Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.431/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_431/2012

Urteil vom 8. August 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Karlen,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,

gegen

Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau.

Gegenstand
Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 20. Juni 2012 des Obergerichts des Kantons
Aargau, Jugendstrafkammer.

Sachverhalt:

A.
Das Jugendgericht Brugg verurteilte X.________ mit Urteil vom 22. September
2010 wegen versuchten bewaffneten Raubs, Raufhandels, mehrfacher
Körperverletzung, mehrfacher Nötigung, Drohung, Beschimpfung, Ungehorsams gegen
amtliche Verfügungen, mehrfacher Hinderung einer Amtshandlung, mehrfacher,
teilweise geringfügiger Sachbeschädigung und mehrfachen Vergehens gegen das
Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten und einer Busse von Fr.
400.--. Die Strafe wurde zugunsten einer Einweisung in eine Einrichtung für
junge Erwachsene gemäss Art. 61 StGB aufgeschoben. Mit Entscheid vom 4. Mai
2011 hob das Jugendgericht die Massnahme wegen Aussichtslosigkeit wieder auf
und ordnete den Vollzug der Freiheitsstrafe an. Die Freiheitsstrafe endete am
12. April 2012.

Am 10. April 2012 beantragten das Amt für Justizvollzug des Departements
Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau die nachträgliche Anordnung
einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB und die Jugendanwaltschaft
gestützt darauf die Anordnung der Sicherheitshaft.

Am 12. April 2012 ordnete das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau die
Sicherheitshaft an. Eine dagegen von X.________ erhobene Beschwerde wurde von
der Jugendbeschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau mit Entscheid
vom 15. Mai 2012 abgewiesen.

Mit Urteil vom 13. Juni 2012 wies das Jugendgericht Brugg den Antrag auf
Anordnung einer stationären Massnahme ab. Zudem erliess es folgenden Beschluss:
"Der Beschuldigte geht zur Sicherung der Ausreise im Anschluss an die
Hauptverhandlung zurück in Sicherheitshaft." Gleichentags meldete die
Jugendanwaltschaft Berufung gegen dieses Urteil an und stellte zudem Antrag auf
Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft. Mit Verfügung vom 20. Juni 2012 hiess
die Jugendstrafkammer des Obergerichts des Kantons Aargau diesen Antrag gut und
ordnete bis am 13. Dezember 2012 die Sicherheitshaft an (Ziff. 1 des
Dispositivs). Sie auferlegte X.________ zudem die Gerichtskosten (Ziff. 2 des
Dispositivs) und richtete dessen amtlichen Verteidiger eine Entschädigung aus,
wobei es eine spätere Rückforderung gegenüber X.________ vorbehielt (Ziff. 3
des Dispositivs).

