Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.414/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_414/2012

Urteil vom 20. September 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio
Gerichtsschreiber Haag.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Markus Raess,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich.

Gegenstand
Strafverfahren; Verwertungsverbot sowie Ablehnung eines Sachverständigen,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 5. Juni 2012 des Obergerichts des Kantons
Zürich, III. Strafkammer.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führt eine Strafuntersuchung gegen
den Arzt X.________ wegen fahrlässiger Tötung. Es bestehe die Möglichkeit, dass
er den Tod von Z.________ in Verletzung seiner Sorgfaltspflichten (mit-)
verursacht habe. Ende März 2010 war Z.________ bei ihm wegen Schmerzen an der
Schulter in Behandlung. Dabei soll der Verdacht auf eine Lungenembolie
geäussert worden sein. Am 3. April 2010 ist Z.________ auf einem Campingplatz
in Churwalden zusammengebrochen und gestorben. Die Verstorbene wurde am selben
Tag an das Kantonsspital Graubünden in Chur (Institut für Pathologie und
Rechtsmedizin) überwiesen. Nach dem vorläufigen Obduktionsbericht dieses
Instituts vom 6. April 2010 starb Z.________ an den Folgen einer zentralen
Lungenembolie.
Am 11. Mai 2010 fragte das Untersuchungsrichteramt Chur das Institut für
Pathologie und Rechtsmedizin Chur an, ob und inwiefern die ärztliche Behandlung
durch X.________ mit dem Tod von Z.________ zusammenhänge. Das Institut
erstattete am 10. November 2010 zu dieser Frage ein Gutachten, dem es einen
zusammenfassenden Obduktionsbericht vom 25. August 2010 und das
Obduktionsprotokoll vom 8. April 2010 beilegte. Am 25. November 2010 ersuchte
das Untersuchungsrichteramt die Gutachter um Bestätigung, dass sie das
Gutachten im Wissen um die Wahrheitspflicht erstellt hätten und ihnen die
strafrechtlichen Folgen für ein falsches Gutachten gemäss Art. 307 Abs. 1 StGB
bekannt seien. Die beiden Gutachter bestätigten dies mit Schreiben vom 29.
November 2010.
Am 7. November 2011 beauftragte die neu zuständige Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich den Arzt Y.________ mit der Erstellung eines weiteren
Gutachtens. Mit Schreiben vom 8. November 2011 verlangte X.________, dass das
Gutachten des Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin Chur aus den Akten
gewiesen werde. Die Staatsanwaltschaft habe das Gutachten Y.________ zur
Kenntnis gebracht, weshalb dieser nun befangen sei. Die Staatsanwaltschaft wies
die Anträge am 11. November 2011 und nach erneuter Einreichung am 22. November
2011 ab. Eine dagegen von X.________ erhobene Beschwerde wies das Obergericht
des Kantons Zürich mit Beschluss vom 5. Juni 2012 ab. Zudem wies es das gegen
Y.________ eingereichte Ausstandsbegehren ab.

B.
Mit Beschwerde an das Bundesgericht vom 7. Juli 2012 beantragt X.________, der
Beschluss des Obergerichts vom 5. Juni 2012 sei aufzuheben und die
Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, Y.________ den erteilten Gutachtensauftrag
zu entziehen und einen neuen den Anforderungen von Art. 183 StPO genügenden
Gutachter zu bestellen. Zudem sei die Staatsanwaltschaft anzuweisen, das
Gutachten des Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin Chur vom 10. November
2010 aus den Untersuchungsakten zu entfernen.
Das Obergericht, die Staatsanwaltschaft und Y.________ verzichten auf eine
Stellungnahme zur Beschwerde.

Erwägungen:

1.
1.1 Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die
Beschwerde in Strafsachen gegeben. Nach Art. 80 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde
zulässig gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen. Der Beschwerdeführer
ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Der
angefochtene Entscheid stellt einen nach Art. 92 BGG anfechtbaren
Zwischenentscheid dar, soweit darin das Ausstandsgesuch gegen den Gutachter
Y.________ abgewiesen wurde.

1.2 Soweit im angefochtenen Entscheid die Unverwertbarkeit des Gutachtens des
Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin Chur vom 10. November 2010 verneint
wird, liegt auch ein Zwischenentscheid vor, der das Strafverfahren nicht
abschliesst.
Gegen Vor- und Zwischenentscheide, die weder die Zuständigkeit noch den
Ausstand betreffen (vgl. Art. 92 BGG), ist die Beschwerde ans Bundesgericht
gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken können (lit. a) oder - was hier von vornherein ausser
Betracht fällt - wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Von einem nicht wieder
gutzumachenden Nachteil wird gesprochen, wenn dieser auch durch ein
nachfolgendes günstiges Urteil nicht oder nicht mehr vollständig behoben werden
kann (BGE 131 I 57 E. 1 S. 59). Im Verfahren der Beschwerde in Strafsachen muss
der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG
nicht bloss tatsächlicher, sondern rechtlicher Natur sein (BGE 136 IV 92 E. 4
S. 95; 133 IV 139 E. 4 S. 141). Dabei obliegt es dem Beschwerdeführer
detailliert darzutun, dass die Voraussetzungen von Art. 93 BGG erfüllt sind,
soweit deren Vorliegen nicht offensichtlich ist (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 136 IV
92 E. 4 und 4.2 S. 95 f.; 134 III 426 E. 1.2 S. 429; 133 III 629 E. 2.3.1 S.
632). Ein Zwischenentscheid, der nach Art. 93 Abs. 1 und 2 BGG nicht
angefochten werden kann oder trotz Anfechtungsmöglichkeit nicht beanstandet
wurde, ist durch Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, soweit er sich
auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG).
Der Beschwerdeführer äussert sich in der Beschwerde zur Voraussetzung des nicht
wieder gutzumachenden Nachteils im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nicht.
Nach der Rechtsprechung liegt im blossen Umstand, dass ein Sachrichter von
angeblich unverwertbaren Beweismitteln Kenntnis nehmen könnte, kein
Rechtsnachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Es ist nicht ersichtlich
und wird vom Beschwerdeführer auch nicht dargelegt, inwiefern ein solcher
Rechtsnachteil bestehen sollte, wenn der zweite Gutachter vom angeblich
unverwertbaren Gutachten des Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin
Kenntnis bekommt. Es kann gerade die Aufgabe des erkennenden Gerichts sein,
geltend gemachte Beweisverwertungsverbote zu prüfen. Vor der rechtskräftigen
Beurteilung sieht das Gesetz denn auch keine definitive Entfernung oder
Unkenntlichmachung von Beweismitteln vor, deren Verwertbarkeit bloss streitig
ist (vgl. Art. 141 Abs. 5 StPO). Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen
strafprozessualen Fragen sind nicht schon im jetzigen Verfahrensstadium durch
das Bundesgericht zu beurteilen (Urteil des Bundesgerichts 1B_584/2011 vom 12.
Dezember 2011, E. 3.2; vgl. BGE 136 IV 92 E. 4.1 S. 95 f. mit Hinweis). Auf die
Beschwerde ist somit in Bezug auf die Verwertbarkeit des Gutachtens des
Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin nicht einzutreten.

1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die
Beschwerde in Bezug auf das Ausstandsgesuch gegen den Gutachter Y.________
einzutreten ist.

2.
2.1 Nach Art. 183 Abs. 3 StPO gelten für Sachverständige die Ausstandsgründe
nach Art. 56 StPO. Eine in einer Strafbehörde tätige Person tritt in Ausstand,
wenn sie aus anderen als den in Art. 56 lit. a-e StPO genannten Gründen
befangen sein könnte (Art. 56 lit. f StPO). Gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem
unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter entschieden wird.
Diese Verfahrensgarantie wird nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
sinngemäss auch auf das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von
Sachverständigen übertragen (BGE 132 V 93 E. 7.1 S. 109; 126 III 249 E. 3c S.
253; je mit Hinweis).

2.2 Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung
angenommen, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet
sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters bzw. des Sachverständigen
zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des
betreffenden Richters bzw. Sachverständigen oder in gewissen äusseren
Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Bei der
Beurteilung solcher Umstände ist nicht auf das subjektive Empfinden einer
Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in
objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die
bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit
erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter bzw.
Sachverständige tatsächlich befangen ist (BGE 136 I 207 E. 3.1 S. 210 mit
Hinweisen). Der Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit kann auch
dadurch erweckt werden, dass die sachverständige Person in einem früheren
Zeitpunkt in amtlicher Funktion mit der konkreten Sache schon zu tun hatte
(sogenannte Vorbefassung). Die blosse wiederholte Begutachtung durch denselben
Sachverständigen vermag indessen für sich allein nicht den Anschein der
Befangenheit hervorzurufen. Eine unzulässige Vorbefassung liegt auch dann nicht
vor, wenn der Sachverständige zu (für eine Partei) ungünstigen
Schlussfolgerungen gelangt ist. Anderes gilt, wenn Umstände vorliegen, die den
Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit objektiv zu
begründen vermögen, etwa wenn der Sachverständige seinen Bericht nicht neutral
und sachlich abfasste (BGE 132 V 93 E. 7.2.2 S. 110 mit Hinweis).
2.3
Der Beschwerdeführer macht geltend, es liege eine prozessuale Situation vor, in
der bei objektiver Betrachtungsweise die Befangenheit des Gutachters Y.________
zu bejahen sei. Nachdem die Staatsanwaltschaft dem Gutachter das nicht
verwertbare Gutachten des Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin Chur
zugestellt habe, sei davon auszugehen, dass der Gutachter dieses auch zur
Kenntnis genommen habe. Damit sei er in seiner Beurteilung nicht mehr
unabhängig, sondern vom früheren Gutachten beeinflusst. In Fällen, in denen
nicht gerade die Überprüfung eines anderen Gutachtens Gegenstand des Auftrags
sei, sei sorgfältig abzuwägen, ob dem Sachverständigen bereits vorhandene
Gutachten übergeben werden sollten. Im Interesse, den Sachverständigen vor
einer Beeinflussung durch Erkenntnisse anderer Fachkollegen zu schützen, sei
hier Zurückhaltung zu üben (MARIANNE HEER, in: Kommentar StPO, N. 32 zu Art.
184 StPO).

2.4 Nach Art. 184 Abs. 2 StPO übergibt die Verfahrensleitung der
sachverständigen Person zusammen mit dem Auftrag die zur Erstellung des
Gutachtens notwendigen Akten und Gegenstände. Die Vorinstanz hält im
angefochtenen Entscheid fest, dass das Gutachten des Instituts für Pathologie
und Rechtsmedizin Chur nicht zu den notwendigen Akten im Sinne von Art. 184
Abs. 4 StPO gehöre. Die Zustellung an den Gutachter Y.________ begründe jedoch
nicht den Anschein der Befangenheit.
Das Bundesgericht hat mit Urteil 1P.596/2004 vom 7. Dezember 2004 E. 3 erkannt,
es sei nicht anzunehmen, dass neue Gutachter nicht mehr unabhängig und
unbefangen seien, nachdem sie das erste Gutachten gelesen hätten. Entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers ist nicht einzusehen, weshalb diese
Rechtsprechung für die vorliegende Angelegenheit keine Bedeutung haben sollte.
Es bestehen keine Hinweise, dass der neue Gutachter seine Beurteilung nicht
mehr unabhängig und unparteiisch abgeben könnte. Der Gutachter bringt
zutreffend vor, dass es im zu erstellenden Gutachten um seine Kompetenz im
Bereich der hausärztlichen Tätigkeit gehe. Demgegenüber wurde das Gutachten des
Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin Chur aus der Sicht der Rechtsmedizin
verfasst. Das Obergericht hat diese Umstände im angefochtenen Entscheid
zutreffend berücksichtigt und weist zudem zu Recht darauf hin, dass der
Gutachter auch Kenntnis vom Tod und der Todesursache haben müsse. Gegenstand
des neuen Gutachtens ist die Frage, ob der Tod der Verstorbenen bei Beachtung
der gebotenen Sorgfalt hätte verhindert werden können. Dazu ist der Beizug des
Berichts des Instituts für Pathologie und Rechtsmedizin Chur angezeigt. Unter
Berücksichtigung der konkreten Umstände ist die Kritik des Beschwerdeführers an
den Ausführungen der Vorinstanz nicht geeignet, den angefochtenen Entscheid in
Bezug auf die Befangenheit des Gutachters als bundesrechtswidrig erscheinen zu
lassen.

3.
Es ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist, soweit darauf eingetreten
werden kann. Die Gerichtskosten sind dem unterliegenden Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Den in ihrem amtlichen Wirkungskreis
obsiegenden Behörden steht keine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG).
Dem nicht durch einen Anwalt vertretenen Gutachter ist ebenfalls keine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich
und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 20. September 2012

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Haag