Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.388/2012
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2012
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_388/2012

Urteil vom 19. Juli 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Karlen,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X._________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Mattle und
dieser substituiert durch Rechtsanwältin Johanna Rausch,

gegen

Staatsanwaltschaft Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel.

Gegenstand
Haftentlassung,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 6. Juni 2012 des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt, Präsident.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt verdächtigt X._________, am 30. September
2011 vor einem Restaurant in Basel zusammen mit drei weiteren Personen die
beiden Brüder A._________ und B._________ angegriffen zu haben. Die beiden
Angegriffenen seien dabei erheblich verletzt worden, B._________ sogar
potenziell lebensgefährlich. Dem Angriff soll ein Raufhandel zwischen den
beiden Brüdern und zwei der späteren Angreifer vorangegangen sein.

X._________ wurde am 20. Januar 2012 festgenommen und befindet sich seit dem
23. Januar 2012 wegen Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft. Am 16. März 2012
verlängerte das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Basel-Stadt die
Untersuchungshaft bis zum 8. Juni 2012. Mit Eingabe vom 26. April 2012
beantragte X._________ seine Haftentlassung. Das Zwangsmassnahmengericht wies
den Antrag mit Verfügung vom 9. Mai 2012 ab. Eine dagegen von X._________
erhobene Beschwerde wurde vom Präsidenten des Appellationsgerichts des Kantons
Basel Stadt mit Entscheid vom 6. Juni 2012 abgewiesen.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 29. Juni 2012 beantragt
X._________, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und er
selbst sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen.

Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft beantragen in ihrer
jeweiligen Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde.

Am 11. Juni 2012, d.h. nach Erlass des angefochtenen Entscheids, verlängerte
das Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft um weitere vier Wochen. Am
20. Juni 2012 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage und beantragte gleichzeitig
die Anordnung von Sicherheitshaft. In Bezug auf den Beschwerdeführer lautet die
Anklage auf versuchte vorsätzliche Tötung; mehrfache versuchte schwere
Körperverletzung; mehrfache einfache Körperverletzung und mehrfache, teilweise
versuchte, einfache Körperverletzung mit einer Waffe und einem gefährlichen
Gegenstand; Angriff, evtl. Raufhandel; sowie Widerhandlung gegen das
Waffengesetz. Mit Verfügung vom 29. Juni 2012 ordnete das
Zwangsmassnahmengericht bis zum 21. September 2012 die Sicherheitshaft an.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Entlassung aus der Untersuchungshaft.
Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben.
Anwendbar ist die am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Schweizerische
Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0; siehe Art. 453 f. StPO). Danach ist der
angefochtene Entscheid kantonal letztinstanzlich (Art. 393 ff. StPO, Art. 80
BGG). Beim Beschluss des Appellationsgerichts handelt es sich um einen
Zwischenentscheid, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann. Der Beschwerdeführer nahm vor der
Vorinstanz am Verfahren teil und befindet sich nach wie vor in Haft. Vor diesem
Hintergrund ist er nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Das
Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in
der Sache selbst entscheiden. Der Antrag auf Haftentlassung ist somit zulässig.
Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Die Untersuchungshaft schränkt die persönliche Freiheit des
Beschwerdeführers ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). Eine
Einschränkung dieses Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen
Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist;
zudem darf sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36
BV). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit eine
schwerwiegende Einschränkung der persönlichen Freiheit in Frage. Es bedarf
deshalb sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV
einer Grundlage im Gesetz selbst. Nach Art. 221 StPO ist Untersuchungshaft nur
zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens
dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch
Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1
lit. a); Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die
Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Abs. 1 lit. b); oder durch schwere
Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem
sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c). Haft ist
auch zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre
Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahr machen (Abs. 2). Das
zuständige Gericht ordnet gemäss Art. 237 Abs. 1 StPO an Stelle der
Untersuchungshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den
gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
Die Auslegung und die Anwendung der im Bundesrecht geregelten Voraussetzungen
für die mit strafprozessualen Zwangsmassnahmen einhergehenden
Grundrechtsbeschränkungen prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (Art. 95
lit. a BGG; BGE 137 IV 122 E. 2 S. 125; zur Publ. vorgesehenes Urteil 1B_254/
2012 vom 24. Mai 2012 E. 2; je mit Hinweisen). Soweit jedoch reine
Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind,
greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG).

Das Appellationsgericht bejahte sowohl den dringenden Tatverdacht als auch die
Kollusionsgefahr. Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht
nicht, wendet sich jedoch gegen die Annahme von Kollusionsgefahr.

2.2 Die Vorinstanz führte zur Kollusionsgefahr aus, diese sei auch nach der
Einvernahme der Auskunftspersonen nicht gebannt. Es sei wichtig, dass die
Zeugen und Auskunftspersonen im Hauptverfahren unbeeinflusst aussagten. Die
Gefahr einer Absprache unter den Mittätern sei bei Konstellationen wie der
vorliegenden notorisch. Auch in Bezug auf die den Beschwerdeführer belastenden
Tatzeugen seien Beeinflussungsversuche zu befürchten. Deren Aussagen dürfte
besonderes Gewicht zukommen. Von Seiten der Täterschaft, wenn auch nicht von
Seiten des Beschwerdeführers selbst, seien bereits Druckversuche unternommen
worden. Zu erwähnen sei auch, dass sich zwei der mutmasslichen Mittäter aus
Angst geweigert hätten, den Beschwerdeführer zu verraten. Dieser könne
schliesslich aus dem Umstand, dass er erst zwei Monate nach dem Ereignis
verhaftet worden sei und in der Zwischenzeit, soweit bekannt, keine
Kollusionshandlungen vorgenommen habe, nichts zu seinen Gunsten ableiten. Denn
zum einen habe er in dieser Zeit nicht gewusst, dass gegen ihn ein
Strafverfahren lief, zudem sei ihm auch erst später die Identität der am Tatort
anwesenden Zeugen mitgeteilt worden.

2.3 Der Beschwerdeführer bringt vor, sowohl die Tatbeteiligten wie auch die
beiden Zeugen hätten bereits ausgesagt. Er selbst habe zu keinem Zeitpunkt eine
Bereitschaft zur Kollusion gezeigt, obwohl er dazu Gelegenheit gehabt hätte.
Seit dem 7. Dezember 2011 sei nämlich offiziell bekannt gewesen, dass er am
Geschehen beteiligt war, und er sei erst am 20. Januar 2012 festgenommen
worden. Dass er mit den Druckversuchen durch seine mutmasslichen Mittäter
nichts zu tun habe, habe die Vorinstanz selbst eingeräumt. Zudem treffe nicht
zu, dass sich zwei der Tatbeteiligten aus Angst geweigert hätten, ihn zu
verraten. Dies sei eine Frage der Ehre gewesen. Schliesslich sei das Prinzip
der Unmittelbarkeit nach der Schweizerischen Strafprozessordnung stark
beschränkt. Eine Änderung im Aussageverhalten wüsste jedes Gericht entsprechend
zu würdigen. Nach Abschluss der Untersuchung sei eine Kollusionsgefahr deshalb
höchstens noch in Bezug auf Dritte anzunehmen, welche von den
Strafverfolgungsbehörden bisher nicht hätten befragt werden können. Mithin sei
vorliegend nicht von einer Kollusionsgefahr auszugehen.

2.4 Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass die
beschuldigte Person die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue
Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln oder zu gefährden. Konkrete
Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des
Beschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner
Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhalts sowie
aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen.
Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des
Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der
von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der
untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen. Nach
Abschluss der Strafuntersuchung bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer
besonders sorgfältigen Prüfung (BGE 137 IV 122 E. 4.2 S. 127 f. mit Hinweis).

2.5 Der Beschwerdeführer geht fehl, wenn er aus dem fortgeschrittenen Stadium
des Verfahrens schliesst, Kollusionsgefahr könne höchstens noch in Bezug auf
Dritte bestehen, welche von den Strafverfolgungsbehörden bisher nicht befragt
wurden. Das Gericht erhebt an der Hauptverhandlung (auch bereits ordnungsgemäss
erhobene) Beweise nochmals, sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels
für die Urteilsfällung notwendig erscheint (Art. 343 Abs. 3 StPO; Urteil 1B_188
/2012 vom 19. April 2012 E. 3.6). Beim vorliegenden Tatvorwurf ist dies auch
durchaus naheliegend. Über den Tathergang wurden divergierende Aussagen
gemacht. Der Beschwerdeführer behauptet, bei der Auseinandersetzung vom 30.
September 2011 eine ausschliesslich schlichtende Rolle eingenommen zu haben.
Gemäss den Aussagen der mutmasslichen Mittäter, insbesondere derjenigen von
Y._________, und der beiden unbeteiligten Zeugen soll er dagegen zusammen mit
Z._________ auf B._________ eingeschlagen haben. Der Zeuge C._________ sagte
diesbezüglich aus, einer der Täter habe vier bis sechs Mal mit voller Wucht mit
einem Aluminiumstuhl auf den Kopf des Opfers eingeschlagen. Ein anderer habe es
gezielt und mehrfach mit dem Fuss in den Kopf getreten, nachdem es zu Boden
gegangen sei. Gemäss dem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der
Universität Basel vom 13. Dezember 2011 erlitt B._________ wenn auch nicht
akut, so doch potenziell lebensgefährliche Verletzungen.

Es ist festzuhalten, dass die vorliegenden Aussagen in wesentlichen Punkten
divergieren und dass sie für die Zuordnung der Tatbeiträge gleichzeitig
äusserst bedeutsam sind. Im Tatvorwurf kommt zudem eine erhebliche
Gewaltbereitschaft zum Ausdruck. Dies und die Schwere des in Frage stehenden
Delikts sind im Rahmen der Beurteilung der Kollusionsgefahr zu berücksichtigen
(vgl. E. 2.4 hiervor). Insgesamt ist deshalb nicht zu beanstanden, dass die
Vorinstanz die Kollusionsgefahr auch im nun fortgeschrittenen Verfahrensstadium
bejaht hat.

An diesem Ergebnis ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer, soweit
bekannt, bisher keine konkreten Kollusionshandlungen vorgenommen hat und an den
von der Vorinstanz erwähnten Druckversuchen selbst nicht beteiligt war. Der
Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Y._________ in seiner
Einvernahme am 30. November 2011 wörtlich aussagte: "Dann sind zwei Kollegen
von Z._________ gekommen. Ob er diese angerufen hat, weiss ich nicht. Weil ich
kein Theater will, sage ich ihre Namen nicht. Ich habe Angst." Wenn die
Vorinstanz es eher als durch Angst denn Ehre motiviert ansah, dass Y._________
(zumindest vorläufig) den Namen des Beschwerdeführers nicht offenbaren wollte,
ist vor dem Hintergrund dieser Aussage nicht zu beanstanden.

Es ergibt sich, dass die Vorinstanz zu Recht von einer Kollusionsgefahr
ausgegangen und die betreffende Rüge des Beschwerdeführers unbegründet ist.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche
Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen
erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Markus Mattle wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt
und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr.
1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt und
dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Präsident, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 19. Juli 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold