Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.20/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_20/2012

Urteil vom 1. Februar 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Gränicher,

gegen

Staatsanwaltschaft Basel-Stadt,
Binningerstrasse 21, 4001 Basel.

Gegenstand
Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 23. Dezember 2011 des Appellationsgerichts
Basel-Stadt, Präsident.

Sachverhalt:

A.
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte X.________ am 19. Dezember
2011 wegen Verbrechens nach Art. 19 Abs. 2 lit. a und b des
Betäubungsmittelgesetzes zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren, unter
Anrechnung der seit dem 29. März 2011 erstandenen Untersuchungs- und
Sicherheitshaft. Ausserdem ordnete es die Entlassung von X.________ aus der
Sicherheitshaft an. Das Urteil liegt erst im Dispositiv vor. Laut Anklage liegt
der Verurteilung folgender Sachverhalt zugrunde: Am 29. März 2011 versuchte
eine Gruppe von Drogenhändlern, rund 7,5 kg Kokain mit einem Reinheitsgehalt
von 16 % über den Grenzübergang Basel/St. Louis in die Schweiz einzuführen.
Dazu sollte die Grenze mit zwei Personenwagen überquert werden, wobei das erste
Fahrzeug eine Kontrolle provozieren sollte, um die Zollbeamten vom zweiten
Fahrzeug, in dem sich die Drogen befanden, abzulenken. X.________ war
Mitfahrerin des ersten Fahrzeugs. Die Aktion endete mit der Verhaftung aller
Beteiligter. Nach der Anklage war X.________ zudem bereits früher an weiteren
in ähnlicher Weise durchgeführten Drogentransporten beteiligt.

Sowohl X.________ als auch die Staatsanwaltschaft meldeten im Anschluss an die
Eröffnung des Urteils Berufung an. Die Staatsanwaltschaft beantragte tags
darauf zudem dem Appellationsgericht Basel-Stadt, die Sicherheitshaft gegen
X.________ bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils fortzusetzen.

Der Appellationsgerichtspräsident verlängerte am 23. Dezember 2011 die
Sicherheitshaft gegen X.________ ab dem 19. Dezember 2011 um drei Monate.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid des
Appellationsgerichts aufzuheben und sie unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Die Staatsanwältin beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde
abzuweisen.

X.________ hält in ihrer Replik an der Beschwerde fest.

Der Appellationsgerichtspräsident beantragt in seiner Stellungnahme dazu, die
Beschwerde abzuweisen.

X.________ hält an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des
Appellationsgerichtspräsidenten. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach
den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen
Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Die
Beschwerdeführerin ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in ihren
rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt
(Art. 81 Abs. 1 BGG). Sie macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was
zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen
geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten
werden kann.

2.
Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender
Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-,
Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Für den
Appellationsgerichtspräsidenten besteht Fluchtgefahr, einerseits weil der
Strafantrag der Staatsanwältin mit 5 ¾ Jahren weit über der erstinstanzlichen
Strafe liege und anderseits die Wohnsitzverhältnisse der Beschwerdeführerin
unklar seien.

2.1 Unstrittig und seit der Verurteilung vom 19. Dezember 2011 unbestreitbar
ist, dass der allgemeine Haftgrund des dringenden Tatverdachts gegeben ist.

2.2 Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein
nicht. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).
2.2.1 Das Strafgericht hat die Beschwerdeführerin zwar anklagegemäss wegen
Verstosses gegen Art. 19 Abs. 2 lit. a und b BetmG verurteilt. Anders als die
Staatsanwältin geht es aber offenbar nicht davon aus, dass die
Beschwerdeführerin auch an weiteren Drogentransporten beteiligt war, im
Dispositiv ist der Vorwurf der mehrfachen Begehung nicht enthalten. Jedenfalls
hat sich die Beschwerdeführerin nach der Überzeugung des Strafgerichts entgegen
ihrer Beteuerung zwar strafbar gemacht, jedoch einen weit geringeren Tatbeitrag
geleistet als von der Anklage angenommen. Ohne Kenntnis der Urteilsgründe lässt
sich nicht schlüssig beurteilen, ob das Strafgericht die Beschwerdeführerin zu
Recht verurteilt und angemessen bestraft hat. Allerdings darf nicht leichthin
davon ausgegangen werden, dass das Urteil völlig unhaltbar ist und das
Strafgericht die Beschwerdeführerin hätte freisprechen oder aber zu einer weit
höheren Strafe hätte verurteilen müssen. Es werden jedenfalls von keiner Seite
konkrete Einwände gegen die erstinstanzliche Beweiswürdigung oder die
Strafzumessung erhoben, die geeignet wären, das Strafgerichtsurteil als von
vornherein fehlerhaft erscheinen zu lassen. Die Beurteilung des
Appellationsgerichtspräsidenten, der die Berufung der Beschwerdeführerin
ausblendet und allein mit Blick auf den hohen Strafantrag der Staatsanwältin
davon ausgeht, die Beschwerdeführerin habe im Berufungsverfahren nichts zu
gewinnen und viel zu verlieren, weshalb von einem starken Fluchtanreiz
auszugehen sei, erscheint jedenfalls etwas einseitig und wird der Sachlage
nicht hinreichend gerecht. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die
Beschwerdeführerin mit ihrem Standpunkt weitgehend durchdringt oder wenigstens
die von der Staatsanwältin geforderte, weit strengere Verurteilung abwenden
kann. Ihre Erfolgsaussichten würde sie allerdings stark beeinträchtigen, wenn
sie der Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleiben und darauf verzichten
sollte, dem Appellationsgericht ihre Sicht der Dinge persönlich vorzutragen. Es
liegt somit objektiv in ihrem vorrangigen Interesse, sich dem Verfahren zu
stellen und nicht unterzutauchen.
2.2.2 Zutreffend ist sodann, dass die Beschwerdeführerin ein eher unstetes
Leben zwischen der Schweiz, Italien, Holland und der Dominikanischen Republik
führt. Zurzeit gibt sie an, in Grenchen bei ihrer Mutter zu wohnen, wobei sie
sich offenbar nicht korrekt angemeldet hat. Immerhin ist davon auszugehen, dass
sich die Beschwerdeführerin vorzugsweise in der Schweiz (wo sie auch
Arbeitslosenunterstützung bezog), Italien und Holland aufhält und damit in
Ländern, in denen sie sich auf Dauer der Verbüssung einer von einem
schweizerischen Gericht ausgesprochenen Freiheitsstrafe kaum entziehen könnte.
Es besteht somit zwar durchaus die Möglichkeit, dass die Beschwerdeführerin in
Freiheit versuchen könnte, sich einem allfälligen Zugriff der schweizerischen
Strafbehörden zu entziehen, sehr wahrscheinlich ist dies allerdings nicht.
Damit ist eine die Fortführung der Sicherheitshaft rechtfertigende Fluchtgefahr
zu relativieren.

2.3 Die Fortführung der Sicherheitshaft ist im Übrigen auch unter dem
Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit fragwürdig. Diese darf nach der
Rechtsprechung nur solange erstreckt werden, bis ihre Dauer in grosse Nähe der
zu erwartenden Strafe rückt; dies auch deshalb, weil ansonsten das erkennende
Gericht versucht sein könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der
Strafzumessung mitzuberücksichtigen (BGE 133 I 168 E. 4.1 mit Hinweisen). Die
bisher von der Beschwerdeführerin erstandene Haft von 10 Monaten erscheint zwar
von ihrer absoluten Dauer her noch nicht unverhältnismässig. Auch wenn die
Möglichkeit des bedingten Strafvollzugs in der Regel bei der Beurteilung der
Verhältnismässigkeit nicht zu berücksichtigen ist, so kann in der vorliegenden
Konstellation doch nicht einfach ausgeblendet werden, dass die
Beschwerdeführerin vom Strafgericht zu einer bedingten Freiheitsstrafe
verurteilt wurde, die nun faktisch in eine unbedingte umgewandelt wird,
jedenfalls wenn die Sicherheitshaft nach erklärter Absicht der Staatsanwältin
bis zur Berufungsverhandlung, mit der wohl bestenfalls in mehreren Monaten
gerechnet werden kann, fortgesetzt werden soll. Das wäre auch unter dem
Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit kaum zu rechtfertigen.

3.
Damit erweist sich die Fortsetzung der Sicherheitshaft, um der Fluchtgefahr zu
begegnen, als unzulässig; dem Fluchtrisiko kann mit geeigneten Ersatzmassnahmen
(Art. 237 StPO) Rechnung getragen werden. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen
und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Ausdrücklich offen gelassen hat der
Appellationsgerichtspräsident allerdings, ob Kollusionsgefahr vorliege,
obgleich er die Vorbringen der Staatsanwältin zu ihrem Nachweis als "relativ
vage" beurteilte. Die Angelegenheit ist unter diesen Umständen an den
Appellationsgerichtspräsidenten zurückzuweisen zur Prüfung, ob allenfalls
Kollusionsgefahr eine Fortsetzung der Sicherheitshaft erheischt. Sollte das
nicht der Fall sein, wird er angewiesen, die Beschwerdeführerin innert kurzer
Frist aus der Haft zu entlassen und verbleibenden Bedenken mit der Anordnung
geeigneter Ersatzmassnahmen im Sinn von Art. 237 Abs. 2 StPO Rechnung zu
tragen; mit einem solchen Vorgehen hat sich die Beschwerdeführerin ausdrücklich
einverstanden erklärt (Beschwerde S. 10, 1. Absatz/letzter Satz).

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Hingegen hat der Kanton Basel-Stadt der Beschwerdeführerin eine
angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit
wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid des
Appellationsgerichtspräsidenten des Kantons Basel-Stadt vom 23. Dezember 2011
aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Basel-Stadt hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Appellationsgericht Basel-Stadt, Präsident, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Februar 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi