Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.497/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_497/2012

Urteil vom 3. Oktober 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, Postfach 6250,
3001 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________, Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecher Hans Keller.

Gegenstand
Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 23. August 2012 des Obergerichts des Kantons
Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern führt eine Strafuntersuchung gegen Dr.
med. X.________ wegen des Verdachts der Veruntreuung und des Betrugs. Sie wirft
ihm vor, er habe in den Jahren 2008 bis 2012 insbesondere mehrere Frauen, mit
denen er eine Liebesbeziehung eingegangen sei, unter Angabe verschiedener
Gründe um Geld gebeten, das er dann abmachungswidrig nicht zurückgezahlt habe.
Der Deliktsbetrag belaufe sich auf insgesamt mehrere Hunderttausend Franken.
X.________ ist geständig.
Am 8. Mai 2012 nahm ihn die Polizei fest. Am Tag darauf versetzte ihn das
Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern in Untersuchungshaft, die es in der
Folge verlängerte.

B.
Am 6. Juli 2012 ersuchte X.________ um Haftentlassung.
Am 23. Juli 2012 wies das Zwangsmassnahmengericht das Gesuch ab.
Die von X.________ hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des
Kantons Bern am 23. August 2012 gut. Es hob den Entscheid des
Zwangsmassnahmengerichts auf und entliess X.________ unverzüglich aus der Haft.
Das Obergericht bejahte zwar den dringenden Tatverdacht nicht nur der
Veruntreuung, sondern auch des Betrugs. Es verneinte jedoch Flucht- und
Wiederholungsgefahr. Ein anderer besonderer Haftgrund stand nicht zur
Diskussion.

C.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern führt Beschwerde in Strafsachen
mit dem Antrag, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zum
neuen Entscheid an dieses zurückzuweisen. Eventuell sei festzustellen, dass die
Haftentlassung bundesrechtswidrig gewesen sei.

D.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
X.________ hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde
in Strafsachen gegeben.
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 BGG zulässig.
Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen. Sie
ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 3 BGG zur Beschwerde befugt (BGE
137 IV 230 E. 1 S. 232 mit Hinweis).
Die Beschwerdeführerin richtet sich einzig gegen die Verneinung der
Wiederholungsgefahr, nicht dagegen der Fluchtgefahr. Damit hat sie weiterhin
ein aktuelles praktisches Interesse an der Behandlung der Beschwerde. Bestünde
Wiederholungsgefahr, müsste diese - sofern keine wirksamen Ersatzmassnahmen zur
Verfügung stünden - durch Rückversetzung des Beschwerdegegners in
Untersuchungshaft gebannt werden.
Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf
die Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist Untersuchungshaft zulässig, wenn die
beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt ist
und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder
Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher
gleichartige Straftaten verübt hat.
Nach der Rechtsprechung kann die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr
dem Verfahrensziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich
der Strafprozess durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht.
Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer schwerwiegender
Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte an der
Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als
Haftgrund (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85; 135 I 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen).
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist entgegen dem deutschsprachigen Gesetzeswortlaut
dahin auszulegen, dass "Verbrechen oder schwere Vergehen" drohen müssen (BGE
137 IV 84 E. 3.2 S. 85 f.).
Die Begehung der in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO genannten Delikte muss
ernsthaft zu befürchten sein. Erforderlich ist eine sehr ungünstige
Rückfallprognose. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist restriktiv zu
handhaben (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 f.; 135 I 71 E. 2.3 S. 73; je mit
Hinweisen).
Die Inhaftierung wegen Wiederholungsgefahr kommt nicht nur bei ernsthaft zu
befürchtenden Delikten gegen Leib und Leben in Betracht, sondern namentlich
auch bei schweren Vermögensdelikten wie gewerbsmässigem Betrug und Serienbetrug
(Urteil 1B_379/2011 vom 2. August 2011 E. 2.8 f.).
2.2
2.2.1 Den Beschwerdegegner belasten verschiedene Gesichtspunkte.
Am 30. April 2003 bestrafte ihn das Bezirksgericht Winterthur wegen mehrfachen
Betrugs mit 10 Monaten Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von 3 Jahren. Es
erachtete es als erwiesen, dass der Beschwerdegegner im Oktober 2000 von einer
früheren Freundin und im Dezember 2000 sowie Januar 2001 von seiner damaligen
Freundin unter falschen Angaben jeweils erhebliche Darlehensbeträge erhältlich
gemacht hatte, die er dann nicht zurückbezahlte.
Mit Strafbefehl vom 14. Mai 2007 auferlegte ihm das Verhöramt des Kantons
Schwyz wegen mehrfacher Veruntreuung und Tätlichkeit eine Geldstrafe von 150
Tagessätzen zu Fr. 140.--, bedingt bei einer Probezeit von 5 Jahren, und eine
Busse von Fr. 1'000.--. Zudem erklärte es die vom Bezirksgericht Winterthur
ausgesprochene Gefängnisstrafe als vollziehbar. Das Verhöramt erwog, der
Beschwerdegegner habe im Juni und Juli 2005 von einer Frau, die er im Internet
kennen gelernt habe, Geldbeträge entgegengenommen, die er abredewidrig für
eigene Bedürfnisse verwendet habe. Ebenso habe er im Juni 2006 einen
Geldbetrag, den er von einer anderen Frau erhalten habe, abmachungswidrig für
eigene Bedürfnisse verwendet. Überdies habe er im Juli 2006 seine damalige
Freundin bei einem Streit an den Haaren gerissen und ihr ein
TV-Fernbedienungsgerät nachgeworfen.
Der Beschwerdegegner weist demnach zwei einschlägige Vorstrafen auf. Die Strafe
durch das Bezirksgericht Winterthur hat ihn nicht davon abgehalten, innert
laufender Probezeit in ähnlicher Weise erneut zu delinquieren. Auch die
Bestrafung durch das Verhöramt Schwyz hat ihm keinen nachhaltigen Eindruck
gemacht, hat er doch innerhalb der von diesem angesetzten Probezeit die ihm
heute vorgeworfenen (und eingestandenen) Delikte begangen. Die Straftaten sind
von gleicher Art. Der Beschwerdegegner machte jeweils von Frauen, mit denen er
eine Beziehung eingegangen war, unter falschen Angaben namhafte Geldbeträge
erhältlich, die er dann für eigene Zwecke verwendete. Dabei liessen sich die
Frauen blenden durch die gesellschaftliche Stellung des Beschwerdegegners als
(vermeintlich finanziell erfolgreicher) Chirurg und seinen gehobenen
Lebensstil. Die begangenen Straftaten und die Delinquenz innerhalb der
Probezeiten stellen ein erhebliches Indiz für Wiederholungsgefahr dar.
Der Beschwerdegegner befindet sich zudem in einer schlechten finanziellen Lage.
Es liegen zahlreiche Verlustscheine gegen ihn vor. Auch beruflich befindet er
sich in keiner gefestigten Stellung, da er vor seiner Verhaftung schon zwei
Jahre nicht mehr als Chirurg tätig war.
2.2.2 Demgegenüber ist zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdegegner mit der
Haft vom 8. Mai bis zum 23. August 2012 die Freiheit nun zum ersten Mal
entzogen war. Die widerrufene Gefängnisstrafe von 10 Monaten wurde aufgrund
eines administrativen Versehens nicht vollstreckt; insoweit ist die Verjährung
eingetreten (Art. 99 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 100 StGB). In Anbetracht der
persönlichen Verhältnisse des Beschwerdegegners ist davon auszugehen, dass bei
ihm schon eine kurze Untersuchungshaft eine Warnwirkung gehabt hätte. Umso
höher ist die Warnwirkung der erstandenen Untersuchungshaft von 3 ½ Monaten
einzustufen. Es besteht Grund zur Annahme, dass ihm die Haft den Ernst der
Situation nunmehr vor Augen geführt hat. Dies dürfte bei den Vorstrafen
deutlich weniger der Fall gewesen sein, da er an der Verhandlung des
Bezirksgerichts Winterthur - wie sich jenem Urteil (S. 11 E. 3b) entnehmen
lässt - abwesend war und bei Erlass eines Strafbefehles keine
Gerichtsverhandlung stattfindet.
Der Beschwerdegegner verfügt zudem über eine erstklassige Ausbildung und er hat
als Chirurg eine lange Berufserfahrung. Die Wiedereröffnung einer eigenen
Arztpraxis wird zwar schon deshalb ausser Betracht fallen, weil dem
Beschwerdegegner die dafür notwendigen finanziellen Mittel fehlen. Angesichts
des notorischen Mangels an Assistenzpersonal hat er jedoch intakte Aussichten,
eine Stelle im Gesundheitssektor zu finden. Sollte ihm dies nicht gelingen,
hätte er angesichts seiner Ausbildung bei der heutigen guten Wirtschaftslage in
der Schweiz wohl auch Chancen, ausserhalb des erlernten Berufs eine Arbeit zu
finden. Zur Annahme einer derartigen Arbeit hat er sich in der Einvernahme
durch das Zwangsmassnahmengericht vom 23. Juli 2012 ausdrücklich bereit erklärt
(Protokoll S. 5). Dem Beschwerdegegner dürfte es - den geäusserten
Änderungswillen vorausgesetzt - somit gelingen, ein legales Erwerbseinkommen zu
erzielen.
Er verfügt zudem über eine gesicherte Wohnmöglichkeit, da sich ein langjähriger
Freund von ihm bereit erklärt hat, ihn bei sich aufzunehmen.
2.2.3 Es gibt demnach wesentliche Gesichtspunkte, die für und solche, die gegen
Wiederholungsgefahr sprechen. Bei diesen Letzteren kommt der Warnwirkung der
Untersuchungshaft besonderes Gewicht zu. Es hält daher vor Bundesrecht - wenn
auch nur knapp - stand, wenn die Vorinstanz Wiederholungsgefahr verneint und
damit die Haftentlassung im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit als
verantwortbar beurteilt hat. Es handelt sich um einen Grenzfall. Bei einem
solchen gesteht das Bundesgericht der sachnäheren Vorinstanz einen gewissen
Ermessensspielraum zu und weicht es nicht leichthin von ihrem Entscheid ab.

3.
Die Beschwerde wird deshalb abgewiesen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Der Kanton hat dem Anwalt des Beschwerdegegners eine Entschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Diese wird auf pauschal Fr. 2'000.--
(inkl. Mehrwertsteuer) festgesetzt. Das sinngemäss gestellte Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist damit hinfällig.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat dem Vertreter des Beschwerdegegners, Fürsprecher Hans
Keller, eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern
(Beschwerdekammer in Strafsachen) schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Oktober 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Härri