Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.632/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_632/2012

Urteil vom 19. Dezember 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Chaix,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch MLaw Corinne Burkard,

gegen

Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm, Untere Grabenstrasse 30, Postfach 1475, 4800
Zofingen.

Gegenstand
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 19. September 2012 des Obergerichts des
Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer.

Sachverhalt:

A.
Am 16. Januar 2012 erhob die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm Anklage gegen
Y.________ wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinn von
dessen Art. 19a.
Am 26. April 2012 sprach die Präsidentin des Bezirksgerichts Zofingen
Y.________ von Schuld und Strafe frei.
Am 18. Mai 2012 meldete die Staatsanwaltschaft Berufung an und verlangte ein
begründetes Urteil.
Am 25. Mai 2012 ersuchte Y.________ den Leitenden Staatsanwalt um amtliche
Verteidigung. Dieser leitete das Gesuch zuständigkeitshalber an das
Gerichtspräsidium Zofingen weiter mit der Bemerkung, "aufgrund des
Präzedenzcharakters des Falles" sei aus seiner Sicht die amtliche Verteidigung
des Gesuchstellers wünschenswert.
Am 20. Juli 2012 setzte die Präsidentin des Bezirksgerichts Zofingen
Rechtsanwalt X.________, als amtlichen Verteidiger von Y.________ ein.
Am 31. August 2012 stellte die Gerichtspräsidentin den Parteien das begründete
Urteil zu.
Am 14. September 2012 erklärte die Staatsanwaltschaft beim Obergericht des
Kantons Aargau Berufung gegen das bezirksgerichtliche Urteil vom 26. April
2012.
Am 19. September 2012 widerrief der obergerichtliche Verfahrensleiter die von
der Präsidentin des Bezirksgerichts Zofingen am 20. Juli 2012 gewährte amtliche
Verteidigung mit Wirkung ex tunc.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen obergerichtlichen
Entscheid aufzuheben und die amtliche Verteidigung ex nunc zu widerrufen.

C.
Staatsanwaltschaft und Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über den
rückwirkenden Widerruf einer amtlichen Verteidigung. Mit der Beendigung des
amtlichen Mandats ist das Verfahren für den Beschwerdeführer abgeschlossen;
insofern liegt ein Endentscheid (Art. 90 BGG) vor. Das Hauptverfahren ist eine
Strafsache im Sinn von Art. 78 Abs. 1 BGG, womit die Beschwerde in Strafsachen
zulässig ist. Der Beschwerdeführer, der daran als amtlicher Verteidiger des
Beschuldigten beteiligt war, hat ein rechtlich geschütztes Interesse, sich
gegen den rückwirkenden Widerruf seines Mandats zur Wehr zu setzen und ist
damit befugt, sie zu erheben (Art. 81 Abs. 1 BGG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.
2.1 Der Verfahrensleiter des Obergerichts erwog im angefochtenen Entscheid (E.
2 S. 1 f.), die Staatsanwaltschaft verlange im Strafverfahren gegen Y.________
dessen Verurteilung zu einer Busse von 1'000 Franken wegen mehrfacher
Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes. Es handle sich damit nach Art. 132
Abs. 2 und 3 StPO klarerweise um einen Bagatellfall, in welchem kein Anspruch
auf amtliche Verteidigung bestehe. Der blosse Umstand, dass sich im Verfahren
die Frage der Verwertbarkeit von Beweismitteln stelle, könne daran nichts
ändern. Demzufolge sei die Bestellung des Beschwerdeführers als amtlicher
Verteidiger ex tunc zu widerrufen.

2.2 Der Widerruf einer in formelle Rechtskraft erwachsenen Verfügung ist nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur zulässig, wenn das Interesse an der
richtigen Durchführung des objektiven Rechts den Anspruch des Betroffenen auf
Schutz des berechtigten Vertrauens überwiegt (BGE 137 I 69 E. 2.5). Der Schutz
des Vertrauens geht in der Regel unter anderem dann vor, wenn der Betroffene
von der ihm durch die Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht
hat. Die Abwägung des öffentlichen Interesses an der richtigen Durchführung des
objektiven Rechts und dem durch Treu und Glauben gebotenen Schutz des
berechtigten Vertrauens des Verfügungsadressaten in den Fortbestand der
fehlerhaften Verfügung ist unter Würdigung aller Aspekte des Einzelfalls
vorzunehmen (BGE a.a.O. E. 2.3, mit Hinweisen).

2.3 Der angefochtene Entscheid ist bereits aus formellen Gründen fehlerhaft,
weil der Verfahrensleiter des Obergerichts die Verfügung vom 20. Juli 2012 ohne
jede Interessenabwägung ex tunc widerrufen hat. Er ist aber auch materiell
bundesrechtswidrig, weil die Interessenabwägung die rückwirkende Aufhebung der
amtlichen Verteidigung ausschliesst:
Der Beschwerdeführer wurde am 20. Juli 2012 als amtlicher Verteidiger
eingesetzt. Es trifft zu, dass es im Verfahren gegen Y.________ um
Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes geht, für die ihm eine Busse von Fr.
1000.- droht. Es handelt sich damit um einen Bagatellfall im Sinn von Art. 132
Abs. 2 und 3 StPO, in welchem jedenfalls in der Regel keine amtliche
Verteidigung gewährt wird. Allerdings stand der zuständigen Bezirksrichterin
für ihren Entscheid vom 20. Juli 2012 ein gewisser Ermessensspielraum zu, und
die Einsetzung eines amtlichen Verteidigers war von der Staatsanwaltschaft
befürwortet worden, weil sie von diesem Verfahren eine präjudizielle
Entscheidung über die Verwertbarkeit eines auf umstrittene Weise beschafften
Beweismittels erwartete. Auch wenn somit die Bezirksrichterin ihren
Ermessensspielraum bei der Auslegung von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO
ausgeschöpft oder möglicherweise sogar überdehnt hat, so lässt sich die
Gewährung der amtlichen Verteidigung mit sachlichen Gründen rechtfertigen und
ist jedenfalls nicht von vornherein unvertretbar. Das Interesse, sie unter dem
Gesichtspunkt der richtigen Durchführung des objektiven Rechts rückwirkend zu
korrigieren, ist unter diesen Umständen gering.
Die Verfügung vom 20. Juli 2012 wurde von der zuständigen Stelle rechtmässig
erlassen. Sie ist nach dem Gesagten keineswegs derart unhaltbar, dass der
rechtskundige Beschwerdeführer ihre Fehlerhaftigkeit hätte erkennen müssen und
sich nicht hätte darauf verlassen dürfen. Er hat gestützt darauf die
Verteidigung seines Mandanten an die Hand genommen und war dazu als amtlicher
Anwalt im Übrigen auch verpflichtet. Sein Vertrauen in den Bestand der
Verfügung vom 20. Juli 2012 ist damit offensichtlich schutzwürdig. Deren
rückwirkende Aufhebung ist mit Treu und Glauben nicht vereinbar, die Rüge ist
begründet.

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben
und die Verfügung der Bezirksrichterin vom 20. Juli 2012 mit Wirkung ab dem 24.
September 2012, als dem Beschwerdeführer die obergerichtliche Verfügung vom 19.
September 2012 zugestellt wurde, ist aufzuheben. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat der
Kanton Aargau dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene
Parteientschädigung zu bezahlen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die angefochtene Verfügung des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 19. September 2012 sowie die Verfügung der
Präsidentin des Bezirksgerichts Zofingen vom 20. Juli 2012 mit Wirkung ab dem
24. September 2012 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.
1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm
und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 19. Dezember 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi