Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.459/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_459/2012

Urteil vom 16. November 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiber Uebersax.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

Amtsgerichtspräsident von Bucheggberg-Wasseramt,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ausstand,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn,
Beschwerdekammer, vom 4. Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Am 27. Juni 2012 fand vor dem Amtsgerichtspräsidenten Bucheggberg-Wasseramt
eine Hauptverhandlung unter anderem gegen X.________ statt, die gegen einen
Strafbefehl wegen Diebstahls, geringfügiger Sachbeschädigung und
Hausfriedensbruchs Einsprache erhoben hatte. An der Hauptverhandlung beantragte
X.________, Amtsgerichtspräsident Ueli Kölliker habe wegen Befangenheit in den
Ausstand zu treten. Der Amtsgerichtspräsident leitete das Ausstandsgesuch zur
Beurteilung an die dafür zuständige Beschwerdekammer des Obergerichts des
Kantons Solothurn weiter und beantragte mit Stellungnahme vom 27. Juni 2012,
auf das Begehren nicht einzutreten bzw. dieses eventuell abzuweisen. Mit
Beschluss vom 4. Juli 2012 wies die Beschwerdekammer des Obergerichts das
Ausstandsbegehren ab.

B.
Mit als Beschwerde bezeichneter Eingabe vom 9. August 2012 an das Bundesgericht
beantragt X.________, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben. Zur Begründung
macht sie insbesondere eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
sowie inhaltliche Mängel geltend.

C.
Das Richteramt Bucheggberg-Wasseramt äusserte sich am 24. August 2012 zur
Sache, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen. Das Obergericht des Kantons
Solothurn, Beschwerdekammer, schliesst unter Verzicht auf weitere Ausführungen
auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

D.
X.________ reichte am 6. November 2012 nochmals eine Eingabe zur Sache ein.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 80 und Art. 92 Abs. 1 BGG steht
gegen kantonal letztinstanzliche Entscheide über den Ausstand von
Magistratspersonen im Strafprozess direkt die Beschwerde in Strafsachen an das
Bundesgericht offen. Die Person, die den Ausstand beantragt und am
vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat, ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur
Beschwerde berechtigt (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1B_407/2012 vom 21.
September 2012 E. 1). Die Beschwerdeführerin erfüllt diese Voraussetzungen. Auf
die im Übrigen frist- und formgerecht erhobene Beschwerde ist somit
einzutreten.

2.
2.1 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien eines
Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Diese Garantie umfasst auch
das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu
erhalten und sich dazu äussern zu können (sog. Replikrecht: BGE 133 I 98 E. 2.1
S. 99). Das Replikrecht hängt nicht von der Entscheidrelevanz der Eingaben ab (
BGE 138 I 154 E. 2.3.3 S. 157). Die Wahrnehmung des Replikrechts setzt voraus,
dass die von den übrigen Verfahrensbeteiligten eingereichten Eingaben der
Partei zugestellt werden (BGE 137 I 195 E. 2.3.1 S. 197). In Ausstandsverfahren
steht das Replikrecht dem Gesuchsteller auch zu sämtlichen Stellungnahmen der
Personen zu, deren Ausstand er beantragt hat (vgl. zum hier fraglichen
Strafverfahren MARKUS BOOG, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung, 2011, N. 11 zu Art. 58 StPO; ANDREAS J. KELLER, in:
Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung [StPO], Zürich 2010, N. 8 zu Art. 59 StPO).

2.2 Nach Zustellung der Vernehmlassung ist der Partei eine gewisse Zeit zur
Wahrnehmung des Replikrechts zu belassen, bevor der Entscheid gefällt wird. Die
Ausübung des Replikrechts darf nicht verhindert werden, indem der Entscheid so
rasch ergeht, dass eine Stellungnahme trotz Zustellung einer neuen Eingabe
nicht mehr rechtzeitig erfolgen kann (MARKUS LANTER, Formeller Charakter des
Replikrechts - Herkunft und Folgen, in: ZBl 113/2012, S. 173). Von einem
Rechtsuchenden kann insbesondere nicht erwartet werden, dass er innert weniger
Tage reagiert, wenn er Unterlagen, die von den Verfahrensbeteiligten
eingereicht bzw. zu den Akten genommen werden, ohne Frist zur Stellungnahme
lediglich zur Kenntnisnahme erhält (Urteil 2C_794/2008 vom 14. April 2009 E.
3). In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wurden etwa folgende Zeitabläufe,
die einer Partei nach Zustellung einer Vernehmlassung für die Replik zur
Verfügung standen, bevor der Entscheid gefällt wurde, als unzulässig beurteilt:
zwei Tage (Urteil 1B_25/2010 vom 17. Februar 2010 E. 2.2), vier Tage (Urteil
1B_407/2012 vom 21. September 2012 E. 3), sieben Tage (Urteil 2C_794/2008 vom
14. April 2009 E. 3.5) und acht Tage (Urteil 1P.798/2005 vom 8. Februar 2006 E.
2.3). In einer etwas allgemeineren Formulierung hielt das Bundesgericht fest,
dass jedenfalls vor Ablauf von zehn Tagen nicht, hingegen nach 20 Tagen von
einem Verzicht auf das Replikrecht ausgegangen werden dürfe (Urteil 6B_629/2010
vom 25. November 2010 E. 3.3.2).

2.3 Die Beschwerdeführerin stellte an der Hauptverhandlung vom 27. Juni 2012
das hier fragliche Ausstandsbegehren. Tags darauf leitete das Richteramt
Bucheggberg-Wasseramt dieses zusammen mit seiner Vernehmlassung an das
Obergericht weiter und sandte eine Kopie per A-Post der Beschwerdeführerin. Mit
Verfügung vom 29. Juni 2012 stellte das Obergericht die Vernehmlassung formell
der Beschwerdeführerin mit Frist bis zum 3. Juli 2012 zur allfälligen
Stellungnahme zu.

2.4 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Stellungnahme des
Amtsgerichtspräsidenten erst am 6. Juli 2012 erhalten zu haben. Einen
Gegenbeweis dazu gibt es nicht. Selbst wenn davon ausgegangen würde, sie hätte
die Vernehmlassung bereits früher erhalten, hätte sie höchstens vier Tage -
unter Einschluss eines Wochenendes - Zeit gehabt, um sich dazu zu äussern. Das
ist offensichtlich zu wenig, um das Replikrecht angemessen wahrzunehmen (vgl.
das Urteil des Bundesgerichts 1B_407/2012 vom 21. September 2012 E. 3.2).

2.5 Ob das Ausstandsbegehren in der Sache erfolgversprechend oder chancenlos
erscheint, spielt für die Ausübung des Replikrechts wegen dessen formellen
Natur keine Rolle. Dieses muss uneingeschränkt gewährt werden und wahrgenommen
werden können (Urteil des Bundesgerichts 1B_407/2012 vom 21. September 2012 E.
3.5).

2.6 Der angefochtene Entscheid verletzt demnach den Anspruch des
Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1
EMRK). Eine Heilung dieses Mangels im bundesgerichtlichen Verfahren ist nicht
möglich (vgl. BGE 133 I 100 E. 4.9 S. 105; Urteil des Bundesgerichts 1B_407/
2012 vom 21. September 2012 E. 3.6). Die Streitsache ist im vorliegenden
Verfahren vom Bundesgericht mithin nicht inhaltlich zu prüfen.

3.
Die Beschwerde erweist sich als begründet und ist gutzuheissen. Damit ist der
angefochtene Entscheid aufzuheben, und die Sache ist zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4
BGG). Da die Beschwerdeführerin nicht anwaltlich vertreten ist und sie auch
keinen ausserordentlichen Aufwand belegen kann, steht ihr praxisgemäss keine
Entschädigung zu.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Beschwerdekammer, vom 4. Juli 2012 wird aufgehoben. Die Sache wird
zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Eine Parteientschädigung wird nicht zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Richteramt Bucheggberg-Wasseramt
und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 16. November 2012

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Uebersax