdegegner,

Politische Gemeinde St. Gallen, Baubewilligungskommission, Neugasse 3,
9004 St. Gallen, vertreten durch den Stadtrat St. Gallen, 9001 St. Gallen,
Departement des Innern des Kantons St. Gallen, Generalsekretariat,
Rechtsdienst, Regierungsgebäude, 9001 St. Gallen.

Gegenstand
Baubewilligung,

Beschwerde gegen das Urteil vom 14. Februar 2012
des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen.

Sachverhalt:

A.
Am 30. Juni 2011 entsprach die Baubewilligungskommission der Stadt St. Gallen
einem Baugesuch der X.________ GmbH als Betreiberin des Lokals "Kultur am
Gleis" unter Bedingungen und Auflagen. Gleichzeitig wies sie die
öffentlich-rechtliche und die privatrechtliche Einsprache von Y.________ ab.
Auf einen Rekurs von Y.________ trat das kantonale Departement des Innern am
10. Oktober 2011 nicht ein. Mit Urteil vom 14. Februar 2012 entschied das
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen auf Beschwerde von Y.________ hin,
das Departement habe mit seinem Nichteintretensentscheid gegen die
verfahrensrechtlichen Grundsätze zur Fristwahrung verstossen. Es hob den
Entscheid vom 10. Oktober 2011 auf und wies das Departement des Innern an, dem
Beschwerdeführer eine angemessene Nachfrist zur Rekursergänzung anzusetzen.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht
vom 6. März 2012 beantragte die X.________ GmbH, das Urteil des
Verwaltungsgerichts sei aufzuheben. Zudem verlangte sie die unverzügliche
Anordnung vorsorglicher Massnahmen. Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde
mangels rechtsgenüglicher Begründung mit Urteil vom 9. März 2012 (1C_145/2012)
nicht ein.

C.
Da die Rechtsmittelfrist gegen das Urteil vom 14. Februar 2012 noch nicht
abgelaufen war, gelangte die X.________ GmbH mit Eingabe vom 23. März 2012
wiederum ans Bundesgericht. Mit ihrer neuerlichen Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Beschwerdeführerin die
Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils.
Y.________ als privater Beschwerdegegner 1 schliesst auf Nichteintreten.
Eventualiter sei die Beschwerde abzuweisen. Die Schweizerischen Bundesbahnen
(SBB) als Beschwerdegegnerin 2 verzichten auf eine Vernehmlassung, ebenso der
Stadtrat St. Gallen und das Departement des Innern des Kantons St. Gallen. Das
kantonale Verwaltungsgericht beantragt, auf die Beschwerde sei nicht
einzutreten; eventualiter sei sie abzuweisen.
In ihrer weiteren Eingabe vom 15. Mai 2012 hält die Beschwerdeführerin
sinngemäss an ihren Anträgen fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerdeführerin gelangt innert der 30-tägigen Beschwerdefrist zum
zweiten Mal gegen dasselbe kantonale Urteil ans Bundesgericht. Der am 9. März
2012 vom Bundesgericht mangels rechtsgenüglicher Begründung gefällte
Nichteintretensentscheid (Urteil 1C_145/2012) steht dem Eintreten auf die
neuerliche Beschwerde nicht grundsätzlich entgegen. Nichteintretensentscheide
des Bundesgerichts beendigen nur das laufende Verfahren rechtskräftig, während
der ursprünglich angefochtene Entscheid erst mit Ablauf der (30-tägigen)
Beschwerdefrist in Rechtskraft erwächst. Deshalb steht auch nach dem
Nichteintreten auf eine vorzeitig erhobene Beschwerde die Möglichkeit offen,
rechtzeitig eine neue Beschwerde in der gleichen Sache zu erheben (in diesem
Sinne: JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation
judiciaire du 16 décembre 1943, Vol. I, Bern 1990, Art. 38 Ch. 5.3 mit
Hinweisen).

1.2 Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen Zwischenentscheid, zumal
über das diesem zugrunde liegende baurechtliche Verfahren noch nicht
abschliessend befunden wurde. Selbständig eröffnete Zwischenentscheide sind
gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG beim Bundesgericht anfechtbar, wenn sie (lit. a)
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können oder (lit. b) wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde.

1.3 Im Unterschied zum ersten Verfahren (1C_145/2012) hat sich die
Beschwerdeführerin nun eingehend mit den zitierten Voraussetzungen auseinander
gesetzt. Nach ihrer Auffassung muss das kantonale Urteil vom 14. Februar 2012
sowohl nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG als auch nach lit. b anfechtbar sein.
Würde die Beschwerde gutgeheissen und damit der Nichteintretensentscheid auf
Departementsstufe bestätigt, träte die Baubewilligung in Kraft, und es würde
ein Endentscheid herbeigeführt. Dass dadurch ein bedeutender Aufwand an Zeit
und etwaigen weiteren Beweisverfahren erspart würde, liegt auf der Hand, ist
doch aufgrund des angefochtenen Urteils das (Bau-)Rekursverfahren wieder
aufzunehmen, welchem wiederum weitere Verfahren - auf kantonaler und
eidgenössischer Ebene - folgen könnten. Daraus folgt, dass die Anfechtbarkeit
nach Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG zu bejahen ist.

1.4 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen weiteren Bemerkungen
Anlass, weshalb grundsätzlich auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil zunächst festgehalten, dass
das Fristerstreckungs- und Sistierungsgesuch des heutigen Beschwerdegegners 1
mit der Postaufgabe am letzten Tag der massgeblichen Frist rechzeitig erfolgt
sei (E. 4.2 des angefochtenen Urteils). Im Weiteren schützte es das Departement
des Innern in seinem Vorgehen, sowohl das Gesuch um Sistierung wie auch jenes
um Fristerstreckung abzuweisen (E. 4.3.6-4.4.3). Indes gelte es, bei der
Ablehnung eines Fristgesuchs eine Nachfrist anzusetzen, sofern das Gesuch nicht
trölerisch sei. Daran ändere nichts, dass es um die Erstreckung einer
ausdrücklich "letztmaligen" Frist gegangen sei. Da das Verwaltungsgericht das
Vorgehen des Beschwerdegegners 1 nicht als trölerisch oder rechtsmissbräuchlich
einschätzte, hiess es dessen Rechtsmittel gut und wies das Departement des
Innern an, dem Beschwerdegegner 1 (also dem Beschwerdeführer im kantonalen
Verfahren) eine angemessene Nachfrist zur Rekursergänzung zu setzen.
Die Beschwerdeführerin wirft dem Verwaltungsgericht u.a. die Verletzung
anerkannter verfahrensrechtlicher Grundsätze zur Fristwahrung vor. Es wende
Art. 48 Abs. 2 des kantonalen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 16.
Mai 1965 (VRG/SG; sGS 951.1) und Art. 30 Abs. 1 VRG/SG in Verbindung mit Art.
144 Abs. 2 der eidgenössischen Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (ZPO;
SR 272) falsch und willkürlich an.

2.1 Fehlen Antrag, Darstellung des Sachverhalts, Begründung oder Unterschrift,
fordert die Rekursinstanz den Rekurrenten unter Ansetzung einer Frist auf, den
Rekurs zu ergänzen (Art. 48 Abs. 2 VRG/ SG). Hinsichtlich der Erstreckung
gerichtlicher Fristen kennt das VRG/ SG keine explizite Regelung, weshalb
subsidiär die Bestimmungen der eidgenössischen ZPO zur Anwendung gelangen (Art.
30 Abs. 1 VRG/ SG). Danach können gerichtliche Fristen aus zureichenden Gründen
erstreckt werden, wenn das Gericht vor Fristablauf darum ersucht wird (Art. 144
Abs. 2 ZPO).

2.2 Zunächst ist mit Blick auf die Beschwerde festzuhalten, dass mit dem
Verweis im kantonalen Verfahrensrecht auf die entsprechende Regelung in der
eidgenössischen ZPO letztere - entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin -
zu kantonalem Recht wird. Dessen Anwendung wird vom Bundesgericht nur auf
Willkür geprüft. Es gelten darum die erschwerte Rügeanforderungen von Art. 106
Abs. 2 BGG.
Die in diesem Zusammenhang geäusserten Bedenken der Beschwerdeführerin zu
dynamischen Verweisungen sind im Übrigen nicht gerechtfertigt. Wie die
Beschwerdeführerin selber zitiert, erachtet das Bundesgericht solche
Verweisungen dann allenfalls als problematisch, wenn die Norm, auf die
verwiesen wird, nicht von einem demokratisch gewählten Organ erlassen wurde
(vgl. BGE 134 I 179 E. 6.3 S. 181 f.). Dass sich diese Frage bei einem
Bundesgesetz nicht stellt, ist offenkundig. Zudem gibt Art. 144 ZPO einen
allgemein anerkannten Prozessgrundsatz wieder. Was daran problematisch sein
soll, legt die Beschwerdeführerin nicht dar.

2.3 Die Ablehnung des letztmaligen Fristerstreckungsgesuchs hat das
Verwaltungsgericht wie erwähnt als rechtskonform erachtet, dies unter
Berücksichtigung der bereits grosszügig gewährten vorangehenden
Fristerstreckungen, der vorher angekündigten letztmaligen Erstreckung, des
Beschleunigungsgebots sowie des Fehlens von schwerwiegenden Gründen für eine
weitere Erstreckung. Die vom Beschwerdegegner 1 als "Vergleichsverhandlungen"
bezeichneten Gespräche mit der zukünftigen Grundstückseigentümerin (namentlich
ohne Einbezug der Beschwerdeführerin) qualifizierte das Verwaltungsgericht zu
Recht nicht als Notfall, der eine Erstreckung der letztmaligen Frist
gerechtfertigt hätte.

2.4 Indes befand es, auch wenn ein Fristerstreckungsgesuch abgelehnt werde, sei
der betreffenden Partei in der Regel eine letzte Frist von wenigen Tagen zu
setzen, damit diese die fristgebundene Handlung noch vornehmen könne. Dabei
stützt es sich auf die Literatur. So führen HAUSER/SCHWERI aus, eine Frist sei
nicht verwirkt, wenn vor deren Ablauf ein Verlängerungsgesuch gestellt werde.
Dies gelte auch dann, wenn es sich um eine letztmalige Frist handle, sofern die
angegebenen Gründe für eine weitere Verlängerung ernsthaft in Betracht stünden.
Werde das Erstreckungsgesuch dann doch als unbegründet abgewiesen, so sei eine
kurze Nachfrist anzusetzen, sofern das Gesuch nicht als trölerisch bewertet
werden müsse (ROBERT HAUSER/ ERHARD SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen
Gerichtsverfassungsgesetz vom 13. Juni 1976 mit den seitherigen Änderungen,
Zürich 2002, N. 45 zu § 195). Auch im Basler Kommentar zur ZPO wird dargelegt,
dass der gesuchstellenden Partei bei Ablehnung des Gesuchs eine kurze Nachfrist
zur Vornahme der geforderten Handlung zu setzen sei (J. BENN, in: Spühler/
Tenchio/Infanger [Hrsg.], Basler Kommentar zur ZPO, Basel 2010, N. 7 zu Art.
144).
Dabei hält das Verwaltungsgericht dem Beschwerdegegner 1 zugute, dass das
Baudepartement in seiner Vernehmlassung ans Departement des Innern vom 23.
September 2011 festgehalten hat, es seien vertiefte Abklärungen für eine
Bereinigung der grösstenteils nicht bewilligten Nutzungssituation bei
Güterbahnhofareal erforderlich und einer Fristverlängerung resp. Sistierung des
Verfahrens stünde nichts entgegen. Damit werden nach Meinung des
Verwaltungsgerichts die Aussagen des Beschwerdegegners 1 insofern bestätigt,
als das Baudepartement tatsächlich Abklärungen über eine rechtskonforme Nutzung
des betroffenen Areals durchgeführt habe. Der Beschwerdeführer habe denn auch
in seiner Eingabe vom 15. September 2011 darauf verwiesen, dass das
Baudepartement für Rückfragen zu den von ihm erwähnten Einigungsverhandlungen
mit dem Kanton St. Gallen zur Verfügung stehe. Aufgrund dieser offensichtlich
tatsächlich getätigten Gespräche und der Bestätigung des Baudepartements über
die Notwendigkeit weiterer Abklärungen qualifizierte das Verwaltungsgericht das
Verhalten des Beschwerdegegners 1 nicht als trölerisch.

2.5 Mit der Ansetzung einer Notfrist nach Abweisung eines Erstreckungsgesuchs
einer letztmaligen Frist trägt das Verwaltungsgericht dem allgemeinen, mangels
klarer anderslautender Gesetzgebung auch für die Kantone geltenden
Rechtsgrundsatz Rechnung, dass der Rechtsuchende nicht ohne Not um die
Beurteilung seines Rechtsbegehrens durch die zuständige Instanz gebracht werden
soll (BGE 118 Ia 241 E. 3c S. 244 mit Hinweis; Urteil 4A_75/2011 vom 26. Mai
2011 E. 2.3). Bei der Beurteilung, ob das Gesuch trölerisch war, stand dem
Verwaltungsgericht ein Ermessensspielraum zu. Indem es dem Beschwerdegegner 1
zugebilligt hat, nicht trölerisch vorgegangen zu sein, ist es jedenfalls nicht
in Willkür verfallen. Dies allein ist entscheidend und nicht, ob die
Nichtgewährung der Nachfrist und das daraus folgende Nichteintreten ebenfalls
vertretbar, wenn nicht sogar vorzuziehen gewesen wären. Die über weite Teile
appellatorische Kritik der Beschwerdeführerin ist darum unbehelflich.

3.
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Verfahrensausgang hat die Beschwerdeführerin für die bundesgerichtlichen
Kosten aufzukommen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat sie den privaten
Beschwerdegegner 1 für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den privaten Beschwerdegegner 1 für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Politischen Gemeinde St. Gallen, dem
Departement des Innern und dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. Juni 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Die Gerichtsschreiberin: Scherrer Reber