Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 990/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_990/2009

Urteil vom 4. Juni 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
I.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Hannelore Fuchs,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 19. Oktober 2009.

Sachverhalt:

A.
Die 1948 geborene I.________ meldete sich im Juli 2004 unter Hinweis auf eine
Thrombose im linken Bein (seit 1992), eine Diskushernie im unteren Teil des
Rückens (seit April 2002) sowie eine Knieprothese am rechten Bein (seit
September 2003) zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach ihr vom 1. September 2004 bis 30.
September 2005 (Verfügung vom 14. September 2005) und ab 1. Oktober 2005
(Verfügung vom 26. August 2005) eine halbe Invalidenrente zu. Daran hielt sie
auf Einsprache der Versicherten hin fest (Entscheid vom 5. Dezember 2005). Das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die hiegegen gerichtete
Beschwerde am 26. September 2006 teilweise gut, hob den Einspracheentscheid auf
und wies die Sache zu weiteren Abklärungen und neuer Entscheidung im Sinne der
Erwägungen an die IV-Stelle zurück, welcher Entscheid nicht angefochten wurde.
Die IV-Stelle holte beim medizinischen Begutachtungsinstitut X.________ ein
interdisziplinäres Gutachten ein, welches am 19. Dezember 2007 erstattet wurde,
ermittelte gestützt darauf einen Invaliditätsgrad von 0 % und stellte die
Invalidenrente mit Wirkung auf Ende Oktober 2008 ein (Verfügung vom 11.
September 2008).

B.
Die von I.________ hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung
der Verfügung wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit
Entscheid vom 19. Oktober 2009 ab.

C.
I.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Es sei
ihr eine ganze Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Das Gutachten des
medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ vom 19. Dezember 2007 sei aus
dem Recht zu weisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

1.2 Die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs auf eine Invalidenrente
massgebenden gesetzlichen Grundlagen und die in diesem Zusammenhang ergangene
Rechtsprechung sind im kantonalen Entscheid sowohl in materiell- als auch in
beweisrechtlicher Hinsicht richtig dargelegt worden. Darauf wird verwiesen.

2.
In der Beschwerde wird eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt mit der
Begründung, das kantonale Gericht habe mit der Rückweisung der Angelegenheit
zur weiteren Abklärung des Gesundheitszustandes (Entscheid vom 26. September
2006) eine reformatio in peius in Kauf genommen, ohne die prozessualen
Vorsichtsmassnahmen gemäss Art. 61 lit. d ATSG zu beachten, d.h. ohne der
Versicherten die Möglichkeit einzuräumen, die Beschwerde gegen die
ursprüngliche, rentenzusprechende Verfügung zurückzuziehen. Diese Rüge ist
nicht stichhaltig. Denn eine reformatio in peius liegt nur vor, wenn die
urteilende Instanz selber einen reformatorischen Entscheid fällt. Die blosse
Möglichkeit einer Schlechterstellung der Beschwerde führenden Partei infolge
Aufhebung des angefochtenen Entscheids oder der Verwaltungsverfügung verbunden
mit Rückweisung zu ergänzender Sachverhaltsfeststellung sowie zu neuer
Beurteilung der Sache gilt demgegenüber nach ständiger bundesgerichtlicher
Rechtsprechung nicht als reformatio in peius (ARV 1995 Nr. 23 S. 134, C 30/94
E. 3a mit Hinweis auf ZAK 1988 S. 613, I 449/86 E. 2b; Urteil 9C_992/2008 vom
6. Januar 2009 E. 2 mit zahlreichen Hinweisen), es sei denn, die Rückweisung an
die Verwaltung habe mit Sicherheit eine Verschlechterung der Rechtsstellung der
Beschwerde führenden Partei zur Folge (ARV 1995 Nr. 23 S. 134 E. 3b, C 30/94;
Urteil 9C_992/2008 vom 6. Januar 2009 E. 2). Davon kann hinsichtlich des
kantonalen Entscheides vom 26. September 2006 indessen nicht die Rede sein.

3.
Gestützt auf das Gutachten des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________
vom 19. Dezember 2007 gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, dass die
Versicherte für körperlich leichte Tätigkeiten mit einer Hebe- und Traglimite
von 5 kg, die mehrheitlich im Sitzen, jedoch mit der Möglichkeit zu
regelmässigen Positionswechseln durchgeführt werden können, zu 100 %
arbeitsfähig sei, wobei eine adäquate Lagerung des rechten Beins gewährleistet
sein müsse und Zwangshaltungen desselben zu vermeiden seien. Diese
Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit gelte gemäss Gutachten ab Juni
2004 und sei durch die späteren Venenthrombosen und Lungenembolien nicht
längere Zeit unterbrochen worden.

