Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.208/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_208/2012

Urteil vom 22. Juni 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Merkli,
Gerichtsschreiber Steinmann.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jürg
Reichenbach,

gegen

Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, Wildischachenstrasse 14, 5200 Brugg.

Gegenstand
Strafverfahren; Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 23. Februar 2012 des Obergerichts des
Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft des Fürstentums Liechtenstein führte gegen X.________
ein Strafverfahren wegen Betrugs. Aufgrund eines Antrages der
Staatsanwaltschaft vom 30. November 2009 ersuchte die Regierung des Fürstentums
Liechtenstein das Bundesamt für Justiz am 2. Dezember 2009 um Übernahme der
Strafverfolgung durch die schweizerischen Strafverfolgungsbehörden. Das
Bundesamt für Justiz übermittelte das Begehren am 4. Dezember 2009 der
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
Der Untersuchungsbeamte des Bezirksamts Brugg überwies die Akten am 24.
Dezember 2009 der Kantonspolizei zur Durchführung des Ermittlungsverfahrens.
Nach diversen Verfahrensschritten stellte die Staatsanwaltschaft dem Bezirksamt
Brugg am 20. Januar 2010 den Antrag, es seien die Akten zu eröffnen und ein
Schlussbericht zu verfassen.
Im Anschluss an eine Eingabe von X.________ vom 7. Januar 2011 beantragte die
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach der kantonalen Staatsanwaltschaft gleichentags
die Übernahme des Verfahrens. Am 3. Februar 2011 verfügte die
Oberstaatsanwaltschaft, dass die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach berechtigt
und verpflichtet ist, das Strafverfahren weiterzuführen.

B.
Am 11. Februar 2011 stellte die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach X.________
eine Anklageerhebung in Aussicht; gegenüber der Staatsanwaltschaft Vaduz nannte
sie gleichentags eine Anklageerhebung im Sommer 2011. Von Seiten des angeblich
Geschädigten gingen bei der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach mehrere Eingaben
ein. Am 14. Juni 2011 ersuchte X.________ um Einstellung des Strafverfahrens,
eventualiter um Erstvorladung zur Erstbefragung. Schliesslich reichte
X.________ am 26. Januar 2012 beim Obergericht des Kantons Aargau eine
Beschwerde wegen Rechtsverzögerung und Rechtsverweigerung ein.
Mit Entscheid vom 23. Februar 2012 wies das Obergericht, Beschwerdekammer in
Strafsachen, die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war. Es führte aus,
dass in Anbetracht von Umfang und Komplexität des Verfahrens sowie der
vorgenommenen Verfahrenshandlungen keine Rechtsverzögerung oder
Rechtsverweigerung vorliege.

C.
Gegen diesen Entscheid des Obergerichts hat X.________ mit Eingaben, die mit
21. März 2012, 4. April 2012 und 6. April 2012 datiert sind, beim Bundesgericht
Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt im Wesentlichen die Aufhebung
des obergerichtlichen Urteils, eventualiter die Anweisung an die
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, das Verfahren einzustellen. Er rügt zur
Hauptsache eine Rechtsverweigerung. Er macht geltend, die Behörden würden
Untersuchungshandlungen nicht vornehmen und durch verzögerte
Untersuchungstätigkeit eine Rechtsverzögerug begehen.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach und das Obergericht haben auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid des Obergerichts ist im Rahmen eines Strafverfahrens
ergangen. Er kann daher mit Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG
angefochten werden. Der Beschwerdeführer ist zur Anfechtung legitimiert (Art.
81 Abs. 1 BGG) und hat die Beschwerde in Anbetracht der Gerichtsferien (Art. 46
Abs. 1 lit. a BGG) rechtzeitig erhoben. Neben der Rüge der Rechtsverzögerung
und Rechtsverweigerung macht der Beschwerdeführer auch eine unrichtige
Feststellung des Sachverhalts geltend. Es kann offen bleiben, ob diese Rüge
selbstständiger Natur ist; ihre Behebung ist für den Ausgang des Verfahrens
nicht entscheidend (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
Zur Garantie eines gerechten Verfahrens nach Art. 29 Abs. 1 BV gehören der
ausdrückliche Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist und das Verbot
der Rechtsverzögerung. Entsprechende Garantien ergeben sich aus Art. 6 Ziff. 1
EMRK. Sie gelten in allgemeiner Weise für sämtliche Sachbereiche und alle
Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden. Überdies konkretisiert Art. 5
StPO das Beschleunigungsgebot für den Bereich des Strafrechts. Danach nehmen
die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie
ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss. Diese Grundsätze kommen sowohl auf
die Behörden der Strafverfolgung (Art. 12 und Art. 15 ff. StPO) wie auf die mit
Strafsachen befassten Gerichte (Art. 13 und Art. 18 ff. StPO) zur Anwendung.
Die Angemessenheit der Dauer des Verfahrens bestimmt sich nicht absolut und
ihre Beurteilung entzieht sich starren Regeln. Sie ist im Einzelfall unter
Berücksichtigung der gesamten Umstände zu beurteilen und in ihrer Gesamtheit zu
würdigen. Dabei sind insbesondere die Art des Verfahrens und die konkreten
Umstände einer Angelegenheit wie Umfang, Komplexität und Bedeutung des
Verfahrens, das Verhalten der betroffenen Privaten und der Behörden, die
Bedeutung für die Betroffenen sowie die für die Sache spezifischen
Entscheidungsabläufe zu berücksichtigen. Die Behörden haben die bei ihnen
hängigen Verfahren ohne unnötige Verzögerungen zum Abschluss zu bringen. Die
Garantie von Art. 29 Abs. 1 BV ist verletzt, wenn eine Sache über Gebühr
verschleppt wird und die Gesamtheit des Verfahrens nicht mehr angemessen ist
(BGE 135 I 265 E. 4.4 S. 277; 130 I 312 E. 5 S. 331; 124 I 139 E. 2c S. 141; je
mit Hinweisen). In Bezug auf Strafverfahren im Besondern gilt es namentlich zu
verhindern, dass die angeschuldigte Person unnötig lange Zeit über die gegen
sie erhobenen Vorwürfe im Ungewissen belassen und den Belastungen des
Strafverfahrens ausgesetzt sind (BGE 124 I 139 E. 2a S. 140).

3.
Im vorliegenden Fall zeigt sich der nachfolgende Verfahrensablauf: Nach der
Übernahme der Strafsache durch die aargauischen Strafverfolgungsbehörden im
Dezember 2009 sind vorerst die üblichen Verfahrensvorkehren vorgenommen worden.
In der Folge ist zwar ein Gesuch um Akteneinsicht behandelt worden, ohne dass
das Verfahren bis im Januar 2011 wesentlich vorangetrieben worden wäre.
Daraufhin ist zwischen der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach und der kantonalen
Staatsanwaltschaft um die Zuständigkeit gestritten worden, bis die
Oberstaatsanwaltschaft am 3. Februar 2011 die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach
zur Fortführung des Verfahrens verpflichtete. Diese hat dem Beschwerdeführer
eine Anklageerhebung in Aussicht gestellt; gegenüber den liechtensteinischen
Behörden hat sie dafür als mögliches Datum den Sommer 2011 genannt. Trotz
Erkundigungen nach dem Verfahrensstand durch den angeblich Geschädigten und
trotz des Begehrens des Beschwerdeführers um Verfahrenseinstellung bzw. um
Vorladung für eine Erstbefragung ist ab dem Sommer 2011 nichts Wesentliches
mehr vorgekehrt worden, was das Verfahren tatsächlich vorangebracht hätte. Am
26. Januar 2012 hat der Beschwerdeführer beim Obergericht schliesslich seine
Rechtsverzögerungs- und Rechtsverweigerungsbeschwerde eingereicht. Dieser
Verfahrensablauf zeigt allgemein, dass das Verfahren nicht zügig vorangetrieben
worden ist.
Im angefochtenen Entscheid weist das Obergericht auf die Komplexität des
Verfahrens hin. Dies erstaunt in Anbetracht des Umstandes, dass die kantonale
Staatsanwaltschaft gegenüber der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach dargelegt
hatte, es fehle am Erfordernis der Komplexität, weshalb eine Übernahme des
Verfahrens durch die kantonale Staatsanwaltschaft nicht in Betracht falle.
Dieser Einschätzung hat die Oberstaatsanwaltschaft in ihrem Entscheid
zugestimmt. Darüber hinaus fällt auf, dass seit der Übernahme der Strafsache
mehrmals davon die Rede ist, das Verfahren und die Ermittlungen seien im
Wesentlichen abgeschlossen und es bedürfe keiner weitern Untersuchungen. Damit
stimmt überein, dass die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach im Februar 2011 eine
Anklageerhebung auf einen baldigen Zeitpunkt bzw. auf den Sommer 2011 in
Aussicht gestellt hat. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das Verfahren
sehr schleppend geführt worden ist.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass
ihr die erforderlichen Mittel für den baldigen Abschluss des Verfahrens
fehlten. Das Obergericht hat sich im angefochtenen Entscheid zu dieser Frage
nicht ausgesprochen. Gemäss ständiger Rechtsprechung vermögen chronische
Überlastung und strukturelle Mängel nicht vor dem Vorwurf der Rechtsverzögerung
und -verweigerung zu bewahren (BGE 130 I 312 E. 5.2 S. 332; 107 Ib 160 E. 3c S.
165).
Aus der Sicht des Beschwerdeführers darf berücksichtigt werden, dass er mit
mehreren Eingaben und schliesslich mit seiner Beschwerde ans Obergericht das
Verfahren zu beschleunigen versuchte. Das Verfahren vor den aargauischen
Behörden war zum Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids mehr als zwei Jahre
hängig. Auch ohne nähere Abklärungen darf mit in die Beurteilung einbezogen
werden, dass schon die liechtensteinischen Strafverfolgungsbehörden gegen den
Beschwerdeführer über längere Zeit ein Verfahren geführt hatten.
In Anbetracht der gesamten Umstände (schleppende Verfahrensführung ohne
wesentliche Verfahrensschritte, mangelnde Komplexität, Verfahrensdauer) ergibt
sich, dass die aargauischen Behörden das vorliegende Verfahren in Verletzung
von Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 5 Abs. 1 StPO verzögerten. Die Beschwerde
erweist sich daher als begründet.

4.
Die Beschwerde ist daher gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann,
und der angefochtene Entscheid des Obergerichts aufzuheben. Dieses wird in der
Sache neu zu entscheiden und mit allfälligen Anweisungen für die beförderliche
Durchführung und den unverzüglichen Abschluss des (erstinstanzlichen)
Verfahrens zu sorgen haben. Ebenso hat es den Kostenpunkt des angefochtenen
Entscheids neu zu beurteilen. Die darüber hinausgehende, vom Beschwerdeführer
geforderte inhaltliche Anweisung an die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, das
Verfahren einzustellen, ist im bundesgerichtlichen Verfahren nicht zulässig.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art.66 Abs. 4
BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren zu entschädigen (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen, soweit darauf
einzutreten ist, und das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 23. Februar 2012 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach
und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Juni 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Steinmann