Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.742/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_742/2012

Urteil vom 17. Januar 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich, Betäubungsmitteldelikte und
Organisierte Kriminalität, Selnaustrasse 28, Postfach, 8027 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Nathan Landshut.

Gegenstand
Vorzeitiger Strafvollzug,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 6. November 2012 des Obergerichts des
Kantons Zürich, III. Strafkammer.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich (im Folgenden: Staatsanwaltschaft)
führte eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen Menschenhandels etc. Am
24. April 2012 erhob sie Anklage.
Am 23. August 2012 verurteilte das Bezirksgericht Zürich (9. Abteilung)
X.________ wegen qualifizierten Menschenhandels, mehrfacher Förderung der
Prostitution, sexueller Nötigung, mehrfacher einfacher Körperverletzung und
Tätlichkeiten zu einer Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren, einer Geldstrafe von 90
Tagessätzen zu Fr. 10.-- und einer Busse von Fr. 300.--.

B.
X.________ befindet sich seit dem 8. Juni 2010 in Haft. Am 30. August 2012
ersuchte er um Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts.
Mit Verfügung vom 11. September 2012 wies der Abteilungspräsident des
Bezirksgerichts das Gesuch ab.
Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des
Kantons Zürich (III. Strafkammer) am 6. November 2012 gut und bewilligte den
vorzeitigen Strafantritt.

C.
Die Staatsanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der
Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und der vorzeitige Strafantritt zu
verweigern.

D.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
X.________ hat sich vernehmen lassen. Er beantragt die Abweisung der
Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde
in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung.
Die Beschwerde ist nach Art. 80 BGG zulässig. Die Beschwerdeführerin ist gemäss
Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 3 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die
übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
grundsätzlich einzutreten (vgl. Urteil 1B_90/2012 vom 21. März 2012 E. 1 mit
Hinweis).

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, der angefochtene Beschluss verletze
Art. 236 StPO.

2.2 Gemäss Art. 236 Abs. 1 StPO kann die Verfahrensleitung der beschuldigten
Person bewilligen, Freiheitsstrafen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des
Verfahrens es erlaubt.
Der vorzeitige Strafantritt stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale
Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar.
Er soll ermöglichen, dass der beschuldigten Person bereits vor einer
rechtskräftigen Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im
Rahmen des Strafvollzugs geboten werden können (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277).
Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des
vorzeitigen Strafvollzugs muss weiterhin ein besonderer Haftgrund wie
namentlich Kollusionsgefahr gegeben sein. Dieser Haftgrund dient primär der
Sicherung einer ungestörten Strafuntersuchung. Je weiter das Strafverfahren
fortgeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden
konnte, desto höhere Anforderungen sind grundsätzlich an den Nachweis von
Kollusionsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2 f. S. 23 f. mit Hinweisen).
Für den vorzeitigen Strafvollzug ist, auch wenn er in einer Strafanstalt
erfolgt, grundsätzlich das Haftregime der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft
massgebend. Die für den ordentlichen Strafvollzug geltenden
Vollzugserleichterungen können nach Massgabe der Erfordernisse des
Verfahrenszweckes und gemäss den Notwendigkeiten, die sich aus dem besonderen
Haftgrund der Kollusionsgefahr ergeben, beschränkt werden (vgl. Art. 236 Abs. 4
StPO; BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 278). Allerdings ist nicht zu verkennen, dass
Kollusionshandlungen im Strafvollzug nicht gleich wirksam verhindert werden
können wie in der Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Der vorzeitige
Strafantritt ist deshalb zu verweigern, wenn die Kollusionsgefahr derart hoch
ist, dass mit der Gewährung des vorzeitigen Strafantritts der Haftzweck und die
Ziele des Strafverfahrens gefährdet würden (Urteil 1B_90/2012 vom 21. März 2012
E. 2.2 mit Hinweisen).

2.3 Sowohl die Beschwerdeführerin als auch der Beschwerdegegner haben gegen das
bezirksgerichtliche Urteil Berufung erhoben. Die Beschwerdeführerin bringt vor,
die Kollusionsgefahr müsse nach wie vor als erheblich eingestuft werden, zumal
nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Berufungsinstanz die Opfer befragen
möchte.
Die Strafuntersuchung ist abgeschlossen. Das Bezirksgericht hat am 23. August
2012 das erstinstanzliche Urteil gefällt und den Beschwerdegegner zu einer
langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Es stützt die Schuldsprüche namentlich
auf die Aussagen der betroffenen Frauen, welche mehrmals befragt wurden, die
Ergebnisse der Telefonüberwachung und ärztliche Befunde. Die wesentlichen
Beweise sind damit erhoben. Nach der dargelegten Rechtsprechung sind an die
Annahme von Kollusionsgefahr daher erhöhte Anforderungen zu stellen.
Die Vorinstanz stellt nicht fest, dass der Beschwerdegegner
Kollusionshandlungen vorgenommen oder dies versucht hat. Dass sie insoweit den
Sachverhalt nach Art. 97 Abs. 1 BGG offensichtlich unvollständig und damit
unzutreffend festgestellt hätte, macht die Beschwerdeführerin nicht hinreichend
substanziiert geltend (zu den Begründungsanforderungen insoweit BGE 133 II 249
E. 1.4.2 f. S. 254 f.). Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, die gesamten
Strafakten danach durchzusehen, ob sich darin gegebenenfalls Hinweise für
Kollusionshandlungen finden lassen. Der beantragte Beizug der Strafakten ist
deshalb abzulehnen.
Nach dem Sachverhalt, wie er dem bezirksgerichtlichen Urteil zugrunde liegt,
muss der sich in Freiheit befindenden Ehefrau des Beschwerdegegners die
Identität der Opfer bekannt sein. Hätte die Familie des Beschwerdegegners auf
die Opfer Einfluss nehmen wollen, hätte sie dies somit schon lange tun können.
Der vorzeitige Strafantritt ändert insoweit nichts.
Die Opfer haben in zahlreichen Einvernahmen im Wesentlichen konstant ausgesagt.
Würden sie ihre belastenden Aussagen nach dem vorzeitigen Strafantritt
widerrufen, wäre das nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz kaum
glaubhaft.
Würdigt man dies gesamthaft, ist es nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz
die Kollusionsgefahr nicht als derart hoch eingestuft hat, dass der vorzeitige
Strafantritt ausser Betracht fiele.
Zwar verbleiben gewissen Bedenken, da der Beschwerdegegner weder geständig noch
einsichtig ist und die Opfer teilweise geschlagen haben soll. Dem kann jedoch -
was der Beschwerdegegner (Vernehmlassung S. 2) einräumt - durch eine nach der
dargelegten Rechtsprechung zulässige Einschränkung des Haftregimes im
vorzeitigen Strafvollzug Rechnung getragen werden. In Betracht kommen
namentlich die Überwachung von Besuchen und die Kontrolle des Briefverkehrs.
Die Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts hält danach vor Bundesrecht
stand. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG) und hat der Kanton dem Beschwerdegegner eine Entschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdegegner eine Entschädigung von Fr. 1'500.--
zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. Januar 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Härri