3.1 Soweit die Beschwerdeführerin erneut den Standpunkt vertritt, auf das
Gutachten des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ dürfe wegen
Befangenheit des Instituts und insbesondere des Dr. med. L.________ nicht
abgestellt werden, hat bereits das kantonale Gericht zutreffend dargelegt, dass
die angeführten Gründe - die Medienberichterstattung über das medizinische
Begutachtungsinstitut X.________ und das gegen einen Gutachter eröffnete
Strafverfahren - nicht dazu führen können, alle Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________, wie dies die Beschwerdeführerin für richtig
zu halten scheint, pauschal als unglaubwürdig zu bezeichnen. Darauf wird
verwiesen.

3.2 Zu Unrecht rügt die Beschwerdeführerin sodann, die sich auf das Gutachten
des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ stützenden Feststellungen
der Vorinstanz seien offensichtlich unrichtig. Insbesondere trifft nicht zu,
dass sich die Gutachter des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ mit
den Beurteilungen der behandelnden Ärzte nur durch Darstellung des status quo
auseinandergesetzt hätten. Vielmehr legten die Gutachter überzeugend dar,
weshalb die frühere Einschätzung einer vollen Arbeitsunfähigkeit (u.a. Bericht
des Spitals Y.________, Orthopädie, vom 3. November 2004; vgl. auch Bericht des
Dr. med. K.________ vom 9. Juni 2004) nur für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit
in der Verpackungsindustrie gelten könne, nicht aber für körperlich adaptierte
Tätigkeiten, wie dies im Übrigen bereits die Vorinstanz in ihrem Entscheid vom
26. September 2006 in Betracht gezogen hatte. Diese Einschätzung des
medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ stimmt denn auch mit der
Stellungnahme des RAD vom 3. Juni 2005 überein, wonach "höchstens eine sitzende
Arbeit mit gestrecktem Knie und häufigen Pausen sowie verschiedenen
Adaptationen ans Bein- und Rückenleiden möglich" wäre.

4.
Hinsichtlich des Einkommensvergleichs rügt die Beschwerdeführerin, Vorinstanz
und IV-Stelle seien bei der Ermittlung des Invalideneinkommens zu Unrecht vom
ausgeglichenen statt vom realen Arbeitsmarkt ausgegangen. Dabei übersieht sie,
dass in diesem Zusammenhang nicht massgebend ist, ob die Restarbeitsfähigkeit
einer versicherten Person tatsächlich verwertet werden kann. Denn Referenzpunkt
bildet nicht der effektive, sondern der hypothetische ausgeglichene
Arbeitsmarkt (vgl. Art. 16 ATSG), welcher - als theoretischer und abstrakter
Begriff - etwa die konkrete Arbeitsmarktlage unberücksichtigt lässt, in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch tatsächlich nicht vorhandene
Stellenangebote umfasst und von den fehlenden oder verringerten Chancen
Teilinvalider, eine zumutbare und geeignete Arbeitsstelle zu finden, absieht
(BGE 134 V 64 E. 4.2.1 S. 70 f.).
Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde kann auch nicht gesagt werden, das
Alter, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der lange Arbeitsunterbruch
führten dazu, dass die der Versicherten verbliebene Resterwerbsfähigkeit auf
dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt werde
und ihr deren Verwertung auch gestützt auf die Selbsteingliederungspflicht
nicht mehr zumutbar sei, womit eine den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente
begründende, vollständige Erwerbsunfähigkeit vorliegen würde (Urteile I 246/02
vom 7. November 2003 E. 6, I 462/02 vom 26. Mai 2003 E. 2.3, I 401/01 vom 4.
April 2002 E. 4b). Denn auch wenn die am Recht stehende Versicherte nicht
leicht vermittelbar ist, gibt es Möglichkeiten, eine Stelle zu finden, zumal
Hilfsarbeiten grundsätzlich altersunabhängig nachgefragt werden, die
Versicherte in einem Vollpensum arbeitsfähig ist und die ihr zumutbare
Tätigkeit nicht so vielen Einschränkungen unterliegt, dass eine Anstellung
nicht mehr als realistisch zu bezeichnen wäre (vgl. auch Urteil I 376/05 vom 5.
August 2005 E. 4.2).

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ostschweizerischen Ausgleichskasse für Handel und Industrie und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Juni 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann