Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.131/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_131/2012

Urteil vom 11. Mai 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Chaix,
Gerichtsschreiber Haag.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Steiner,

gegen

1. Franz Bollinger, Oberrichter der I. Strafkammer, Obergericht des Kantons
Zürich,
Hirschengraben 13/15, Postfach 2401, 8021 Zürich,
2. Stefan Volken, Oberrichter der I. Strafkammer, Obergericht des Kantons
Zürich,
Hirschengraben 13/15, Postfach 2401, 8021 Zürich,
3. Claire Brenn, Ersatzoberrichterin der I. Strafkammer, Obergericht des
Kantons Zürich,
Hirschengraben 13/15, Postfach 2401, 8021 Zürich,
4. Tobias Brütsch, Gerichtsschreiber der
I. Strafkammer, Obergericht des Kantons Zürich,
Hirschengraben 13/15, Postfach 2401, 8021 Zürich,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ausstand,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 26. Januar 2012 des Obergerichts des Kantons
Zürich, II. Strafkammer.

Sachverhalt:

A.
X.________ wurde vom Bezirksgericht Zürich mit Urteil vom 13. Januar 2010
mehrerer Vermögensdelikte für schuldig befunden und zu einer bedingten
Freiheitsstrafe von 17 Monaten und 15 Tagen verurteilt. Der Verurteilte
gelangte gegen dieses Urteil mit Berufung an das Obergericht des Kantons
Zürich. Dieses räumte dem amtlichen Verteidiger von X.________ eine Frist ein,
um allfällige Beweisanträge zu stellen und zu begründen, worauf dieser mit
Eingabe vom 14. Juni 2010 Beweisanträge stellte. In der Folge schrieb der
Vorsitzende der I. Strafkammer des Obergerichts, Vizepräsident Peter Marti, am
29. Juni 2010 dem Verteidiger einen Brief, worin er eine Beurteilung der Sach-
und Rechtslage abgab und den Verteidiger ersuchte, mit seinem Klienten
ernsthaft einen Rückzug der Berufung wegen schlechter Erfolgsaussichten zu
diskutieren. Der Verteidiger antwortete mit Schreiben vom 23. August 2010, dass
an der Berufung festgehalten werde. Mit Schreiben vom 24. August 2010 teilte
Oberrichter Marti dem Verteidiger mit, dass er die Aufrechterhaltung der
Berufung zur Kenntnis nehme und am weiteren Verfahren nicht mitwirken werde.
Mit Eingabe vom 26. August 2010 stellte X.________ den Antrag, dass der
Vorsitzende sowie sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts im
Berufungsverfahren wegen des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu
treten haben. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer gaben -
mit Ausnahme von Oberrichter Marti - gewissenhafte Erklärungen ab, dass sie
nicht befangen seien. Mit Beschluss vom 3. November 2010 bewilligte das
Gesamtgericht des Obergerichts ohne Mitwirkung der Mitglieder der I.
Strafkammer den Ausstand von Oberrichter Marti für das Berufungsverfahren. Das
Ablehnungsbegehren gegen die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder der I.
Strafkammer wies es ab. Eine gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde in
Strafsachen wies das Bundesgericht mit Urteil 1B_407/2010 vom 4. Mai 2011 (=
BGE 137 I 227) ab, soweit darauf einzutreten war. Am 22. August 2011 gelangte
X.________ gegen dieses Urteil des Bundesgerichts an den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

B.
Am 26. Juli 2011 setzte die I. Strafkammer des Obergerichts die
Berufungsverhandlung neu auf den 3. Oktober 2011 fest. X.________ verlangte am
30. September 2011 den Ausstand wegen Befangenheit der konkret bekannten
Gerichtsbesetzung (Oberrichter Bollinger, Volken und Brenn) sowie des
namentlich nicht bekannten Gerichtsschreibers, worauf der Termin für die
Berufungsverhandlung aufgehoben wurde. Die genannten Oberrichter und
Gerichtsschreiber Brütsch gaben am 8. November 2011 die gewissenhafte Erklärung
ab, sich nicht befangen zu fühlen und beantragten die Abweisung des
Ausstandsbegehrens. Nach Durchführung eines Schriftenwechsels wies die II.
Strafkammer des Obergerichts das Ausstandsbegehren mit Beschluss vom 26. Januar
2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 5. März 2012 beantragt
X.________, der Beschluss der II. Strafkammer des Obergerichts vom 26. Januar
2012 sei aufzuheben. Weiter verlangt er den Ausstand der Mitglieder der I.
Strafkammer des Obergerichts Oberrichter Bollinger, Volken und Brenn wegen des
Anscheins der Befangenheit. Er rügt die Verletzung des Anspruchs auf ein
unabhängiges und unparteiisches Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK) sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 29 BV).
Die II. Strafkammer des Obergerichts verzichtet auf eine Stellungnahme zur
Beschwerde. Die vom Ausstandsbegehren betroffenen Mitglieder der I. Strafkammer
haben sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten,
kantonal letztinstanzlichen Zwischenentscheid über den Ausstand von Mitgliedern
der I. Strafkammer des Obergerichts in einem strafrechtlichen
Berufungsverfahren (Art. 92 BGG). Gegen diesen Entscheid ist die Beschwerde in
Strafsachen zulässig (Art. 78 ff. BGG). Der Beschwerdeführer hat am
vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ist als Beschuldigter gemäss Art.
81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Auf die rechtzeitig
erhobene Beschwerde ist daher grundsätzlich einzutreten.

2.
2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch
darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und
unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob
diese Garantien verletzt sind, prüft das Bundesgericht frei. Art. 30 Abs. 1 BV
soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des
Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen.
Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei
objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der
Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen.
Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung angenommen,
wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind,
Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Solche Umstände
können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen
äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet
sein. Bei der Beurteilung solcher Umstände ist nicht auf das subjektive
Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit
muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn
Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der
Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht
verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 137 I 227 E. 2.1 S.
229 mit Hinweisen).
Der Anschein der Befangenheit kann durch unterschiedlichste Umstände und
Gegebenheiten erweckt werden. Dazu können nach der Rechtsprechung insbesondere
vor oder während eines Prozesses abgegebene Äusserungen eines Richters zählen,
die den Schluss zulassen, dass sich dieser bereits eine feste Meinung über den
Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 137 I 227 E. 2.1 S. 229 mit
Hinweisen).
Der Ausstand von Richtern steht indessen nicht in der freien Disposition der
Parteien. Es geht immer auch um das öffentliche Interesse an der
verfassungskonformen Zusammensetzung des Gerichts. Der Ausstand im Einzelfall
ist im Lichte des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter zu prüfen. Er muss die
Ausnahme bleiben, damit die regelhafte Zuständigkeitsordnung der Gerichte nicht
illusorisch und die Garantie des verfassungsmässigen Richters nicht von dieser
Seite her ausgehöhlt wird (BGE 116 Ia 32 E. 3b/bb S. 40; 115 Ia 172 E. 4 S.
176; 112 Ia 290 E. 3a S. 293 und E. 5e S. 303 f.; Urteil des Bundesgerichts
4A_147/2008 vom 26. Mai 2008 E. 2.2; REGINA KIENER, Richterliche
Unabhängigkeit, 2001, S. 87).

2.2 Das Obergericht verneinte den Anschein der Befangenheit der betroffenen
Mitglieder der I. Strafkammer aus folgenden Gründen:
2.2.1 § 167 Abs. 1 des kantonalen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni 1976
verpflichte die Gerichte, alle Eingaben und Akten in der Reihenfolge ihres
Eingangs in ein Aktenverzeichnis einzutragen. Diese Aktenführungspflicht sei
das Gegenstück zum Akteneinsichts- und Beweisführungsrecht der Parteien. Das
Schreiben von Oberrichter Marti vom 29. Juni 2010, das zu dessen Ausstand im
Berufungsverfahren führte (vgl. BGE 137 I 227 E. 22 S. 230), der entsprechende
Beschluss des Gesamtobergerichts vom 3. November 2010 (vgl. BGE 137 I 227 lit.
A S. 228) und das Urteil des Bundesgerichts 1B_407/2010 vom 4. Mai 2011 (= BGE
137 I 227) seien in die Berufungsakten aufgenommen worden, weil es sich nicht
um Akten eines anderen Verfahrens handle, sondern um Bestandteile dieses
Berufungsverfahrens. Die I. Strafkammer sei lediglich ihrer Pflicht
nachgekommen, alle Dokumente, die zur Sache gehörten, zu den Akten zu legen,
ohne dadurch die am Berufungsverfahren mitwirkenden Gerichtspersonen
beeinflussen zu wollen.
2.2.2 Eine Beeinflussung des Spruchkörpers durch das Schreiben von Oberrichter
Marti vom 29. Juni 2010 sei sodann nicht ersichtlich. Auch wenn es sich dabei
um die Meinung des Kammerpräsidenten handle, fühlten sich die anderen
Mitglieder der Kammer daran nicht gebunden. Das Bundesgericht habe die Kritik
des Beschwerdeführers bereits in BGE 137 I 227 E. 2.3-2.5 entkräftet, und es
lägen auch im vorliegenden Verfahren keine Hinweise vor, dass die im
Berufungsverfahren mitwirkenden Gerichtspersonen sich nicht eine eigene,
unabhängige Meinung bilden würden.
2.2.3 Auch der Umstand, dass Oberrichter Bollinger im Rahmen des
bundesgerichtlichen Verfahrens, welches zum BGE 137 I 227 führte, den
Standpunkt der I. Strafkammer des Obergerichts vertreten habe, liessen diesen
nicht als befangen erscheinen. Es sei in diesem Verfahren lediglich um die
Ausstandsfragen gegangen, nicht jedoch um die Ausführungen zur Sach- und
Rechtslage im Schreiben von Oberrichter Marti vom 29. Juni 2010. Die anderen
Mitglieder der I. Strafkammer hätten sich zu den im genannten Schreiben
angesprochenen materiellen Fragen nicht geäussert und sich dazu auch noch nicht
festgelegt. Sie seien nach den Ausstandsbegehren des Beschwerdeführers
verpflichtet gewesen, am Ablehnungsverfahren teilzunehmen. Daraus ergebe sich
kein Anschein der Befangenheit im Berufungsverfahren.
2.2.4 Schliesslich gehe der Beschwerdeführer auch von der falschen Annahme aus,
dass die beiden beisitzenden Gerichtspersonen (Oberrichter Volken und Brenn)
von den Oberrichtern Marti oder Bollinger eingesetzt worden seien. Das System
für die Besetzung des Spruchkörpers sei bereits im bundesgerichtlichen
Verfahren 1B_407/2010 detailliert beschrieben und vom Bundesgericht unter den
Gesichtspunkt der Befangenheit akzeptiert worden (BGE 137 I 227 E. 2.5 S. 231).
An diesem Auswahlsystem habe sich nichts geändert, weshalb auch kein Anschein
der Befangenheit der ausgewählten Gerichtspersonen vorliege.

2.3 Der Beschwerdeführer stützt sich im vorliegenden bundesgerichtlichen
Beschwerdeverfahren im Wesentlichen auf dieselben Argumente, die er dem
Obergericht vorgetragen hat. Diese sind indessen nicht geeignet, den Anschein
der Befangenheit der abgelehnten Gerichtspersonen oder einen Verstoss gegen den
Anspruch auf ein faires Verfahren zu begründen. Die Auseinandersetzung, welche
zu BGE 137 I 227 führte, betrifft das hängige Berufungsverfahren, und es ist
nicht ersichtlich, inwiefern sich die daran mitwirkenden Richter an die frühere
Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch den nunmehr in Ausstand getretenen
Oberrichter Marti gebunden fühlen sollten. Die vom Beschwerdeführer verlangte
separate Archivierung der Akten betreffend die Ausstandsfrage erscheint unter
den vorliegenden Umständen jedenfalls nicht geboten. Auch liegen keine
Anhaltspunkte vor, dass die Mitglieder der I. Strafkammer, die sich im ersten
Ausstandsverfahren gegen sie im bundesgerichtlichen Verfahren ausführlich zur
Ausstandsfrage äusserten, deswegen im Berufungsverfahren befangen sein sollten.
Sie waren berechtigt, zur damaligen Beschwerde Stellung zu nehmen und haben
sich dabei auf die Ausstandsfrage beschränkt. Daraus kann nicht abgeleitet
werden, es bestehe der Anschein der Befangenheit in Bezug auf die materielle
Beurteilung der Berufung. Soweit der Beschwerdeführer im Übrigen seine bereits
im bundesgerichtlichen Verfahren 1B_407/2010 erhobene Kritik erneuert, kann
diesbezüglich mit der Vorinstanz auf die Ausführungen in BGE 137 I 227
verwiesen werden. Die Erörterungen des Beschwerdeführers führen in Bezug auf
die vorliegende Streitsache zu keiner anderen Beurteilung.

3.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Ausgangsgemäss sind die Gerichtskosten dem
unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es sind
keine Parteientschädigungen zuzusprechen (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Mai 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Haag