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 19. Juli 2012 stellt X.________ folgende
Anträge:
"1. Das angefochtene Urteil vom 20. Juni 2012 sei in den Ziffern 1 und 2 sowie
in Ziffer 3 aufzuheben, soweit eine Rückforderung gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO
angeordnet wird.
2. Die obergerichtlichen Verfahrenskosten seien unabhängig vom Ausgang des
obergerichtlichen Verfahrens der Staatskasse zu auferlegen.
3. Die Rückforderungsverpflichtung des Beschwerdeführers gemäss Art. 135 Abs. 4
StPO sei unabhängig vom Ausgang des obergerichtlichen Verfahrens aufzuheben.
4. Dem Beschwerdeführer sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und der
unterzeichnende Anwalt sei als unentgeltlicher Rechtsvertreter zu bestellen."
Die Jugendanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten,
eventualiter sei sie abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die
Jugendstrafkammer des Obergerichts beantragt die Abweisung der Beschwerde,
soweit darauf einzutreten sei. Der Beschwerdeführer hält in seiner
Stellungnahme dazu an seinen Anträgen und Rechtsauffassungen fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer und die Vorinstanz sind sich nicht einig bezüglich der
Frage, ob sich der Beschwerdeführer überhaupt in (strafprozessualer)
Sicherheitshaft befindet oder ob es sich um Ausschaffungshaft im Sinne von Art.
76 des Bundesgesetzes vom 1. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und
Ausländer (AuG; SR 142.20) handelt. Der Beschwerdeführer geht davon aus, es
könne sich nur um Sicherheitshaft handeln, da das Jugendgericht Brugg
klarerweise nicht zuständig sei, Ausschaffungshaft anzuordnen. Befinde er sich
aber bereits in Sicherheitshaft, so sei deren erneute Anordnung durch die
Vorinstanz gestützt auf Art. 231 Abs. 2 StPO nicht zulässig. Die angefochtene
Verfügung sei bereits aus diesem Grund aufzuheben. Die Vorinstanz vertritt
dagegen die Ansicht, das Jugendgericht habe den Beschwerdeführer aus der
Sicherheitshaft entlassen und an deren Stelle die Ausschaffungshaft angeordnet.
Die Entlassung aus der Sicherheitshaft stelle eine Freilassung im Sinne von
Art. 231 Abs. 2 StPO dar, unabhängig davon, ob sich der Beschuldigte aus
anderen (nicht strafrechtlichen) Gründen weiterhin in Haft befinde.
Dem Beschwerdeführer ist insoweit zuzustimmen, als dass das Jugendgericht Brugg
für die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zuständig ist (Art. 76 Abs. 1
i.V.m. Art. 80 Abs. 1 AuG und § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 13 Abs. 1
des Einführungsgesetzes des Kantons Aargau vom 25. November 2008 zum
Ausländerrecht [EGAR; SAR 122.600]). Es ist indessen trotzdem ohne Weiteres
klar, dass das Jugendgericht keine Sicherheitshaft verfügte, zumal der
ausdrücklich genannte Zweck der Sicherung der Ausreise keinen Haftgrund im
Sinne von Art. 221 StPO darstellt und für die Anordnung von Sicherheitshaft aus
Sicht des Jugendgerichts auch gar kein Anlass bestand. Das Jugendgericht hatte
den Antrag der Jugendanwaltschaft auf Anordnung einer stationären Massnahme
abgelehnt, so dass sich diesbezüglich eine Sicherheitshaft erübrigte.
Ob der dem Urteil des Jugendgerichts angefügte Beschluss infolge sachlicher
Unzuständigkeit nichtig ist, kann offen bleiben (vgl. dazu BGE 136 II 489 E.
3.3 S. 495 f. mit Hinweisen). Festzuhalten ist, dass das Jugendgericht keine
Sicherheitshaft anordnete und die Ausschaffungshaft auch nicht als deren Ersatz
qualifiziert werden könnte. Die Ausschaffungshaft dient der Sicherstellung des
Vollzugs der Weg- oder Ausweisung (Art. 76 Abs. 1 AuG) und kann aufgehoben
werden bzw. dahinfallen, obwohl die Voraussetzungen der Sicherheitshaft
weiterhin bestehen. Insofern und mit der Ablehnung einer stationären Massnahme
durch das Jugendgericht liegt ein Fall vor, welcher strafprozessual einer
Freilassung gleichzustellen ist. Die Vorinstanz ist somit zu Recht davon
ausgegangen, dass sich der Beschwerdeführer nicht mehr in Sicherheitshaft
befindet und damit nach Art. 231 Abs. 2 StPO vorzugehen war (Urteil 1B_525/2011
vom 13. Oktober 2011 E. 2 mit Hinweisen). Da die Jugendanwaltschaft noch am Tag
des Ergehens des jugendgerichtlichen Urteils und Beschlusses (13. Juni 2012)
Berufung anmeldete und Antrag auf Fortsetzung der Sicherheitshaft stellte, war
der Beschwerdeführer von Gesetzes wegen einstweilen in Haft zu behalten (Art.
231 Abs. 2 Satz 2 StPO; vgl. Lit. A hiervor). Das Vorgehen der kantonalen
Behörden war daher im Ergebnis korrekt.

1.2 Gegen die Anordnung der Sicherheitshaft durch die Vorinstanz ist die
Beschwerde in Strafsachen das zutreffende Rechtsmittel (Art. 78 Abs. 1 BGG).
Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf
die Beschwerde ist einzutreten und die Rüge der Verletzung von Art. 231 Abs. 2
StPO als unbegründet abzuweisen.

2.
2.1 Gemäss Art. 65 Abs. 2 StGB kann das Gericht eine Verwahrung nachträglich
anordnen, wenn sich bei einem Verurteilten während des Vollzugs der
Freiheitsstrafe aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel ergibt, dass die
Voraussetzungen der Verwahrung gegeben sind und im Zeitpunkt der Verurteilung
bereits bestanden haben, ohne dass das Gericht davon Kenntnis haben konnte.
Zuständigkeit und Verfahren bestimmen sich nach den Regeln, die für die
Wiederaufnahme gelten (Art. 410 ff. StPO; BGE 137 IV 333 E. 2.2.1 S. 336 mit
Hinweis).

Die im Verfahren betreffend nachträgliche Anordnung der Sanktion angeordnete
Sicherheitshaft ist unter den Voraussetzungen von Art. 221 StPO zulässig. Dabei
entfällt aufgrund der bereits erfolgten rechtskräftigen Verurteilung die
Prüfung des dringenden Tatverdachts. An ihre Stelle tritt die Prüfung der
hinreichenden Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren zu einer Massnahme führt,
welche die Sicherstellung des Betroffenen erfordert. Zudem muss einer der in
Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO genannten besonderen Haftgründe gegeben sein.

2.2 Die Vorinstanz führt aus, es sei mit der nachträglichen Anordnung einer
stationären Massnahme gemäss Art. 59 StGB zu rechnen. Zudem bestehe
Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO. Der
Beschwerdeführer kritisiert die betreffende, ausführliche Begründung im
angefochtenen Entscheid nicht. Er stellt sich jedoch in grundsätzlicher Weise
auf den Standpunkt, der Haftrichter dürfe nicht von der Vorgabe des
Sachrichters abweichen. Im vorliegenden Fall habe der Sachrichter, also das
Jugendgericht, keine nachträgliche Massnahme angeordnet. Es stehe deshalb der
Jugendstrafkammer des Obergerichts nicht zu, trotzdem die hinreichende
Wahrscheinlichkeit der Anordnung der beantragten Massnahme zu bejahen.

2.3 Würde die Auffassung des Beschwerdeführers zutreffen, so könnte die
Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Fortsetzung der Sicherheitshaft in
keinem Fall anordnen, wenn das erstinstanzliche Gericht die Freilassung verfügt
hat. Art. 231 Abs. 2 StPO würde damit zum toten Buchstaben. Dass Haft- und
Sachrichter "unbedingt notwendig zu trennen sind", wie dies der
Beschwerdeführer geltend macht, bedeutet selbstverständlich nicht, dass der
Haftrichter davon entbunden werden könnte (oder gar müsste), selbstständig eine
Überprüfung sämtlicher Haftgründe vorzunehmen. Dabei kann sich in begründeten
Fällen auch eine Abweichung von der Erkenntnis des erstinstanzlichen
Sachrichters ergeben (vgl. etwa das bereits erwähnte Urteil 1B_525/2011 vom 13.
Oktober 2011 E. 3). Die Kritik des Beschwerdeführers geht somit fehl.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, sein Anspruch auf
rechtliches Gehör sei verletzt worden, weil der Antrag der Jugendanwaltschaft
vom 13. Juni 2012 nicht begründet gewesen sei. Die Vorinstanz hält dem
entgegen, die Begründung des Entscheids des Jugendgerichts vom 13. Juni 2012
sei noch ausstehend und eine inhaltliche Auseinandersetzung sei in dieser
Hinsicht gar nicht möglich gewesen. Die Wiederholungsgefahr habe zudem das
bestimmende Thema im ganzen bisherigen Verfahren gebildet und der
Beschwerdeführer sei deshalb sehr wohl in der Lage gewesen, zum Antrag der
Jugendanwaltschaft fundiert Stellung zu nehmen.

3.2 Das Zwangsmassnahmengericht und die Jugendbeschwerdekammer des Obergerichts
legten in ihren Entscheiden vom 12. April 2012 und vom 15. Mai 2012 ausführlich
dar, weshalb sie von der Wahrscheinlichkeit einer stationären Massnahme und von
Wiederholungsgefahr ausgingen. Wenn das Jugendgericht in der Folge im -
zunächst ohne Begründung ausgefertigten - Urteil vom 13. Juni 2012 den Antrag
auf Anordnung einer stationären Massnahme abwies und die Jugendanwaltschaft
hiergegen Berufung einlegte und die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft
beantragte, so war es dem Beschwerdeführer ohne Weiteres möglich, sich zu den
relevanten Punkten zu äussern. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt
nicht vor.

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche
Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen
erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Franz Hollinger wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Jugendanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. August 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold