Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.516/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_516/2012

Urteil vom 9. Januar 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Fridolin Walther,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern.

Gegenstand
Strafverfahren; Ablehnung Siegelungsantrag,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 6. August 2012 des Obergerichts des Kantons
Bern, Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Bern führt gegen X.________ eine Strafuntersuchung wegen
diverser Konkursdelikte. Am 11. November 2005 stellte die Kantonspolizei beim
Betreibungs- und Konkursamt Berner Oberland eine Festplatte sicher, welche
X.________ im Rahmen eines Konkursverfahrens abgegeben hatte. In der Folge
konnte die Festplatte nicht mehr aufgefunden werden, bis sie X.________ selbst
bei einer Akteneinsicht am 25. Oktober 2010 entdeckte. Anlässlich der
Einvernahme, welche der Akteneinsicht vorangegangen war, hatte X.________
geltend gemacht, auf der Festplatte befänden sich Daten, die ihn entlasten
würden. Mit Schreiben vom 27. Oktober 2010 beantragte er die Auswertung aller
darauf gespeicherten Daten. Da die Festplatte über 30'000 Dateien enthielt,
forderte ihn die Staatsanwaltschaft in der Folge auf, die Daten im Beisein der
Kantonspolizei selber zu sichten, die entlastenden Elemente zu bezeichnen und
dafür eine geeignete Software zur Verfügung zu stellen. Gegen diese Verfügung
erhob X.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Bern, welches das
Rechtsmittel teilweise guthiess. Daraufhin setzte die Staatsanwaltschaft am 31.
Oktober 2011 ein neues Schreiben auf. Sie fragte X.________ nunmehr an, ob er
bei der Sichtung der Dateien seine (freiwillige) Mithilfe anbiete und die zum
Lesen der Dateien geeignete Software zur Verfügung stellen könne. Gleichzeitig
setzte sie ihm eine Frist zur Antwort bis am 16. November 2011. Am letzten Tag
vor Ablauf der Frist verlangte X.________ von der Staatsanwaltschaft, die
Festplatte sei zu versiegeln. Dieses Gesuch wurde von der Staatsanwaltschaft am
4. Mai 2012 abgewiesen. Es sei verspätet erfolgt; zudem fehle X.________ die
Legitimation und sei sein Verhalten rechtsmissbräuchlich, da er zuvor die
Auswertung der Daten verlangt habe. Eine gegen diese Verfügung erhobene
Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Bern mit Beschluss vom 6. August
2012 ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 12. September 2012
beantragt X.________, der Beschluss des Obergerichts und die Verfügung der
Staatsanwaltschaft seien aufzuheben und es sei die Versiegelung der Festplatte
anzuordnen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Obergericht und die Generalstaatsanwaltschaft haben auf eine Stellungnahme
verzichtet.
Mit Präsidialverfügung vom 4. Oktober 2012 hat das Bundesgericht das Gesuch des
Beschwerdeführers um Erlass einer vorsorglichen Massnahme gutgeheissen und die
vorläufige Versiegelung der Festplatte angeordnet.

Erwägungen:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid betrifft die Abweisung eines Siegelungsgesuchs
gemäss Art. 248 Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft. Dagegen ist die
Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben. Dem Beschwerdeführer,
der geltend macht, er sei Inhaber der Festplatte und auf dieser befänden sich
unter anderem persönliche Daten (Tagebücher, Bilder, persönliche Mitteilungen
etc.), droht infolge der Ablehnung der Siegelung ein nicht wieder
gutzumachender Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Es verhält sich insofern
gleich wie bei einem Entsiegelungsentscheid (vgl. Urteil 1B_27/2012 vom 27.
Juni 2012 E. 1 mit Hinweisen). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu
keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.

1.2 Unzulässig ist indessen der Antrag des Beschwerdeführers, auch die
Verfügung der Staatsanwaltschaft sei aufzuheben. Diese ist durch den Entscheid
des Obergerichts ersetzt worden (Devolutiveffekt) und gilt als inhaltlich
mitangefochten (BGE 134 II 142 E. 1.4 S. 144 mit Hinweis).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 248 Abs. 1 StPO sehe keine
Befristung für den Siegelungsantrag vor. Zudem habe noch keine Auswertung der
Festplatte stattgefunden, sondern erst eine Sichtung. Von ihm unter diesen
Umständen zu verlangen, in zeitlich nahem Zusammenhang zur Einvernahme vom 25.
Oktober 2010 den Siegelungsantrag zu stellen, verletze neben Art. 248 Abs. 1
StPO auch das Verbot der Willkür (Art. 9 BV) und des überspitzten Formalismus
(Art. 29 Abs. 1 BV). Zudem sei ihm nie die Möglichkeit gegeben worden, sich
vorgängig zum Inhalt der Aufzeichnungen zu äussern, wie dies Art. 247 Abs. 1
StPO verlange. Die Vorinstanz lasse diesbezüglich genügen, dass er sich
faktisch habe äussern können, insbesondere anlässlich der Einvernahme vom 25.
Oktober 2010. Zu diesem Zeitpunkt habe er aber noch gar keine Kenntnis vom
erfolgten Beizug der Festplatte haben müssen, zumal er sie ja erst im Anschluss
an die Einvernahme gefunden habe. Es dürfe von ihm auch nicht erwartet werden,
sich spontan zu äussern, ohne eine Aufforderung gemäss Art. 247 Abs. 1 StPO
erhalten zu haben. Zu beachten sei auch, dass es im Oktober 2010 keineswegs
klar gewesen sei, ob der rund zehnjährige Datenträger überhaupt noch gelesen
werden könnte. Der angefochtene Entscheid verletze schliesslich Art. 264 Abs. 1
lit. c StPO, da sich auf der Festplatte Korrespondenz mit seinem früheren
Rechtsvertreter befinde.

2.2 Das Obergericht führte zur Begründung seines Entscheids aus, es erscheine
fraglich, ob der Beschwerdeführer Inhaber der Festplatte gewesen sei, zumal er
diese im Rahmen eines Konkursverfahrens der Y.________ an das Konkursamt
übergeben habe, wo sie in der Folge sichergestellt worden sei. Die Frage könne
jedoch offen bleiben, da sein Siegelungsantrag am 16. November 2011
offensichtlich verspätet erfolgt sei. Der Beschwerdeführer sei von Anfang an
anwaltlich vertreten gewesen und habe mehrfach die Gelegenheit gehabt, sich zum
Inhalt der Festplatte zu äussern. Dies habe er auch getan. So habe er bereits
anlässlich seiner Einvernahme vom 25. Oktober 2010 konkrete Angaben zum Inhalt
des Datenträgers gemacht, obwohl dieser in diesem Moment noch vermisst wurde.
Auch am 27. Oktober 2010, als er die sofortige Auswertung verlangte, habe er
sich zu den Daten äussern können. Nachdem am 8. Dezember 2010 der Auftrag an
die Kantonspolizei zur Durchsuchung des Datenträgers ergangen sei, sei es nur
noch um die Modalitäten gegangen, insbesondere um die Frage der Mitwirkung des
Beschwerdeführers.

2.3 Art. 248 Abs. 1 StPO sieht vor, dass Aufzeichnungen und Gegenstände, die
nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder
Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder
beschlagnahmt werden dürfen, zu versiegeln sind und von den Strafbehörden weder
eingesehen noch verwendet werden dürfen. Das Gesetz enthält jedoch keine Frist,
innert welcher die Siegelung verlangt werden muss; auch die Botschaft äussert
sich dazu nicht (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des
Strafprozessrechts, BBl 2006 1239 Ziff. 2.5.4.3). Die Literatur geht, soweit
ersichtlich, einhellig davon aus, dass dies sofort zu geschehen hat, das heisst
in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Sicherstellung der
Aufzeichnungen oder Gegenstände (OLIVIER THORMANN/BEAT BRECHBÜHL, in: Basler
Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 11 zu Art. 248 StPO;
CATHERINE CHIRAZI, in: Commentaire Romand, Code de procédure pénale suisse,
2011, N. 6 zu Art. 248 StPO; ANDREAS J. KELLER, in: Kommentar zur
Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 11 zu Art. 248 StPO;
NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], 2009, N. 4 zu Art.
248 StPO). KELLER geht davon aus, dass dem Berechtigten die Möglichkeit
eingeräumt werden müsse, sich von einem Anwalt beraten zu lassen und deshalb
die Einwendungen gegen eine Durchsuchung allenfalls auch noch einige Stunden
nach deren Abschluss vorzubringen (a.a.O.). Die Auffassung, wonach der Antrag
auf Siegelung unmittelbar zu stellen ist, entspricht dem Beschleunigungsgebot
(Art. 5 StPO). Sie steht zudem in Einklang mit der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zu Art. 69 Abs. 3 des (durch Art. 446 Abs. 1 und Anhang 1 StPO)
aufgehobenen Bundesgesetzes vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege
(AS 50 685) und zu Art. 50 Abs. 3 VStR (SR 313.0) und wurde vom Bundesgericht
unlängst auch in Bezug auf Art. 248 Abs. 1 StPO bestätigt (BGE 127 II 151 E. 4b
S. 154; 114 Ib 357 E. 4 S. 360; Urteil 1B_320/2012 vom 14. Dezember 2012 E. 4;
je mit Hinweisen).

2.4 Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, spätestens am 25. Oktober 2010
Kenntnis von der Sicherstellung der Festplatte und in groben Zügen auch von
deren Inhalt gehabt zu haben. Insbesondere ist nicht ersichtlich und wird vom
Beschwerdeführer auch nicht behauptet, dass er erst später von Gründen, welche
der Durchsuchung oder Beschlagnahme entgegenstehen würden, erfahren hat. Wenn
er unter diesen Umständen am 27. Oktober 2010 die sofortige Auswertung aller
auf der Festplatte vorhandenen Daten verlangte, nahm er damit zum einen sein
Recht auf Äusserung gemäss Art. 247 Abs. 1 StPO wahr, zum anderen verzichtete
er damit unzweideutig auf die Siegelung gemäss Art. 248 Abs. 1 StPO. Eine
zusätzliche förmliche Aufforderung durch die Staatsanwaltschaft an den
Beschwerdeführer, sich zum Inhalt der Aufzeichnungen zu äussern, wäre ein
leerer Formalismus gewesen. Weder der Wortlaut von Art. 247 Abs. 1 StPO noch
dessen Sinn und Zweck, der in der Gewährung des rechtlichen Gehörs liegt,
erforderten ein derartiges Vorgehen. Die Vorinstanz verletzte kein Bundesrecht,
wenn sie das über ein Jahr später erfolgte Gesuch des Beschwerdeführers auf
Siegelung als verspätet ansah.

2.5 Aus den genannten Gründen ist der Beschwerde kein Erfolg beschieden und es
kann offen bleiben, wie es sich mit der Rüge des Beschwerdeführers verhält, das
Obergericht habe ihm zu Unrecht Rechtsmissbrauch vorgeworfen. Ob der
Beschwerdeführer das Recht auf Siegelung nicht nur wegen Verzicht, sondern auch
wegen Verstoss gegen das Rechtsmissbrauchsverbot verwirkt hatte, ist nicht
wesentlich. Offen bleiben kann auch die vom Obergericht andiskutierte Frage, ob
der Beschwerdeführer überhaupt Inhaber der Daten war.
Bei der Durchsuchung und allfälligen Beschlagnahme der Daten wird die
Staatsanwaltschaft insbesondere den Grundsatz der Verhältnismässigkeit (Art. 5
Abs. 2 BV, Art. 197 Abs. 1 lit. c und d, Abs. 2 StPO) und die in Art. 264 StPO
genannten Einschränkungen der Beschlagnahme zu beachten haben.

3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es ist keine Parteientschädigung
zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. Januar 2013

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold