Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.158/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_158/2012

Urteil vom 13. Juni 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsagent Roger Hochreutener,

Gemeinde Mels, 8887 Mels, vertreten durch Rechtsagent Roger Hochreutener,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach,
Grynaustrasse 3,
8730 Uznach.

Gegenstand
Ermächtigungsverfahren,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 14. Februar 2012 der Anklagekammer des
Kantons St. Gallen.

Sachverhalt:

A.
X.________ erhob mit Schreiben vom 9. Dezember 2012 Strafklage gegen
Y.________. Er warf diesem im Wesentlichen vor, ihm ein Rechaud weggenommen zu
haben. Er empfange als abgewiesener Asylsuchender in der Gemeinde Mels Nothilfe
und benutze als Unterkunft einen ihm zur Verfügung gestellten Container. Am 5.
Dezember 2011 habe er sein Rechaud nicht mehr im Container vorgefunden.
Y.________ habe bestätigt, dass er das Rechaud weggenommen habe. Dadurch habe
dieser ihm einen Nachteil zugefügt, denn ohne Rechaud könne er sich nur
ungenügend ernähren. Die Unterstützung von Fr. 8.--, die er pro Tag erhalte,
reiche nicht aus, wenn man nicht die Gelegenheit habe, selbst zu kochen.
Feuerpolizeiliche Gründe seien zudem nicht ausschlaggebend gewesen, dies habe
der Gemeindepräsident schon bei früherer Gelegenheit festgestellt, als ein
anderes Rechaud ebenfalls entfernt worden sei. Y.________ meine vielmehr, dass
er es den Nothilfeempfängern nicht zu bequem machen wolle.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen übermittelte das Schreiben von
X.________ zur Durchführung eines Ermächtigungsverfahrens an die Anklagekammer
des Kantons St. Gallen. Mit Entscheid vom 14. Februar 2012 entschied die
Anklagekammer, gegen Y.________ werde kein Strafverfahren eröffnet.

B.
Mit Beschwerde vom 1. März 2012 an das Bundesgericht beantragt X.________, der
Entscheid der Anklagekammer sei aufzuheben und diese sei anzuweisen, das
Strafverfahren zu eröffnen. Eventualiter sei die Sache zur
Sachverhaltsergänzung an die Anklagekammer zurückzuweisen.
Die Anklagekammer hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Gemeinde Mels und
Y.________ beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen und es sei ein
Kostenvorschuss für die Gerichtsgebühr zu verlangen, zumal das Verhalten des
Beschwerdeführers querulatorische Züge habe. Auf eine Parteientschädigung werde
indessen verzichtet, weil der Beschwerdeführer von der Sozialhilfe abhängig sei
und ausser zusätzlichen Kosten und Aufwänden nichts resultieren würde. Der
Beschwerdeführer hält in seiner Stellungnahme dazu im Wesentlichen an seinen
Anträgen und Rechtsauffassungen fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Ermächtigung zur Strafverfolgung stellt eine Prozessvoraussetzung für
das Strafverfahren dar, wird jedoch in einem davon getrennten
Verwaltungsverfahren erteilt. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten ist deshalb das zutreffende Rechtsmittel (BGE 137 IV 269 E.
1.3.1 S. 272 mit Hinweisen).

1.2 Gemäss Art. 17 Abs. 2 lit. b Satz 1 des Einführungsgesetzes des Kantons St.
Gallen vom 3. August 2010 zur Schweizerischen Straf- und
Jugendstrafprozessordnung (SGS 962.1; im Folgenden: EG-StPO) entscheidet die
Anklagekammer über die Eröffnung des Strafverfahrens gegen Behördenmitglieder
oder Mitarbeitende des Kantons und der Gemeinden wegen strafbarer Handlungen,
die deren Amtsführung betreffen, soweit nicht der Kantonsrat zuständig ist. Im
vorliegenden Fall entschied die Anklagekammer, es sei kein Strafverfahren zu
eröffnen. Angesichts der Wortwahl in Art. 17 EG-StPO und im angefochtenen
Entscheid ist klarzustellen, dass vorliegend erst die Ermächtigung zur
Strafverfolgung in Frage steht. Der förmliche Entscheid über die Eröffnung oder
die Nichtanhandnahme obliegt kraft ausdrücklicher bundesrechtlicher Regelung
der Staatsanwaltschaft (Art. 309 und 310 StPO; BGE 137 IV 269 E. 2.3 S. 277).

1.3 Angefochten ist ein Entscheid einer letzten kantonalen Instanz, der das
Verfahren abschliesst (Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG). Eine Ausnahme
von der Zulässigkeit der Beschwerde nach Art. 83 BGG besteht nicht. Lit. e
dieser Bestimmung, wonach Entscheide über die Verweigerung der Ermächtigung zur
Strafverfolgung von Behördenmitgliedern oder von Bundespersonal von der
Beschwerdemöglichkeit ausgenommen sind, ist nur auf die obersten Vollziehungs-
und Gerichtsbehörden anwendbar, denn nur bei diesen dürfen politische
Gesichtspunkte in den Entscheid einfliessen (BGE 137 IV 269 E. 1.3.2 S. 272 f.
mit Hinweis).

1.4 Zur Beschwerde ist nach Art. 89 Abs. 1 BGG berechtigt, wer vor der
Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme
erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid oder Erlass besonders
berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder
Änderung hat (lit. c). Das schutzwürdige Interesse kann rechtlicher oder
tatsächlicher Natur sein (BGE 133 I 286 E. 2.2 S. 290). Der Beschwerdeführer
hat am Verfahren vor der Anklagekammer teilgenommen. Er hat durch das
Verhalten, das Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs bildet, einen Eingriff
in sein Eigentum erlitten. Die Beschwerdelegitimation ist deshalb zu bejahen.

1.5 Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, aufgrund der Beweislage sei klar, dass
feuerpolizeiliche Gründe keine Rolle gespielt hätten, als ihm sein Rechaud
weggenommen worden sei. Er verweist auf eine angebliche Äusserung des
Gemeindepräsidenten und darauf, dass sein diesbezügliches Vorbringen in der
Strafklage unbestritten geblieben sei. Er rügt, sein Anspruch auf rechtliches
Gehör sei verletzt worden, weil er nie Gelegenheit gehabt habe, zum neuen
Vorbringen der Gegenseite, welche das Gegenteil behaupte, Stellung zu nehmen
(Art. 29 Abs. 2 BV). Die Vorinstanz habe in dieser Hinsicht den Sachverhalt
willkürlich festgestellt (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.2 Der Beschwerdeführer setzte sich in seiner Strafklage mit den Motiven,
welche der Wegnahme des Rechauds möglicherweise zu Grunde lagen, ausführlich
auseinander. Er stellte sich dabei auf den Standpunkt, dass feuerpolizeiliche
Gründe nicht ausschlaggebend gewesen sein können. Wenn der Beschwerdegegner und
die Gemeinde Mels in ihrer Vernehmlassung im vorinstanzlichen Verfahren den
gegenteiligen Standpunkt einnahmen und behaupteten, die Sicherheit der Bewohner
des Containers sei ausschlaggebend gewesen, so kann dabei kaum von einem neuen
Vorbringen gesprochen werden. Der Beschwerdeführer hat sich nach dem Gesagten
ja bereits vorgängig zu dieser Frage geäussert. Er vermag im Verfahren vor
Bundesgericht denn auch nicht darzulegen, inwiefern er sich diesbezüglich noch
weitergehend hätte äussern wollen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist
unter diesen Voraussetzungen zu verneinen.

2.3 Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Anklagekammer erwog, die
Wegnahme des Rechauds sei aus feuerpolizeilichen Gründen und zur Sicherheit der
Bewohner der Container erfolgt. Aus dem angefochtenen Entscheid geht jedoch
nicht klar hervor, ob die Anklagekammer diesem Umstand rechtliche Bedeutung
zuschreibt und, wenn ja, welche. Eine eigentliche Subsumtion in Bezug auf die
im angefochtenen Entscheid erörterten Tatbestände der Sachentziehung (Art. 141
StGB) und des Amtsmissbrauchs (Art. 312 StGB) fehlt. Hinweise auf den möglichen
Grund für die Wegnahme des Rechauds ergeben sich aus den Akten. Diese enthalten
neben der erwähnten Stellungnahme des Beschwerdegegners und der Gemeinde Mels
einen vom 18. Januar 2012 datierten Brief von Z.________ an die Vorinstanz.
Z.________, die nach eigenen Angaben dem Beschwerdeführer unterstützend zur
Seite stand und sich in diesem Rahmen offensichtlich auch an die Vorinstanz
wandte, führte aus, sie habe mit dem Gemeindepräsidenten von Mels telefoniert
und ihm das Anliegen der Bewohner des Containers unterbreitet, wenn nicht im
Container, so doch wenigstens vor diesem kochen zu dürfen. Der
Gemeindepräsident habe das Begehren abgelehnt und explizit gesagt, das
Kochverbot sei nicht aus feuerpolizeilichen Gründen erlassen worden, sondern
weil es sich hier um eine Notschlafstelle und nicht um eine Unterkunft handle.
In seiner Stellungnahme vom 14. Mai 2012 zuhanden des Bundesgerichts weist der
Beschwerdeführer zur Untermauerung seines Standpunkts darauf hin, dass das
Rechaud elektronisch und nicht etwa gasbetrieben sei.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz ohne Begründung die
Sichtweise des Beschwerdegegners und der Gemeinde Mels übernommen hat. Ob es
dabei den Sachverhalt willkürlich oder sonst unter Verletzung von Bundesrecht
festgestellt hat, kann indessen offenbleiben, wie sich aus den nachfolgenden
Erwägungen ergibt.

3.
3.1 In der Sache selbst wird im angefochtenen Entscheid Folgendes ausgeführt:
Der angezeigte Sachverhalt vermöge ein strafrechtliches Verhalten, namentlich
in Bezug auf die Tatbestände der Sachentziehung und des Amtsmissbrauchs, nicht
zu begründen. Die Wegnahme des Rechauds sei aus feuerpolizeilichen Gründen und
zur Sicherheit der Bewohner der Container erfolgt. Das Rechaud sei im Werkhof
der Gemeinde Mels eingelagert, wo es vom Anzeiger grundsätzlich abgeholt werden
könne. Unter diesen Voraussetzungen könne aber nicht von einer erheblichen
Nachteilszufügung im Sinne von Art. 141 StGB gesprochen werden. Auch liege klar
kein Missbrauch der Amtsgewalt gemäss Art. 312 StGB vor. Ein hinreichender
Tatverdacht im Sinne von Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO (SR 312.0) bestehe nicht,
weshalb keine Strafuntersuchung gegen den Angezeigten zu eröffnen sei.

3.2 Der Beschwerdeführer bringt in Ergänzung zu seiner Kritik an der Annahme
einer feuerpolizeilichen Motivierung vor, das Rechaud sei ein besonders
wichtiger Bestandteil seines Eigentums. Er erhalte täglich Fr. 8.-- Nothilfe.
Mit diesem Betrag könne er sich keine bereits zubereiteten Speisen kaufen. Er
sei deshalb auf eine Kochgelegenheit angewiesen. Die Anklagekammer nenne keinen
Rechtfertigungsgrund für die Sachentziehung. Insbesondere gehe sie, und dies zu
Recht, nicht davon aus, dass das Rechaud eine ernste, unmittelbare und nicht
anders abwendbare Gefahr darstelle. Ausführungen zur Verhältnismässigkeit oder
zum Ersatz für die Eigentumsbeschränkung fehlten im angefochtenen Entscheid.

3.3 Nach Art. 141 StGB macht sich der Sachentziehung strafbar, wer dem
Berechtigten ohne Aneignungsabsicht eine bewegliche Sache entzieht und ihm
dadurch einen erheblichen Nachteil zufügt. Vorliegend ist unbestritten, dass
das Rechaud dem Beschwerdeführer gehörte und der Beschwerdegegner es ihm
wegnahm. Die Vorinstanz verneinte indessen das Tatbestandsmerkmal des
erheblichen Nachteils, denn der Beschwerdeführer könne das Rechaud
grundsätzlich im Werkhof der Gemeinde Mels abholen. Dass der Beschwerdeführer
das Rechaud "grundsätzlich" im Werkhof abholen kann, ergibt sich aus der
Vernehmlassung vom 13. Januar 2012 des Beschwerdegegners und der Gemeinde Mels
im Rahmen des vorinstanzlichen Verfahrens. Unklar ist, in welchem Zeitpunkt dem
Beschwerdeführer mitgeteilt wurde, wo sein Rechaud ist, zumal der
Beschwerdegegner ihm dieses unbestritten bereits am 5. Dezember 2011
weggenommen hatte. Weiter fällt auf, dass laut der Vernehmlassung die Rückgabe
nur unter der Bedingung erfolgt, dass er dieses "den Betreuern" zurückgibt.
Für eine Person, die täglich Fr. 8.-- Nothilfe erhält und in einem Container
ohne Kochstelle untergebracht ist, kann die Wegnahme eines Rechauds einen
erheblichen Nachteil im Sinne von Art. 141 StGB bedeuten. Dies trifft auch dann
zu, wenn sie nur einige wenige Tage auf diesen Gegenstand verzichten muss und
man trotz der erwähnten Bedingung für die Rückgabe nicht von einem endgültigen
Entzug des Gegenstands ausgeht. Auf der Grundlage des von der Anklagekammer
festgestellten Sachverhalts kann nicht gesagt werden, der Tatbestand von Art.
141 StGB sei klar nicht erfüllt. Darüber, wie es sich abschliessend damit
verhält, ist im Rahmen eines Strafverfahrens zu entscheiden. Eine haltlose oder
mutwillige Strafanzeige liegt nicht vor (BGE 137 IV 269 E. 2.7.2 S. 279; 112 Ib
350 E. 2c S. 352 mit Hinweisen). Indem die Anklagekammer die Ermächtigung zur
Eröffnung eines Strafverfahrens verweigerte, verletzte sie Art. 141 StGB i.V.m.
Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO (vgl. zur Publ. bestimmtes Urteil 1B_687/2011,
1B_689/2011 vom 27. März 2012 E. 4.1 f.; BGE 137 IV 219 E. 7.1 S. 226; je mit
Hinweisen).

4.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die
Ermächtigung zur Strafverfolgung des Beschwerdegegners wird erteilt (vgl. Art.
107 Abs. 2 BGG).
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art.
66 Abs. 4 BGG). Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat keinen
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 133 III
439 E. 4 S. 446 mit Hinweis). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird
bei diesem Verfahrenausgang gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid aufgehoben. Die
Ermächtigung zur Strafverfolgung des Beschwerdegegners wird erteilt.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Gemeinde Mels, der Staatsanwaltschaft des
Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach, und der Anklagekammer des Kantons
St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. Juni 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold