Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.117/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 1/2}
1C_117/2012

Urteil vom 16. Juli 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
Gerichtsschreiber Steinmann.

Verfahrensbeteiligte
Einwohnergemeinde Grindel, Gemeindeverwaltung,
Beschwerdeführerin,
handelnd durch den Gemeinderat Grindel, Gemeindeverwaltung,
und dieser vertreten durch Advokat Dr. Heinz Lüscher,

gegen

Simon Lutz-Merrell,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ungültigerklärung einer Motion; Auferlegung der Kosten,

Beschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrats des Kantons Solothurn vom 17.
Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
Die Gruppierung "Pro Wahlen" reichte am 24. Mai 2011 bei der Einwohnergemeinde
Grindel schriftlich eine Motion ein. Das Ziel der Motion war folgendermassen
umschrieben: "Die Primarschule Grindel, Kindergarten Grindel und die
weiterführenden Schulen sollen nach Wahlen (BL) verlegt und die Grindler
Schulkinder sollen in Zukunft in Wahlen und Laufen nach dem
basellandschaftlichen Schulsystem unterrichtet werden". Die Motion wurde
anlässlich der Gemeindeversammlung vom 16. Juni 2011 für erheblich erklärt.
Anlässlich der ausserordentlichen Gemeindeversammlung vom 24. Oktober 2011
befürwortete der Gemeinderat die Motion. 54 Stimmberechtigte stimmten ihr zu,
52 Stimmberechtigte lehnten sie ab (Traktandum 3).

Unter Traktandum 4 beantragte der Gemeinderat einen Kredit von Fr. 32'000.--
zum Einleiten von rechtlichen Schritten, um der genannten Motion Nachachtung zu
verschaffen. Der Kredit wurde mit 54 Nein-Stimmen gegen 52 Ja-Stimmen
abgelehnt.

B.
Bereits am 27. September 2011 verpflichtete der Regierungsrat des Kantons
Solothurn die Gemeinden Grindel und Bärschwil, auf Beginn des Schuljahres 2013/
2014 ihre Volksschule (Kindergarten und Primarschule) zu einem Schulkreis
zusammenzuschliessen und dabei die Gemeinde Kleinlützel in die
Vertragsverhandlungen einzubeziehen (Regierungsratsbeschluss Nr. 2011/2092).
Ein Schreiben des Staatsschreibers vom 19. Oktober 2011 berichtigte die
ursprüngliche Rechtsmittelbelehrung und gab an, es könne direkt beim
Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
subsidiäre Verfassungsbeschwerde erhoben werden.

Die Einwohnergemeinde Grindel erhob am 27. Oktober 2011 beim Bundesgericht
Beschwerde und beantragte die Aufhebung des Regierungsratsbeschlusses vom 27.
September 2011. Diese Beschwerde wird von der II. öffentlich-rechtlichen
Abteilung behandelt (Verfahren 2C_885/2011). Auf eine Aufsichtsbeschwerde von
Simon Lutz-Merell hin rügte der Regierungsrat mit Beschluss vom 26. Juni 2012
das Vorgehen des Gemeinderates, wies indes den Antrag ab, der Gemeinderat sei
anzuweisen, die beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde zurückzuziehen
(Regierungsratsbeschluss Nr. 2012/1355).

C.
Mit Eingabe vom 26. Oktober 2011 erhob Simon Lutz-Merell beim Regierungsrat
Beschwerde gegen den Gemeindeversammlungsbeschluss vom 24. Oktober 2011
betreffend Traktandum 3. Er beantragte, die zugrunde liegende Motion für
ungültig und die Gemeindeversammlungsabstimmung für gegenstandslos zu erklären.
Er machte im Wesentlichen geltend, die Gemeindeversammlung sei für dieses
Geschäft nicht zuständig.

Mit Entscheid vom 17. Januar 2012 hiess der Regierungsrat die Beschwerde gut
und hob den Beschluss der Gemeindeversammlung vom 24. Oktober 2011 bezüglich
der Schulkreisbildung mit Wahlen auf. Gemäss Dispositiv-Ziffer 4.3 wurden die
Verfahrenskosten von Fr. 1'800.-- der Gemeinde Grindel auferlegt
(Regierungsratsbeschluss Nr. 2012/71).

D.
Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates vom 17. Januar 2012 hat die
Einwohnergemeinde Grindel mit Eingabe vom 20. Februar 2012 beim Bundesgericht
Beschwerde erhoben. Sie beantragt die Aufhebung der Kostenregelung in
Dispositiv-Ziffer 4.3 und ersucht darum, ihr gar keine Kosten oder höchstens
Kosten von Fr. 800.-- zu überbinden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersucht
sie um Vereinigung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens mit dem Verfahren
2C_885/2011.

Das Volkswirtschaftsdepartement beantragt die Abweisung der Beschwerde. Simon
Lutz-Merell hat sich ohne ausdrücklichen Antrag am 13. März 2012 vernehmen
lassen.

Mit Eingabe vom 4. Mai 2012 hat die Beschwerdeführerin an ihren Anträgen
festgehalten. Am 14. Mai 2012 hat sich Simon Lutz-Merell erneut zur Sache
geäussert; zudem hat er am 2. Juli 2012 dem Bundesgericht den
Regierungsratsentscheid vom 26. Juni 2012 zugestellt (oben Sachverhalt B).

Erwägungen:

1.
Die vorliegende Beschwerdesache 1C_117/2012 ist trotz des tatsächlichen
Zusammenhangs nicht mit dem Verfahren 2C_885/2011 zu vereinigen. Im einen Fall
stehen Zuständigkeitsfragen und politische Rechte in Frage, für die die I.
öffentlich-rechtliche Abteilung zuständig ist; im andern geht es um Schulrecht,
das von der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung behandelt wird (vgl. Art. 29
Abs. 1 lit. c und Art. 30 Abs. 1 lit. c Ziff. 2 des Reglements des
Bundesgerichts). Zudem bedingen sich die beiden Verfahren nicht.

2.
2.1
Simon Lutz-Merell hatte beim Regierungsrat gegen den Beschluss der
Gemeindeversammlung gestützt auf § 199 des solothurnischen Gemeindegesetzes
(GG, Gesetzessammlung 131.1) wegen der Unzuständigkeit bzw. wegen Verletzung
von politischen Rechten Beschwerde erhoben. Mit dem angefochtenen Entscheid hat
der Regierungsrat die Beschwerde gutgeheissen und den entsprechenden
Gemeindeversammlungsbeschluss aufgehoben. Aus § 199 i.V.m. § 200 GG ist zu
folgern, dass der Regierungsratsentscheid nicht beim Verwaltungsgericht
angefochten werden kann. In diesem Sinne ist die Rechtsmittelbelehrung
abgefasst; sie weist auf die Möglichkeit der öffentlich-rechtlichen Beschwerde
beim Bundesgericht hin.

Der Ausschluss der kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerde erscheint nicht
unproblematisch. Soweit es um die Zuständigkeit der Gemeindeversammlung bzw.
der Einwohnergemeinde geht, kann kaum von einem Anwendungsfall von Art. 86 Abs.
3 BGG gesprochen werden. Soweit politische Rechte der kommunalen Ebene in Frage
stehen, kann nicht auf Art. 88 Abs. 1 und Abs. 2 BGG abgestellt werden (vgl.
Gerold Steinmann, Basler BGG-Kommentar, 2. Auflage, 2011, Art. 88 N. 13a und
17). Das Erfordernis der kantonalen Letztinstanzlichkeit kann indes im
vorliegenden Verfahren angesichts der konkret aufgeworfenen Fragestellung mit
beschränkter Tragweite offen bleiben.

2.2 Die Gemeinde rügt ausschliesslich den Kostenpunkt und akzeptiert den
Regierungsratsentscheid in der Sache selbst. Der Kostenpunkt bemisst sich nach
kantonalem Recht, dessen Anwendung das Bundesgericht ausschliesslich unter dem
Gesichtswinkel des Bundesverfassungsrechts, insbesondere nach Massgabe des
Willkürverbots gemäss Art. 9 BV prüft. Es gelten hierfür die qualifizierten
Begründungserfordernisse nach Art. 106 Abs. 2 BGG.

3.
3.1 Mit dem angefochtenen Entscheid auferlegte der Regierungsrat die
Verfahrenskosten der Gemeinde. Er ging von der Bestimmung von § 37 Abs. 2 Satz
2 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG, Gesetzessammlung 124.11) aus.
Danach werden den am Verfahren beteiligten Behörden in der Regel keine
Verfahrenskosten auferlegt. Von dieser Regel könne indes abgewichen werden,
wenn Behörden oder Organe durch ihr Verhalten massgeblich zu einem
Beschwerdeverfahren beigetragen haben. Diese Konstellation liege hier vor, weil
sich die Gemeinde mit ihrem Gemeindeversammlungsbeschluss vom 24. Oktober 2011
über den Regierungsratsentscheid vom 27. September 2011 hinweggesetzt und somit
das Beschwerdeverfahren provoziert habe.

Demgegenüber vertritt die Gemeinde die Auffassung, die zugrunde liegende Motion
der Gruppierung "Pro Wahlen" sei bereits mit der Erheblicherklärung anlässlich
der Gemeindeversammlung vom 16. Juni 2011 verbindlich geworden. Sie habe somit
mit den Beschlüssen anlässlich der Gemeindeversammlung vom 24. Oktober 2011
nicht Anlass zum Beschwerdeverfahren vor dem Regierungsrat gegeben. Deshalb sei
es willkürlich, ihr die Verfahrenskosten aufzuerlegen.

Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist der Regierungsrat mit der
Kostenauflage nicht in Willkür verfallen. Anlässlich der Gemeindeversammlung
vom 23. Juni 2010 ist dem Antrag des Gemeinderates zugestimmt worden, dass
dieser aktiv werde. Gemäss Protokoll der Gemeindeversammlung vom 16. Juni 2011
hat der Gemeindepräsident ausgeführt, im Jahre 2010 sei lediglich darüber
abgestimmt worden, Vertragsverhandlungen mit Wahlen aufzunehmen; ein Entscheid
für Wahlen sei nicht getroffen worden (S. 5). Am 16. Juni 2011 ist die Motion
der Gruppierung "Pro Wahlen" erheblich erklärt worden. Zur Bedeutung einer
Zustimmung zur Motion hat der Gemeindepräsident dargelegt, es werde lediglich
darüber abgestimmt, ob sie erheblich erklärt werde oder nicht; werde sie
erheblich erklärt, sei der Gemeinderat aufgefordert, ein entsprechendes
Traktandum zu erstellen; dann folge die Abstimmung, ob die Bevölkerung die
Schule mit Wahlen möchte (S. 5). Anlässlich der Gemeindeversammlung vom 24.
Oktober 2011 ist nunmehr der Motion mit knappem Stimmenverhältnis zugestimmt
worden. Damit sollen "die Primarschule Grindel, Kindergarten Grindel und die
weiterführenden Schulen (...) nach Wahlen (BL) verlegt und die Grindler
Schulkinder (...) in Zukunft in Wahlen und Laufen nach dem
basellandschaftlichen Schulsystem unterrichtet werden"; gleichzeitig ist der
Schulkreisbildung Wahlen-Grindel zugestimmt worden. In diesem Zeitpunkt war der
regierungsrätliche Beschluss bekannt; er ist von den Stimmberechtigten und vom
Gemeinderat einlässlich kommentiert worden.

Aufgrund dieses Hergangs kann ohne Willkür geschlossen werden, dass die Motion
der Gruppierung "Pro Wahlen" vor dem Hintergrund der Gemeindeversammlungen vom
23. Juni 2010 und 16. Juni 2011 noch keine Verbindlichkeit erlangt hat und dass
die entscheidende Abstimmung erst am 24. Oktober 2011 erfolgt ist. Wäre die
Verbindlichkeit bereits am 16. Juni 2011 festgestanden, wäre kein weiterer
Beschluss mehr nötig gewesen. Dem Gemeinderat und den Stimmberechtigten war der
Regierungsratsentscheid vom 27. September 2011 anlässlich der
Gemeindeversammlung vom 24. Oktober 2011 bekannt. Die Versammlung hat sich
bewusst dem Regierungsratsentscheid entgegengestellt. Bei dieser Sachlage
konnte der Regierungsrat ohne Verletzung von Art. 9 BV annehmen, die Gemeinde
habe sich über den Regierungsratsentscheid hinweggesetzt und habe damit das
Beschwerdeverfahren provoziert. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch nicht
willkürlich, dass der Regierungsrat von der Grundregel von § 37 Abs. 2 Satz 2
VRG abgewichen ist. Daran vermag der Verweis auf ein Urteil des kantonalen
Verwaltungsgerichts, das von der Beschwerdeführerin nicht eingereicht worden
ist, nichts zu ändern. Damit erweist sich die Beschwerde als unbegründet,
soweit mit ihr die Kostenauflage als solche angefochten wird.

3.2 Eventualiter beantragt die Beschwerdeführerin, dass ihr höchstens
Verfahrenskosten im Betrag von Fr. 800.-- auferlegt werden. Sie begründet das
damit, im angefochtenen Entscheid sei vorerst von einem Vollkostenbetrag von
Fr. 800.-- die Rede. Dieser Betrag sei mit einer zusätzlichen Gebühr und ohne
Begründung um Fr. 1'000.-- auf insgesamt Fr. 1'800.-- erhöht worden. Dies sei
nicht haltbar.

Demgegenüber führt das Volkswirtschaftsdepartement in seiner Vernehmlassung
aus, bei dem in der entsprechenden Erwägung genannten Betrag von Fr. 800.--
handle es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler. Es liege auf der Hand,
dass der Betrag von Fr. 800.-- einer Vollkostenrechnung nicht entspreche. Am
Ende der Erwägung 3 sowie im Dispositiv werde denn auch der Betrag von Fr.
1'800.-- genannt.

Die Beschwerdeführerin nimmt zu den Ausführungen in der Vernehmlassung nicht
Stellung. Es leuchtet durchaus ein, dass ein Betrag von Fr. 800.-- keiner
Vollkostenrechnung entspricht in einem Verfahren, in dem diverse
Instruktionsschreiben, zwei Schriftenwechsel, die Vorbereitung des
Regierungsratsentscheids und die Ausfertigungs- und Versandkosten anfielen. Es
kann ohne Willkür angenommen werden, dass sich ein Schreibfehler eingeschlichen
hat. Nicht ausschlaggebend ist der Umstand, dass vom Beschwerdegegner vorerst
ein Kostenvorschuss von Fr. 800.-- einverlangt worden ist. Damit entgeht die
Kostenauflage mit einem Betrag von Fr. 1'800.-- dem Vorwurf der Willkür. Die
Beschwerde erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet.

4.
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Gemäss Art. 66 Abs. 4 BGG sind keine Kosten zu erheben. Dem Beschwerdegegner,
der keinen entsprechenden Antrag gestellt hat, ist keine Parteientschädigung
zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Regierungsrat des Kantons Solothurn
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Juli 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Steinmann