Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 979/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_979/2009

Urteil vom 10. Februar 2010
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

L.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 19. Oktober 2009.

Sachverhalt:

A.
L.________, geboren im März 1945, war selbstständiger Handwerker. Infolge
chronischer Rückenschmerzen gab er diese Tätigkeit auf. Ab Juli 2002 arbeitete
er als Betriebsmitarbeiter/Magaziner in einer Niederlassung der L.________ der
Genossenschaft F.________. Seit dem 17. April 2007 blieb er krankheitsbedingt
der Arbeit fern. Aus gesundheitlichen Gründen kündigte er die Stelle auf Ende
Dezember 2007. Am 17. März 2009 meldete er sich unter Hinweis auf chronische
Rückenbeschwerden bei Morbus Bechterew bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Bern führte erwerbliche
Abklärungen durch und holte Berichte des behandelnden Arztes Dr. med.
B.________, Innere Medizin FMH, vom 30. März 2009 und der ehemaligen
Arbeitgeberin vom 20. März 2009 ein. Am 18. Mai/6. August 2009 verfügte sie,
berufliche Eingliederungsmassnahmen seien nicht angezeigt, da L.________ im
Jahr 2010 das AHV-Alter erreiche. Mit Verfügung vom 6. August 2009 verneinte
sie bei einem festgestellten Invaliditätsgrad von 26 % auch den Anspruch auf
eine Rente.

B.
Die gegen die Verfügung vom 6. August 2009 erhobene Beschwerde, hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 19. Oktober 2009 gut und
sprach L.________ ab 1. September 2009 bis Ende März 2010 eine ganze
Invalidenrente zu.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
nur zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in Anwendung der
massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem)
Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen und die
Rechtsprechung zur Invalidität erwerbstätiger Versicherter (Art. 8 Abs. 1
ATSG), zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG), zur Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode
des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG),
zum Zeitpunkt des Rentenbeginns (Art. 29 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2008
gültigen Fassung), zur Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten bei der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) sowie zum Beweiswert
medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a-c S. 352 ff.)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Es ist unbestritten, dass dem Versicherten leichte, gut angepasste Arbeiten,
welche kein Heben schwerer Lasten bedingen und einen Wechsel zwischen Sitzen,
Stehen und Gehen erlauben, aus medizinischer Sicht noch zumutbar waren;
umstritten ist, ob die verbliebene Resterwerbsfähigkeit angesichts des
fortgeschrittenen Alters wirtschaftlich noch verwertbar war.

3.1 Das trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise erzielbare
Einkommen ist bezogen auf einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu ermitteln, wobei
an die Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten keine
übermässigen Anforderungen zu stellen sind (im Einzelnen: Urteil 9C_830/2007
vom 29. Juli 2008 E. 5.1, publiziert in: SVR 2008 IV Nr. 62 S. 203). Das
fortgeschrittene Alter wird, obgleich an sich ein invaliditätsfremder Faktor,
in der Rechtsprechung als Kriterium anerkannt, welches zusammen mit weiteren
persönlichen und beruflichen Gegebenheiten dazu führen kann, dass die einer
versicherten Person verbliebene Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt wird, und dass ihr deren
Verwertung auch gestützt auf die Selbsteingliederungspflicht nicht mehr
zumutbar ist (Urteil I 831/05 vom 21. August 2006 E. 4.1.1 mit Hinweisen). Der
Einfluss des Lebensalters auf die Möglichkeit, das verbliebene
Leistungsvermögen auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu verwerten, lässt sich
nicht nach einer allgemeinen Regel bemessen, sondern hängt ab von den
Umständen, die mit Blick auf die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten
massgebend sind (beispielsweise Art und Beschaffenheit des Gesundheitsschadens
und seiner Folgen; absehbarer Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand und in
diesem Zusammenhang auch Persönlichkeitsstruktur, vorhandene Begabungen und
Fertigkeiten, Ausbildung, beruflicher Werdegang oder Anwendbarkeit von
Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich; vgl. das bereits angeführte
Urteil I 831/05 a.a.O.; Kasuistik siehe Urteile 9C_918/2008 vom 28. Mai 2009 E.
4.2, 9C_437/2008 vom 19. März 2009 E. 4, I 304/06 vom 22. Januar 2007 E. 4.1
und 4.2, I 376/05 vom 5. August 2005 E. 4.2, I 392/02 vom 23. Oktober 2003 E.
3.2 und 3.3 und I 401/01 vom 4. April 2002 E. 4c und d).

4.
Die Vorinstanz erwog, obwohl dem Beschwerdegegner leichte, in Wechselpositionen
ausführbare Verweisungstätigkeiten ohne Heben schwerer Lasten noch zumutbar
seien, falle für ihn ein wesentlicher Teil davon ausser Betracht, weil er für
feinmotorische Tätigkeiten über keine Fertigkeiten und keinerlei berufliche
Erfahrung verfüge. Er müsse für die ihm effektiv noch möglichen Arbeiten erneut
einen Berufswechsel vollziehen, was von einem potenziellen Arbeitgeber einen
sehr grossen Aufwand und vom Versicherten ein hohes Mass an Anpassungsfähigkeit
verlange. Stelle man die persönlichen und beruflichen Gegebenheiten den
objektiven Anforderungen eines ausgeglichenen Arbeitsmarktes gegenüber, sei zum
Schluss zu kommen, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Arbeitgeber
den Beschwerdegegner mehr für eine solche Verweisungstätigkeit anstellen würde.
Dabei spiele namentlich der Umstand eine Rolle, dass der Versicherte im
massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4) nur
sieben Monate vor der Pensionierung gestanden sei. Dies hätte einen
durchschnittlichen Arbeitgeber davon abgehalten, die mit der Einstellung
verbundenen Risiken und Nachteile noch einzugehen, zumal behindertengerechte
Arbeitsplätze auch von Jüngeren stark nachgefragt würden. In Berücksichtigung
der gesamten objektiven und subjektiven Umstände sei erstellt, dass die dem
Beschwerdegegner verbliebene Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt werde, weshalb ihm deren
Verwertung auch gestützt auf die Selbsteingliederungspflicht nicht mehr
zugemutet werden könne; demnach sei vom Vorliegen einer vollständigen
Erwerbsunfähigkeit auszugehen.

5.
Die Vorinstanz hat mit Recht entschieden, dass dem im Verfügungszeitpunkt rund
64½-jährigen Beschwerdegegner ein iv-rechtlich erheblicher Zugang zum
Arbeitsmarkt objektiv gesehen nicht mehr offen stand. Auch bei noch intakter
subjektiver Bereitschaft zur Wiedereingliederung waren die
Neuanstellungschancen auf dem als ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht mehr gegeben. Daran ändert nichts, dass
sich die Aussicht auf eine berufliche Wiedereingliederung bei nicht verspäteter
Anmeldung möglicherweise anders präsentiert hätte, wie die Beschwerdeführerin
rügt. Eine verspätete Anmeldung führt lediglich zu einem späteren Entstehen des
Leistungsanspruches und zur Verwirkung hypothetisch aufgelaufener Leistungen.
Darüber hinaus könnte ein Zuwarten mit der Anmeldung allenfalls dann relevant
sein, wenn die Anmeldung rechtsmissbräuchlich verzögert wurde, um die
objektiven Anstellungschancen zu verringern. Dafür finden sich hier keine
Indizien. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner es
unterliess, sich früher bei der Invalidenversicherung anzumelden, da er
zunächst die Leistungen der kollektiven Krankentaggeldversicherung des früheren
Arbeitgebers und des während der Zeit der beruflichen Selbstständigkeit privat
aufgebauten Versicherungsschutzes beanspruchte, bevor er sich um IV-Leistungen
bemühte. Vor dem Systemwechsel auf den 1. Januar 2008 wäre es im vorliegenden
Kontext gar nicht zur Verspätung gekommen, da in Art. 48 Abs. 2a IVG geregelt
war, dass IV-Taggeld- und -Rentenleistungen für die zwölf der Anmeldung
vorangehenden Monate ausgerichtet werden, wenn sich ein Versicherter mehr als
zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs anmeldet. Erst nach der neuen
Regelung in Art. 29 Abs. 1 IVG entsteht der Rentenanspruch wie hier entschieden
(frühestens) nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des
Leistungsanspruchs, worunter nach Art. 29 Abs. 1 ATSG die formgültige Anmeldung
beim zuständigen Versicherungsträger zu verstehen ist.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Februar 2010
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz