Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.195/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_195/2012

Urteil vom 7. Mai 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, Postfach, 8026 Zürich, vertreten durch die
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Büro für amtliche Mandate,
Florhofgasse 2, Postfach, 8090 Zürich,

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Büro für amtliche Mandate,
Florhofgasse 2, Postfach, 8090 Zürich.

Gegenstand
Amtliche Verteidigung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 27. Februar 2012 des Obergerichts des
Kantons Zürich, III. Strafkammer.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat bzw. nunmehr die Staatsanwaltschaft II des
Kantons Zürich führt gegen X.________ ein Strafverfahren wegen
Urkundenfälschung und Betrug. Sie wirft ihr vor, mit gefälschten Unterlagen
(insbesondere Lohnabrechnungen) einen Barkredit bei der Y.________ Bank erwirkt
zu haben. Am 8. November 2011 ersuchte X.________ um Bestellung eines amtlichen
Verteidigers. Mit Verfügung vom 15. November 2011 wies die
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich das Gesuch ab. Eine dagegen von
X.________ erhobene Beschwerde wurde vom Obergericht des Kantons Zürich mit
Beschluss vom 27. Februar 2012 abgewiesen.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 30. März 2012 beantragt X.________, der
Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und es sei Rechtsanwalt Kenad
Melunovic als ihr amtlicher Verteidiger einzusetzen.
Die Staatsanwaltschaft, die Oberstaatsanwaltschaft und das Obergericht haben
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Verweigerung der Bestellung einer
amtlichen Verteidigung in einem gegen die Beschwerdeführerin geführten
Strafverfahren und ist kantonal letztinstanzlich. Dagegen ist die Beschwerde in
Strafsachen gegeben (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 BGG). Die
Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen und hat ein
rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung. Sie ist zur
Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 BGG). Der angefochtene Entscheid ist ein
selbständig eröffneter Zwischenentscheid, der einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Urteil 1B_436/2011 vom 21.
September 2011 E. 1, in: Pra 2012 Nr. 16 S. 100). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die
Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Obergericht habe Art. 132 Abs. 1
lit. b StPO verletzt, indem es keine amtliche Verteidigung angeordnet habe. Sie
spreche zwar Deutsch und könne sich durchaus im Alltag verständigen, doch habe
sie lediglich die Realschule besucht und keine Lehre begonnen. Bereits etwas
anspruchsvollere deutsche Texte verstehe sie nicht und könne daher auch auf
einen Tatvorwurf, der nicht komplex sei, nicht angemessen reagieren. Es sei
zudem zu berücksichtigen, dass es um die Erhebung des gesamten für den Vorwurf
der Urkundenfälschung und des Betrugs relevanten Sachverhalts gehe. Der
Sachverhalt sei zudem keineswegs klar. Sie sei Opfer einer betrügerischen
Gruppierung geworden, deren Mitglieder sich als Kreditvermittler ausgegeben
hätten. Es kämen somit komplexe Fragen zur strafrechtlichen Teilnahme hinzu.
Die Straftatbestände der Urkundenfälschung und des Betrugs seien selbst für
Juristen anspruchsvoll; sie selbst sei mit dem schweizerischen Rechtssystem
nicht vertraut. Ohne Vertretung sei ihr deshalb eine wirksame Verteidigung
unmöglich.

2.2 Das Obergericht führt aus, der Beschwerdeführerin werde einzig vorgeworfen,
im Januar 2010 einen Kreditantrag mit falschen Lohnunterlagen eingereicht zu
haben, wobei der Kredit über Vermittler zustande gekommen sei, die
Beschwerdeführerin mithin mit der Bank nicht direkt in Verbindung getreten sei.
Dieser Tatvorwurf sei leicht erfass- und überschaubar. Anhaltspunkte für
besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten, denen die
Beschwerdeführerin nicht gewachsen wäre, seien nicht ersichtlich. Sie lebe seit
ca. ihrem siebten Altersjahr in der Schweiz und habe hier die Primar- und
Realschule besucht. Für die polizeilichen Einvernahmen habe sie denn auch keine
Übersetzung benötigt. Zudem seien Urkundenfälschung und Betrug nicht generell
komplexe Tatbestände. Der Schwierigkeitsgrad sei abhängig vom Sachverhalt, der
vorliegend einfach sei.

2.3 Gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ordnet die Verfahrensleitung eine
amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen
geboten ist. Letzteres ist nach Art. 132 Abs. 2 StPO namentlich der Fall, wenn
es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher
oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person
allein nicht gewachsen wäre.
Mit dieser Regelung wird die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu
Art. 29 Abs. 3 BV kodifiziert. Danach ist die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsbeistands insbesondere geboten, wenn sich die aufgeworfenen Rechtsfragen
nicht leicht beantworten lassen und die betreffende Person nicht rechtskundig
ist (BGE 119 Ia 264 E. 3b S. 266 mit Hinweisen). Massgebend sind die konkreten
Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Fähigkeiten der betroffenen Person,
sich im Verfahren zurecht zu finden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f.; 122 I 49
E. 2c/bb S. 51 f.; Urteile 1B_412/2011 vom 13. September 2011 E. 2.3; 1B_372/
2011 vom 29. August 2011 E. 2.2; 1P.675/2005 vom 14. Februar 2006 E. 5.3, in:
Pra 2007 Nr. 3 S. 9; je mit Hinweisen). In dieser Hinsicht ist zudem nicht nur
der gegenwärtige Verfahrensstand zu berücksichtigen, sondern auch dessen
möglicher künftiger Entwicklung Rechnung zu tragen (vgl. Urteil 1B_477/2011 vom
4. Januar 2012 E. 2.3). Für eine wirksame Verteidigung ist es in der Regel
wesentlich, möglichst früh im Verfahren damit beginnen zu können.

2.4 Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt und dass es sich um keinen Bagatellfall handelt.
Strittig ist dagegen, ob das Strafverfahren in tatsächlicher oder rechtlicher
Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die Beschwerdeführerin allein nicht
gewachsen ist. In dieser Hinsicht trifft zu, dass nicht davon ausgegangen
werden kann, beim Vorwurf des Betrugs und der Urkundenfälschung liege generell
ein komplexer Fall vor, der eine amtliche Verteidigung erforderlich macht. Dies
ist vielmehr abhängig vom zugrunde liegenden Sachverhalt. Wenn das Obergericht
diesen mit dem Argument als einfach und überschaubar bezeichnet, dass der
Beschwerdeführerin einzig vorgeworfen werde, von einer Bank mit gefälschten
Unterlagen einen Barkredit erwirkt zu haben, so blendet sie einen Teil des
mutmasslichen Sachverhalts aus. An anderer Stelle des angefochtenen Entscheids
wird ausgeführt, der Kredit solle über einen "Zwischenvermittler" zu Stande
gekommen sein. Die Staatsanwaltschaft wies in diesem Zusammenhang in einem
Schreiben vom 4. Januar 2012 an das Obergericht darauf hin, dass im Rahmen
eines gegen drei andere Personen hängigen Strafverfahrens der Name der
Beschwerdeführerin aufgetaucht sei. Diesen drei Personen werde gewerbsmässiger
Betrug und Urkundenfälschung vorgeworfen. Konkret bestehe der Verdacht, dass
sie für die Beschwerdeführerin und weitere Personen gefälschte Dokumente
hergestellt und damit Kredite bei Banken beantragt hätten. Somit stehen zum
einen Fragen der Teilnahme im Raum, die den Fall rechtlich und tatsächlich
komplizierter machen. Zum anderen ist aber auch plausibel, dass die drei
erwähnten Personen versuchen könnten, der Beschwerdeführerin die Schuld in die
Schuhe zu schieben. Die Beschwerdeführerin selbst ist 23 Jahre alt und hat eine
minimale Schulbildung genossen. Sie hat lediglich die Realschule besucht und
keine Lehre angefangen. Nach ihren eigenen Angaben bekundet sie Mühe,
anspruchsvollere Texte in deutscher Sprache zu verstehen. Insgesamt erscheint
deshalb fraglich, inwieweit sie in der Lage ist, die Akten zu studieren,
Beweisanträge zu stellen und bei den sich stellenden Rechtsfragen ihre
Argumente gezielt vorzutragen. Insgesamt ist nicht davon auszugehen, dass sie
sich im vorliegenden Strafverfahren allein effektiv verteidigen kann.
Im Lichte der dargelegten Rechtsprechung, die wesentlich auf die Fähigkeiten
der betroffenen Person abstellt, sich im Verfahren zurecht zu finden, ist der
Anspruch der Beschwerdeführerin auf amtliche Verteidigung zu bejahen. Die Rüge
der Verletzung von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ist begründet.

3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Das
Bundesgericht entscheidet reformatorisch (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG) und setzt
Rechtsanwalt Kenad Melunovic als amtlichen Verteidiger ein.
Dem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens entsprechend sind keine
Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Zürich hat der
Beschwerdeführerin für das kantonale Verfahren und für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 und 5 BGG).
Damit wird das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid aufgehoben.
Rechtsanwalt Kenad Melunovic wird für das Strafverfahren B-5/2011/7150 als
amtlicher Verteidiger der Beschwerdeführerin bestellt.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat die Beschwerdeführerin für das kantonale Verfahren und
das Verfahren vor Bundesgericht mit insgesamt Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft
Zürich-Limmat, der Oberstaatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons
Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Mai 2012

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold